Urteil des LSG Hessen vom 13.03.2017

LSG Hes: fortzahlung des lohnes, arbeitsunfähigkeit, gleiche zeit, arbeitsamt, rkg, vollrente, versicherter, chirurgie, unfallversicherung, berufsunfähigkeit

Hessisches Landessozialgericht
Urteil vom 13.08.1975 (rechtskräftig)
Sozialgericht Gießen S 3 U 208/73
Hessisches Landessozialgericht L 3 U 357/74
Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Sozialgerichts Gießen vom 21. März 1974 aufgehoben und die
Beklagte unter Abänderung der Bescheide vom 24. August und 28. Dezember 1973 verurteilt, dem Kläger anstelle der
Unfallrente für die Zeit vom 14. Februar 1973 bis 17. März 1974 Verletztengeld zu gewähren.
Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten des Verfahrens zu erstatten.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand:
Der 1913 geborene Kläger ist von Beruf Hauer im Bergbau. Nach der Unfallanzeige der Firma u. Comp. GmbH,
Tongrube , erlitt er am 12. Oktober 1972 durch herabfallende Tonschollen einen Unfall. Nach dem
Durchgangsarztbericht des Facharztes für Chirurgie Dr. med. vom Kreiskrankenhaus in zog er sich dabei eine
Beckenringfraktur mit Symphysensprengung und Sprengung des rechten Sacro-Iliacalgelenkes sowie ein Fraktur des
oberen und unteren Schambeinastes zu.
Mit Schreiben vom 9. Februar 1973 beantragte er die Gewährung von Verletztengeld nachdem der Facharzt für
Chirurgie Dr. med. , der Beklagten das Ende der Arbeitsunfähigkeit für den 30. Januar 1973 mitgeteilt hatte.
Wegen Bergwerksuntauglichkeit wurde dem Kläger zum 13. Februar 1973 unter Fortzahlung des Lohnes bis zu
diesem Zeitpunkt gekündigt.
Am 14. Februar 1973 meldete sich der Kläger bei dem Arbeitsamt – Dienststelle – arbeitslos und stellte einen Antrag
auf Gewährung von Arbeitslosengeld. Da ihm nach den Gutachten des Medizinaldirektors Dr. med. , vom 7. Februar
1973 bei gutem Allgemeinzustand leichte Arbeit – wenn auch nicht die zuletzt ausgeübte Tätigkeit als Tonhauer unter
Tage – zumutbar war, gewährte ihm ab 14. Februar 1973 das Arbeitsamt durch Bescheid vom 16. März 1973
Arbeitslosengeld im Betrag von 225,– DM wöchentlich.
Aufgrund des Gutachtens des Priv. Doz. Dr. med. , Oberarzt am Berufsgenossenschaftlichen Unfallkrankenhaus
(BGUKH) in , und des Ass. Arztes Dr. med. vom 13. März 1973 sowie des Gutachtens des Facharztes für Nerven-
und Gemütsleiden Dr. med. , vom 6. August 1973 gewährte die Beklagte dem Kläger eine vorläufige Rente nach einer
Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 40 v.H. ab 31. Januar 1973 und erkannte als Unfallfolgen an: "In deutlicher
Fehlstellung verheilte Symphysensprengung mit in deutlicher Fehlstellung knöchern fest verheilten Brüchen des linken
Ober- und Unterschenkels. In guter Stellung fest verheilte Sprengung des rechten Kreuz-Darmbeingelenkes.
Erektionsschwäche ohne nachweislich organische Fundierung und subjektive Beschwerden.”
Gegen den am 24. August 1973 als Einschreiben aufgelieferten Bescheid hat der Kläger am 27. September 1973 bei
dem Sozialgericht in Gießen (SG) Klage erhoben.
Durch Bescheid vom 28. Dezember 1973 erhöhte die Beklagte ab 31. Januar 1973 die Teilrente gemäß § 587 Abs. 1
Reichsversicherungsordnung (RVO) auf die Vollrente. – Daraufhin nahm die Bundesknappschaft in , die dem Kläger
eine Rente wegen Berufsunfähigkeit im Sinne des § 46 des Reichsknappschaftsgesetzes (RKG) gewährte, eine
Unrechnung aufgrund der Ruhensbestimmung des § 75 RGG durch Bescheid vom 14. Januar 1974 vor und forderte
die festgestellte Überzahlung im Betrag von 5.899,30 DM zurück. Vorher hatte sie unter dem 10. Dezember 1973
einen Ruhensbescheid wegen Zusammentreffens der Knappschaftsrente mit dem Arbeitslosengeld aufgrund des § 80
RKG erteilt und die festgestellte Überzahlung von 8.393,50 DM von dem Kläger zurückgefordert.
Ab 18. März 1974 übte der Kläger bei der Firma I. H., eine Hilfsarbeitertätigkeit von 25 Stunden wöchentlich durch
Vermietung von Aluminiumblechteilen und Schweißen von Profilen aus. Das Arbeitsverhältnis endete am 28. Juni
1974 wegen Arbeitsmangels.
Durch Urteil vom 21. März 1974 hat das SG die Klage abgewiesen. Die Arbeitsunfähigkeit des Klägers als Hauer auf
der Grube habe mit dem Tage der Arbeitslosmeldung beim Arbeitsamt – Dienststelle – geendet. Dadurch habe er sich
von seiner früheren Tätigkeit als Hauer gelöst. Die Arbeitsunfähigkeit sei nach der Tätigkeit zu beurteilen, die der
Verletzte auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt nach Auffassung der Arbeitsverwaltung ganztags verrichten könne.
Gegen das ihm am 4. April 1974 zugestellte Urteil hat der Kläger am 25. April 1974 beim Hessischen
Landessozialgericht (HLSG) Berufung eingelegt. Er ist der Auffassung, bei ihm bestehe Arbeitsunfähigkeit auch über
den 31. Januar 1973 hinaus bis zur Aufnahme der neuen Tätigkeit am 18. März 1974. Der tatsächliche Bezug von
Arbeitslosengeld durch das Arbeitsamt Limburg ab 14. Februar 1973 ändere hieran nichts. Den Antrag habe er nur
vorsorglich gestellt, da die Beklagte seinerzeit noch nicht über den von ihm mit Schreiben vom 9. Februar 1973
geltend gemachten Anspruch auf Weiterzahlung des Verletztengeldes entschieden gehabt habe.
Der Kläger beantragt, das Urteil des Sozialgerichts Gießen vom 21. März 1974 aufzuheben und die Beklagte unter
Abänderung der Bescheide vom 24. August und 28. Dezember 1973 zu verurteilen, ihm anstelle der Unfallrente für die
Zeit vom 14. Februar 1973 bis 17. März 1974 Verletztengeld zu gewähren.
Die Beklagte beantragt, die Berufung zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend. – Der Kläger sei durch die Ablehnung der Weitergewährung von
Verletztengeld nicht beschwert. Durch die gewährte Vollrente aus der Unfallversicherung zuzüglich des gezahlten
Arbeitslosengeldes im Gesamtbetrag von 27.802,48 DM stehe er sich günstiger als wäre ihm für die gleiche Zeit vom
14. Februar 1973 bis 17. März 1974 Verletztengeld im Gesamtbetrage von 17.446,95 DM gewährt worden.
Der Kläger hat dem widersprochen. Die Bewilligung der Vollrente aus der Unfallversicherung bzw. des
Arbeitslosengeldes habe teilweise zum Ruhen der von der Bundesknappschaft gezahlten Berufsunfähigkeitsrente
geführt.
Zur Ergänzung wird auf den Inhalt der Verwaltungsakten der Beklagten, des Arbeitsamtes der Bundesknappschaft in
und der Gerichtsakten Bezug genommen, die in ihren wesentlichen Teilen Gegenstand der mündlichen Verhandlung
waren.
Entscheidungsgründe:
Die statthafte Berufung ist frist- und formgerecht eingelegt und daher zulässig. Sie ist auch begründet. Das SG hat die
Klage zu Unrecht abgewiesen; die angefochtenen Bescheide der Beklagten vom 24. August und vom 28. Dezember
1973 sind rechtswidrig. Dem Kläger steht das begehrte Verletztengeld bis zum Ablauf der 78. Woche zu, weil er
während der Zeit vom 14. Februar 1973 bis 17. März 1974 arbeitsunfähig war (vgl. § 560 Abs. 1 Satz 1 RVO a.F.). Die
Ansicht der Beklagten, der Kläger sei durch die Bescheide nicht beschwert, ist unzutreffend. Für das Vorliegen einer
Beschwer reicht es aus, wenn ein Kläger nicht voll mit seinem Antrag durchgedrungen ist, mag er auch wirtschaftlich
nicht benachteiligt sein (vgl. Peters-Sautter-Wolff, Kommentar zum Sozialgerichtsgesetz, 3. Auflage, § 143 Anm. 1 b
mit weiteren Rechtsprechungsnachweisen). Im übrigen hat die Beklagte bei ihrer Berechnung der Einkünfte des
Klägers für die Zeit vom 14. Februar 1973 bis 17. März 1974 übersehen, daß die von der Bundesknappschaft dem
Kläger gewährte Rente wegen Berufsunfähigkeit nicht in voller Höhe zur Verfügung stand, sondern gemäß § 80 S. 1
RKG bis zur Höhe des Arbeitslosengeldes ruhte und durch Bescheid dieser Dienststelle vom 10. Dezember 1973 der
überzahlte Betrag zurückgefordert wurde. Die Zahlung der Vollrente gemäß § 587 RVO durch Bescheid der Beklagten
vom 28. Dezember 1973 führte gemäß § 75 RKG ebenso zu einem teilweisen Ruhen der Rentenleistungen aus der
knappschaftlichen Rentenversicherung und zur Rückforderung des überzahlten Betrages.
Entgegen der Auffassung der Beklagten und des SG endete die Arbeitsunfähigkeit des Klägers nicht mit seiner
Arbeitslosmeldung beim Arbeitsamt am 14. Februar 1973 bzw. mit dem Bezug von Arbeitslosengeld. Nach der
Rechtsprechung des Bundessozialgerichtes (BSG, Urt. v. 30.5.1967 – 3 HK 15/65 = BSG 26, 288 ff.), der sich der
erkennende Senat angeschlossen hat, bleibt ein Versicherter, der wegen seiner Krankheit nicht mehr auf seinen
bisherigen Arbeitsplatz zurückkehren und auch nicht eine ähnlich geartete Erwerbstätigkeit verrichten kann,
arbeitsunfähig, auch wenn sein Zustand nicht mehr besserungsfähig ist. Dies gilt selbst dann, wenn er eine Rente
wegen Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit bezieht. Die Arbeitsunfähigkeit wird nicht durch die Möglichkeit
ausgeschlossen, Erwerb durch Übergang zu einer anderen Berufstätigkeit zu gewinnen, auch wenn eine solche
Tätigkeit den Kräften und Fähigkeiten des Versicherten entspricht und ihm unter billiger Berücksichtigung seiner
Ausbildung und des Berufs, den er seither ausgeübt habe, zugemutet werden kann. In dem o.g. Urteil ist vom BSG
die Frage offen gelassen worden, wie zu entscheiden wäre, wenn der arbeitsunfähige und zugleich berufsunfähige
Versicherte aus freien Stücken eine unzumutbare Tätigkeit aufgenommen und seinen Beruf gewechselt hat. – In dem
weiteren Urteil vom 2. Oktober 1970 – 3 RK 6/70 (= BSG 32, 18, 21) hat das BSG dahin entschieden, daß eine
Arbeitsunfähigkeit dann nach der neuen Beschäftigung zu beurteilen sei, wenn ein Versicherter, der infolge Krankheit
seine bisherige Erwerbstätigkeit nicht mehr ausüben könne, aus freien Stücken eine seinem Gesundheitszustand
entsprechende Beschäftigung aufnehme. Dies gelte jedenfalls dann, wenn der Krankengeldbezug des ersten
Dreijahreszeitraumes abgelaufen sei. Dann bestehe keine Verbindung mehr mit der alten Tätigkeit.
Hierzu ist festzustellen, daß der Facharzt für Chirurgie Dr. med. den Kläger aufgrund einer klinischen und
röntgenologischen Untersuchung in seinem Bericht vom 4. Januar 1973 für eine Arbeit als Hauer unter Tage nicht
mehr fähig erachtet hatte. Auch Priv. Doz. Dr. med. und Dr. med. vom BGUKH in Frankfurt a.M. sowie Dr. med. und
Dr. med. von der Klinik des Landeswohlfahrtverbandes (LWV) in haben in ihren für die Beklagte und die
Bundesknappschaft erstatteten Gutachten vom 13. März 1973 und 10. April 1973 ausgeführt, der Kläger könne nur
noch leichte bis mittelschwere körperliche Arbeiten, die kein ständiges Stehen erforderten, dagegen nicht seinen
bisherigen Beruf als Hauer unter Tage verrichten. Ferner heißt es in dem Bewilligungsbescheid des Arbeitsamtes vom
16. März 1973 zugrundeliegenden Gutachten des Medizinaldirektors Dr. med. vom 7. Februar 1973, der Kläger sei
durch die Unfallfolgen in seiner Leistungsfähigkeit sowie Beweglichkeit beeinträchtigt und könne deshalb seine zuletzt
ausgeübte Tätigkeit als Tonhauer unter Tage nicht mehr ausüben. Ihm vorerst nur leichte Arbeiten zumutbar. Auch
eine ähnlich geartete Tätigkeit kann der Kläger nicht mehr ausüben, wie die Feststellungen der Beklagten im
Unfallbetrieb am 17. Januar 1973 ergaben.
Dem Kläger steht daher Verletztengeld für die Zeit vom 14. Februar 1973 bis 17. März 1974 (Ablauf der 78. Woche)
zu. Aus dem Bezug von Arbeitslosengeld lassen sich keine weitergehenden Schlüsse auf die Lösung von dem für die
Arbeitsunfähigkeit maßgebenden Beruf als Hauer unter Tage ziehen. Verfügbar im Sinne des
Arbeitsförderungsgesetzes (AFG) ist derjenige, der eine seinen Möglichkeiten entsprechende mehr als geringfügige
und zumutbare Beschäftigung ausüben kann, darf und will, hieran aber gehindert ist, weil entsprechende
Beschäftigungsmöglichkeiten fehlen. Mit der Einführung des unbestimmten Rechtsbegriffs der "Zumutbarkeit” in § 103
Abs. 1 Nr. 2 a.a.O. sollte die Arbeitsbereitschaft nicht auf den erlernten oder ausgeübten Beruf und auf diesen
Berufen benachbarte Tätigkeiten beschränkt bleiben (so Schönfelder-Kranz-Wanka, Kommentar zum
Arbeitsförderungsgesetz, § 103 Anm. 1 und 2 unter Bezugnahme auf die Begründung des Bundestagsausschusses
für Arbeit in BT Drucks. V/4110 und dort zu § 94). Die Arbeitsbereitschaft darf nicht auf bestimmte Bereiche oder
Tätigkeiten beschränkt werden, wenn der Arbeitslose eine andere Beschäftigung aufnehmen kann und darf (so
Schönfelder-Kranz-Wanka a.a.O., Anm. 11 und die dort zitierte Rechtsprechung.
Eine derartige, über den zuletzt ausgeübten Beruf hinausgehende Verweisungsmöglichkeit des Arbeitslosen ist aber
bei der Prüfung der Arbeitsunfähigkeit eines Unfallverletzten nicht möglich. Die Arbeitsunfähigkeit entfällt nicht bereits
dann, wenn der Verletzte wieder in der Lage ist, eine andere leichte Tätigkeit innerhalb oder außerhalb seines zuletzt
ausgeübten Berufes zu verrichten (so Urteil des BSG 3 RK 15/65, S. 9) und damit die Voraussetzungen für den
Bezug von Arbeitslosengeld erfüllt. Lediglich die Aufnahme einer neuen beruflichen Tätigkeit kann die vor dem Unfall
ausgeübte Berufstätigkeit als Beurteilungsmaßstab ersetzen.
Die Auffassung der Beklagten und des SG würde dazu führen, daß ein arbeitsunfähiger Versicherter nach einem
Arbeitsunfall und der dadurch bedingten Vermögenseinbuße sich nicht arbeitslos melden und mit Hilfe des
Arbeitsamtes einen neuen Arbeitsplatz suchen dürfte, weil ihm sonst das Verletztengeld verloren ginge. Dabei hat der
Gesetzgeber in § 118 Abs. 1 Nr. 2 AFG bestimmt, daß der Anspruch auf Arbeitslosengeld während der Zeit ruht, für
die den Arbeitslosen ein Anspruch auf Verletztengeld zusteht, so daß eine Doppelleistung nicht stattfinden kann. Im
übrigen konnte der Kläger auch am 14. Februar 1973 bei seiner Arbeitslosmeldung noch nicht übersehen, ob seinen
mit Schriftsatz vom 9. Februar 1973 gestellten Antrag auf Gewährung des Verletztengeldes entsprochen werden
würde. Hierüber hat die Beklagte erst mit Bescheid vom 24. August 1973 entschieden.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Die Revision ist nach § 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG zugelassen worden.