Urteil des LSG Hessen vom 13.03.2017
LSG Hes: gesellschaft mit beschränkter haftung, avg, dienstpflicht, zivildienst, arbeitsamt, arbeiter, werken, einberufung, versicherungspflicht, sicherstellung
Hessisches Landessozialgericht
Urteil vom 27.06.1978 (rechtskräftig)
Sozialgericht Frankfurt
Hessisches Landessozialgericht L 2 J 1021/77
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 18. Juli 1977 wird
zurückgewiesen.
Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand:
Der 1922 geborene Kläger, der vom Reichsarbeitsdienst ausgemustert und der Ersatzreserve II zugewiesen worden
war, begann nach dem Ablegen der Reifeprüfung im Mai 1941 das Studium der Chemie an der
Naturwissenschaftlichen Fakultät der Universität F ... Durch Verpflichtungsbescheid des Arbeitsamtes Frankfurt am
Main vom 11. Juli 1941 wurde der Kläger aufgrund der "Verordnung zur Sicherstellung des Kräftebedarfs für Aufgaben
von besonderer staatspolitischer Bedeutung” vom 13. Februar 1939 (RGBl. Teil I S. 206) (im folgenden abgekürzt:
Dienstpflichtverordnung) und der Dienstpflicht-Durchführungsverordnung vom 2. März 1939 (RGBl. Teil I S. 403) (im
folgenden abgekürzt: DVO-Dienstpflichtverordnung) für die Zeit vom 28. Juli 1941 bis zum 20. September 1941 zur
Dienstleistung als Helfer bei der B. GmbH in F. verpflichtet. In der Zeit vom 30. Juli 1941 (Montag) bis 20. September
1941 erfüllte der Kläger, der während dieser Zeit Semesterferien hatte, die Dienstpflicht und war bei der
Werksendkontrolle der gefertigten Düsenteile für schwere Nebelwerfer eingesetzt. Am 3. Oktober 1941 wurde er zum
Kriegsdienst eingezogen und kehrte am 3. Oktober 1947 aus der Kriegsgefangenschaft zurück. Sein Chemiestudium
setzte er im zweiten Semester vom Wintersemester 1947/1948 an fort und schloss es mit dem Ablauf des
Wintersemesters 1955/1956 erfolgreich ab. Die von dem Kläger bis zum 31. Januar 1960 entrichteten Beiträge zur
Angestelltenversicherung wurden ihm mit Bescheid vom 1. November 1962 von der Beigeladenen gemäß § 82
Angestelltenversicherungsgesetz (AVG) mit kontenzerstörender Wirkung erstattet. Seit dem 1. Oktober 1973 besteht
für den Kläger Versicherungspflicht zur Angestelltenversicherung.
Der Kläger beantragte am 29. November 1972 bei der Beklagten die Anerkennung der Zeit vom 30. Juli 1941 bis 20.
September 1941 als Beitragszeit in der Rentenversicherung der Arbeiter. Die Beklagte lehnte den Antrag mit der
Begründung ab, der Kläger habe den Nachweis über den Inhalt einer verlorengegangenen Versicherungskarte nicht
erbracht. Es sei außerdem zu unterstellen, dass Beiträge zur Arbeiterrentenversicherung nicht entrichtet worden
seien, da ein Studierender nach damaligem Recht nicht der Versicherungspflicht in der Rentenversicherung der
Arbeiter unterlegen hätte (Bescheid vom 24. August 1973). Der Widerspruch des Klägers, mit dem er hilfsweise die
Anrechnung dieser Zeit als Ersatzzeit begehrte, blieb ohne Erfolg (Widerspruchsbescheid vom 27. Juni 1974).
Mit seiner Klage begehrte der Kläger, nunmehr die Beigeladene zu verurteilen, die Zeit vom 30. Juli 1941 bis 20.
September 1941 als Ersatzzeit anzurechnen, nachdem die Beklagte auf ihre fehlende Zuständigkeit hingewiesen
hatte. Zur Begründung führte er aus, die streitige Zeit müsse als Ersatzzeit nach § 28 Abs. 1 Nr. 1 AVG angerechnet
werden, weil er durch seine Tätigkeit in der Rüstungsindustrie, die Voraussetzung für die Fortsetzung des Studiums
gewesen sei, zumindest militärähnlichen Dienst vergleichbar dem Reichsarbeitsdienst geleistet habe.
Das Sozialgericht Frankfurt am Main wies durch Urteil vom 18. Juli 1977 die Klage mit der Begründung ab, der von
dem Kläger geleistete studentische Ausgleichsdienst erfülle nicht die Voraussetzungen des Ersatzzeittatbestandes
des § 28 Abs. 1 Nr. 1 AVG, denn es sei weder militärischer Dienst im Sinne von § 2 Bundesversorgungsgesetz (BVG)
noch militärähnlicher Dienst nach § 3 BVG gewesen.
Gegen das am 2. September 1977 zwecks Zustellung an den Kläger zur Post aufgelieferte Urteil hat dieser am 28.
September 1977 Berufung eingelegt. Zur Begründung führt er aus, das erstinstanzliche Gericht sei
unzutreffenderweise davon ausgegangen, dass er während der streitigen Zeit studentischen Ausgleichsdienst
geleistet habe. Sein Einsatz sei in Wirklichkeit aufgrund der Dienstpflichtverordnung und der
Dienstpflichtdurchführungsverordnung erfolgt.
Der Kläger beantragt, das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 18. Juli 1977 sowie den Bescheid der
Beklagten vom 27. Juni 1974 insoweit aufzuheben, als er die Anrechnung der Zeit vom 30. Juli 1941 bis 20.
September 1941 als Ersatzzeit abgelehnt hat, und die Beigeladene zu verurteilen, die Zeit vom 30. Juli 1941 bis 20.
September 1941 als Ersatzzeit nach § 28 Abs. 1 Nr. 1 AVG anzuerkennen.
Die Beigeladene beantragt, die Berufung zurückzuweisen.
Zur Begründung führt sie aus, der Dienst aufgrund der Dienstpflichtverordnung sei regelmäßig kein militärischer Dienst
im Sinne der §§ 2 und 3 BVG und damit keine Ersatzzeit. Versicherungsrechtlich habe zwischen der
Dienstverpflichtung durch das Arbeitsamt und den aufgrund eines freien Arbeitsvertrages zustande gekommenen
Beschäftigungsverhältnis kein Unterschied bestanden. Da die Dienstverpflichtung für den Kläger auf die
Semesterferien beschränkt gewesen sei, habe Versicherungsfreiheit nach § 12 Abs. 1 Nr. 4 AVG a.F. bestanden. Die
strittige Zeit sei vielmehr Ausfallzeit im Sinne von § 36 Abs. 1 Nr. 4 Buchst. b) AVG. Eine Anrechnung der
Hochschulausbildung als Ausfallzeit nach § 36 Abs. 1 Nr. 4 AVG könne allerdings nur bis zur Höchstdauer von 5
Jahren erfolgen. Das Anerkenntnis könne daher nicht dazu beitragen, dass insgesamt mehr als 60 Kalendermonate
Hochschulausbildung als Ausfallzeit zu berücksichtigen seien.
Die Beklagte verweist auf die Zuständigkeit der Beigeladenen, weil keine anrechenbaren Beiträge zur
Arbeiterrentenversicherung vorhanden seien.
Die Beteiligten sind mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden.
Ergänzend wird auf die Gerichtsakten sowie die Versicherungsakten der Beklagten, die vorgelegen haben, Bezug
genommen.
Entscheidungsgründe:
Die statthafte und in rechter Form und Frist eingelegte Berufung, über die der Senat im Einverständnis mit den
Beteiligten gemäß §§ 124 Abs. 2, 153 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ohne mündliche Verhandlung entscheiden
kann, ist zulässig, in der Sache jedoch unbegründet.
Die Zeit der Tätigkeit des Klägers vom 30. Juli 1941 bis 20. September 1941 aufgrund der Dienstpflichtverordnung
kann nicht als Ersatzzeit nach § 28 Abs. 1 Nr. 1 AVG – die Ersatzzeittatbestände der Nrn. 2 bis 6 liegen unstreitig
nicht vor – angerechnet werden. Nach dieser Vorschrift werden für die Erfüllung der Wartezeit als Ersatzzeiten u.a.
angerechnet Zeiten des militärischen oder militärähnlicher Dienstes im Sinne der §§ 2 und 3 des
Bundesversorgungsgesetzes (BVG), der aufgrund gesetzlicher Dienst – oder Wehrpflicht oder während eines Krieges
geleistet worden ist.
Der Einsatz des Klägers aufgrund der Dienstpflichtverordnung ist kein militärischer Dienst im Sinne von § 2 BVG, da
es sich nicht um einen nach deutschem Wehrrecht geleisteten Dienst als Soldat (§ 2 Abs. 1 Buchst. a) BVG)
gehandelt hat. Die von dem Arbeitsamt ausgesprochene Dienstverpflichtung eines Zivilisten nach der
Dienstpflichtverordnung, die zum Abschluss eines Arbeits- oder Dienstvertrages zwischen dem Betriebsführer und
dem Verpflichteten führte, war ein Zivildienst, der dem Dienstverpflichteten nicht den Status eines Soldaten, sondern
ihm Rechte und Pflichten eines Arbeitnehmers im Rahmen der Dienstpflichtverordnung verlieh (§§ 1, 2
Dienstpflichtverordnung, 2 Abs. 2, 12, 20 DVO-Dienstpflichtverordnung).
Der Dienst nach der Dienstpflichtverordnung gilt auch nicht als militärähnlicher Dienst gemäß § 3 Abs. 1 BVG. Von
den in dieser Vorschrift unter den Buchstaben a) bis o) aufgeführten Dienstleistungen sind lediglich die Buchstaben b)
und k) in Betracht zu ziehen. Buchstabe b) erfasst den aufgrund einer Einberufung durch eine militärische Dienststelle
oder auf Veranlassung eines militärischen Befehlshabers für Zwecke der Wehrmacht geleisteten freiwilligen oder
unfreiwilligen Dienst. Die Voraussetzungen des Buchstaben b) liegen schon deshalb nicht vor, weil die
Dienstverpflichtung aufgrund der Dienstpflichtverordnung weder durch eine militärische Dienststelle noch auf
Veranlassung eines militärischen Befehlshabers erfolgt ist, sondern durch die Anordnung der Behörden der
Arbeitsverwaltung. Als militärähnlicher Dienst gilt nach § 3 Abs. 1 Buchstabe k) der Dienst aufgrund der Dritten
Verordnung zur Sicherstellung des Kräftebedarfs für Aufgaben von besonderer staatspolitischer Bedeutung
(Notdienstverordnung) vom 15. Oktober 1938. Der Kläger erfüllt die Voraussetzung des Buchstaben k) gleichfalls
nicht, da seine Dienstverpflichtung nicht aufgrund der Notdienstverordnung vom 15. Oktober 1938, sondern nach der
Dienstpflichtverordnung von 13. Februar 1939 erfolgt ist. Eine Dienstverpflichtung nach der Dienstpflichtverordnung
wird nach dem eindeutigen Wortlaut des § 3 Abs. 1 Buchstabe k) der Verpflichtung nach der Notdienstverordnung
nicht gleichgestellt, so dass die Verpflichtung zur Ableistung nach der Dienstpflichtverordnung nicht als
militärähnlicher Dienst im Sinne des § 3 BVG gilt (Wilke-Wunderlich, Kommentar zum BVG, 4. Auflage 1973, § 3
Anm. II 10). Es liegt auch nicht ein solcher Fall vor, bei dem der Kläger nach der Notdienstverordnung hätte
einberufen werden müssen, weil er weder zur Bekämpfung öffentlicher Notstände sowie zur Vorbereitung ihrer
Bekämpfung, wie es in § 1 Abs. 1 Notdienstverordnung vorausgesetzt wird, dienstverpflichtet worden ist. Seine
Einberufung ist zu Recht aufgrund der Dienstpflichtverordnung erfolgt, weil durch seine Dienstverpflichtung die
Durchführung rüstungswichtiger Produktionen während der Urlaubszeit der bei den B. Werken ständig beschäftigten
Arbeitnehmer gesichert werden sollte.
Der Dienst des Klägers kann auch nicht durch entsprechende Anwendung des § 3 Abs. 1 Buchstabe k) auf die
Dienstpflicht nach der Dienstpflichtverordnung als militärähnlicher Dienst anerkannt werden, wie aus der Vorschrift des
§ 3 Abs. 2 BVG zu entnehmen ist. Danach gilt nicht als militärähnlicher Dienst der Zivildienst, der aufgrund einer
Dienstverpflichtung oder eines Arbeitsvertrages bei der Wehrmacht geleistet worden ist, es sei denn, dass der Einsatz
mit besonderen kriegseigentümlichen Gefahren für die Gesundheit verbunden war. Da die Tätigkeit nach der
Dienstpflichtverordnung nur einen Zivildienst darstelle, der aufgrund einer Dienstverpflichtung im Rahmen des Arbeits-
oder Dienstvertrages geleistet worden ist (§§ 1, 2 Dienstpflichtverordnung, § 2 Abs. 2, 12, 20 DVO-
Dienstpflichtverordnung) kann er nur dann militärähnlicher Dienst im Sinne von § 3 Abs. 1 Buchstabe b) sein, wenn er
unmittelbar bei der Wehrmacht unter besonderen, kriegseigentümlichen Gefahren für die Gesundheit geleistet worden
ist (Wilke-Wunderlich, a.a.O. Anm. III). Der Kläger leistete keinen unmittelbaren Dienst bei der Wehrmacht, da es sich
bei den B. Werken, bei denen er zu einer Arbeitsleistung verpflichtet wurde, um eine rechtlich selbständige
Gesellschaft mit beschränkter Haftung handelte, die nicht Teil der Wehrmacht war.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Der Senat hat die Revision zugelassen, weil die Frage, ob eine Dienstverpflichtung nach der Dienstpflichtverordnung
vom 13. Februar 1939 eine Ersatzzeit darstellt, eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung ist.