Urteil des LSG Hessen vom 13.03.2017
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Hessisches Landessozialgericht
Urteil vom 08.12.1971 (rechtskräftig)
Sozialgericht Marburg
Hessisches Landessozialgericht L 3 U 393/69
I. Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Marburg/L. vom 25. März 1969 wird zurückgewiesen.
II. Die Klage gegen den Bescheid vom 23. Dezember 1969 wird abgewiesen.
III. Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.
Tatbestand:
Die 1909 geborene Klägerin erlitt am 6. Juni 1966 dadurch einen landwirtschaftlichen Unfall, daß sie von einem
Heuwagen fiel. Nach dem Durchgangsarztbericht der Chirurgischen Universitätsklinik M. zog sie sich dabei eine
Luxationsfraktur des 4./5. Brustwirbelkörpers zu. Nachdem sie bis zum 6. September 1966 stationär in dieser Klinik
behandelt worden war, äußerte sich deren Oberarzt Dr. med. S. und Dr. med. K. am 18. Januar 1967 gutachtlich
dahin, die unfallbedingte Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) habe bis zum 6. November 1966 100 v.H. betragen
und belaufe sich anschließend bis zum 6. Juni 1967 auf 30 v.H. Sodann sei eine Nachuntersuchung erforderlich. Die
Beklagte hörte am 11. März 1967 noch den Facharzt für Neurologie und Psychiatrie Dr. med. Sc. M., gutachtlich, der
sich dahin äußerte, auf seinem Fachgebiet bestehe keine MdE. Mit Bescheid vom 24. April 1967 hat die Beklagte der
Klägerin ab 7. November 1966 bis auf weiteres Rente nach einer MdE um 30 v.H. gewährt und als Unfallfolgen
anerkannt: "Keilform des 5. Brustwirbelkörpers nach Bruch, noch nicht voll wieder hergestellte Tragfähigkeit dieses
Wirbels, durch die Fehlform des 5. Brustwirbelkörpers bedingte örtliche Fehlstellung des Wirbels mit
Schmerzausstrahlung in die linke Brustseite, Muskelhärte im Bereich der oberen Rückenmuskulatur.”
Gegen diesen am 24. April 1967 mittels Einschreibebriefes beim Postamt K. eingelieferten Bescheid hat die Klägerin
am 14. Juni 1967 beim Sozialgericht Marburg/L. durch ihren jetzigen Prozeßbevollmächtigten, Rechtsanwalt Dr. B.,
Klage erhoben und gleichzeitig beantragt, ihr gemäß § 67 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) Wiedereinsetzung in den
vorigen Stand wegen Versäumung der Klagefrist zu gewähren. Hierzu wurde vorgetragen, Frau Ka. eine Tochter der
Klägerin, habe den angefochtenen Bescheid vom 24. April 1967 am 26. April 1967 im Büro des Rechtsanwalts B.
abgegeben. Da seit dem 27. Februar 1967 eine Klage gegen die Landesversicherungsanstalt Hessen (LVA) beim
Sozialgericht Marburg/L. anhängig gewesen sei, hätten die Angestellten des Anwaltsbüros angenommen, der
Bescheid vom 24. April 1967 sei wegen dieses Verfahrens hereingegeben worden. Erst durch einen späteren Anruf
der Frau Ka. habe man im Anwaltsbüro bemerkt, daß auch gegen diesen Bescheid Klage erhoben werden sollte.
Rechtsanwalt Dr. B. sei der Bescheid erstmalig am 12. Juni 1967 zu Gesicht gekommen. Die Klägerin, die ihn wegen
ihres Gesundheitszustandes nicht selbst habe aufsuchen können, habe die Klagefrist daher schuldlos versäumt. Es
werde hierzu eine dienstliche Versicherung des Rechtsanwaltes Dr. B. vorgelegt. In einer ferner überreichten
eidesstattlichen Versicherung der Frau Ka. wurde u.a. erklärt, sie habe den Bescheid am 26. April 1967 in das
Anwaltsbüro gebracht und dem damals dort beschäftigt gewesenen Stationsreferendar R. erklärt, daß auch gegen
diesen Bescheid Klage erhoben werden solle. R. habe sie aufgefordert, zunächst eine Vollmacht der Klägerin
beizubringen, was nach ca. 10 bis 14 Tagen auch geschehen sei. Dabei habe sie jedoch auf die mit dem Referendar
R. geführte Besprechung nicht hingewiesen. R. habe damals das Anwaltsbüro bereits wieder verlassen gehabt. In
einer eidesstattlichen Versicherung vom 25. September 1967 erklärte R., Frau Ka. habe ihm gegenüber nicht zum
Ausdruck gebracht, daß die Klägerin auch gegen den Bescheid der Beklagten vom 24. April 1967 Klage erheben
wolle.
Das Sozialgericht hat die Klage mit Urteil vom 25. März 1969 als unzulässig abgewiesen. Neben einer gewissen
Nachlässigkeit der Tochter der Klägerin treffe das eigentliche Verschulden an der Fristversäumung die Kanzlei des
Prozeßbevollmächtigten der Klägerin und diesen selbst. Die Klägerin müsse sich dieses Verschulden als eigenes
anrechnen lassen, so daß keine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand habe gewährt werden können.
Gegen das ihr am 4. April 1969 zugestellte Urteil hat die Klägerin am 10. April 1969 Berufung eingelegt.
Der Prozeßbevollmächtigte der Klägerin hat auf Antrage mitgeteilt, eingehende Prozeßvollmachten würden ihm nicht
vorgelegt, sondern zu den Handakten genommen.
Auf Antrage hat Rechtsanwalt R. in Ergänzung seiner eidesstattlichen Versicherung vom 25. September 1967 am 18.
November 1971 eidesstattlich erklärt, die unter dem Datum "S., den 1. März 1967” von der Klägerin unterschriebene
Prozeßvollmacht sei von ihm handschriftlich ausgefüllt worden. Im übrigen könne er sich an damit verbundene
Einzelheiten nicht mehr erinnern.
Während des Berufungsverfahrens hat die Beklagte im Rahmen einer Nachuntersuchung ein Gutachten der
Orthopädischen Universitätsklinik M. vom 29. August 1969 und des Neurologen Dr. med. Sc., M. vom 11. September
1969 vorgelegt, denen zufolge die unfallbedingte MdE nicht mehr als 30 v.H. beträgt. In einem Schriftsatz vom 23.
Dezember 1969 hat die Beklagte erklärt, mit der im Rahmen des § 622 Abs. 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO)
durchgeführten Nachuntersuchung sei gleichzeitig einem an sie gerichteten Antrag der Klägerin vom 9. April 1969
nach § 627 RVO entsprochen worden. Dieser Schriftsatz ist "In Vertretung” des Geschäftsführers der Beklagten
unterzeichnet. Die Beklagte vertritt hierzu die Auffassung, einer förmlichen Feststellung nach § 1569 a Abs. 1 Nr. 1
RVO durch den bei ihr gebildeten Rentenausschuß habe es nicht bedurft. Dies sei nur der Fall, wenn es sich um die
Gewährung von Rente handele, die nicht nur für die Vergangenheit gewährt werde.
Auf Antrag der Klägerin ist gem. § 109 SGG ein am 26. Juni 1971 erstatteten Gutachten ihres behandelnden Arztes
Dr. med. Sch., B., eingeholt worden, in dem die Ansicht vertreten worden ist, durch die unfallbedingte Luxationsfraktur
des 4./5. Brustwirbelkörpers sei es zu einer erheblichen Funktionseinschränkung und starken Schmerzhaftigkeit im
Gebiet der Hals-, Lenden- und Brustwirbelsäule gekommen. Für das Jahr 1967 habe die unfallbedingte MdE
mindestens 70 v.H. und für die Jahre danach bis zum heutigen Tag 50 v.H. betragen.
Die Klägerin trägt zur Begründung ihrer Berufung vor, das Sozialgericht habe ihr zu Unrecht keine Wiedereinsetzung in
den vorigen Stand gewährt. Frau Ka. habe gegenüber dem Referendar R. keinen Prozeßauftrag erteilt. Es habe sich
zwischen diesen Personen um einen echten Dissens gehandelt. Die von der Klägerin unterschriebene
Prozeßvollmacht sei von Frau Ka. nach dem Weggang des Referendars R. in der Anwaltskanzlei abgegeben worden.
Ein Auftragsverhältnis mit Rechtsanwalt Dr. B. sei nicht zustande gekommen. Im übrigen sei die Zustellung des
angefochtenen Bescheides an sie ohne rechtliche Wirkung gewesen, weil sie nach dem Gutachten des Prof. Dr. E.
vom 14. Juli 1967 aus neurologischer Sicht nur 2 bis 3 Stunden pro Tag für einfachste Hausarbeit fähig gewesen sei,
so daß damals mangelnde Geschäftsfähigkeit vorgelegen habe. In der Sache selbst führt sie aus, dem Gutachten des
Dr. med. Sch. sei gegenüber den Feststellungen der beiden anderen Gutachter der Vorzug zu geben, weil er sie seit
langem genau kenne. Die Beklagte habe ferner einen Halswirbelkörperbruch überhaupt unberücksichtigt gelassen. Die
Gutachter der Orthopädischen Universitätsklinik M. hätten auch den Zusammenhang zwischen der Involution des
alternden Menschen und dem Unfall nicht bzw. nicht hinreichend beachtet.
Sie beantragt, das Urteil des Sozialgerichts Marburg/L. vom 25. März 1969 sowie den Bescheid der Beklagten vom
24. April 1967 dahin abzuändern, daß die Beklagte verurteilt wird, ihr für die Zeit vom 7. November 1966 bis zum 31.
Dezember 1967 Verletztenrente nach einer MdE um 70 v.H. und ab 1. Januar 1967 nach einer solchen um 50 v.H. zu
gewähren.
Die Beklagte beantragt, die Berufung zurückzuweisen.
Sie führt aus, das Sozialgericht habe dem Wiedereinsetzungsantrag der Klägerin mit zutreffender Begründung nicht
stattgegeben. Der in dem Gutachten des Dr. Sch. wiedergegebene Röntgenbefund sei in dem Gutachten der
Orthopädischen Universitätsklinik M. vom 29. August 1969 in allen Einzelheiten enthalten und bei der Beurteilung der
Unfallfolgen mit 30 v.H. berücksichtigt worden. Diese Röntgenbeurteilung ergebe, daß bei der Klägerin u.a. alters- und
verschleißbedingte knöcherne Veränderungen der gesamten Wirbelsäule festgestellt worden seien, die keine
Unfallfolgen darstellten und die für die von der Klägerin vorgetragenen Beschwerden ursächlich sein dürften. Ein
behandelnder Arzt sei im übrigen trotz allen Bestreben nach unparteiischer Beurteilung nur allzu leicht geneigt, die
strittigen Fragen in einem seinem Patienten günstigen Sinn zu beantworten.
Im übrigen wird auf den Inhalt der beigezogenen Akte der Beklagten, der Akte des Sozialgerichts Marburg/L. S-4/J-
49/67, sowie der Gerichtsakten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die statthafte Berufung ist form- und fristgerecht eingelegt und daher zulässig.
Sie ist jedoch unbegründet. Das Sozialgericht hat die Klage zu Recht wegen Versäumung der einen Monat
betragenden Klagefrist (§ 87 Abs. 1 Satz 1 SGG) abgewiesen, weil der angefochtene Bescheid vom 24. April 1967,
der mittels eingeschriebenen Briefes am selben Tage zur Post gegeben wurde, als am 27. April 1967 zugestellt gilt (§
4 Abs. 1 des Verwaltungszustellungsgesetzes), die Klage aber erst am 14. Juni 1967 und damit verspätet beim
Sozialgericht Marburg/L. einging. Die Klägerin gibt auch zu, daß sie diese Frist versäumt hat. Sie vertritt jedoch die
Auffassung, es treffe sie daran kein Verschulden, so daß ihr gem. § 67 SGG Wiedereinsetzung in den vorigen Stand
zu gewähren sei. Das Sozialgericht hat jedoch den dahingehenden Antrag der Klägerin im Ergebnis zu Recht nicht
stattgegeben.
Zunächst ist festzustellen, daß die Klägerin nicht selbst Klage erhoben und auch nicht selbst ihren
Prozeßbevollmächtigten, Rechtsanwalt Dr. B., mit der Prozeßführung beauftragt hat. Vielmehr betraute sie nach ihrem
glaubhaften Vorbringen hiermit ihre Tochter, Frau Ka. wie diese auch eidesstattlich versichert hat. Danach brachte
diese den angefochtenen Bescheid vom 24. April 1967 nach ihrer Erinnerung bereits am 26. April 1967 in das Büro
des Rechtsanwalts Dr. B. und sprach dort mit dem Stationsreferendar R. Sie erklärte eidesstattlich u.a.: "Meine
Mutter, Frau M. B., wollte, daß auch gegen diesen Bescheid Klage beim Sozialgericht erhoben werden sollte.” R. habe
ihr jedoch gesagt, sie müsse zunächst eine Prozeßvollmacht ihrer Mutter beibringen ehe die Sache bearbeitet werden
könne. R. hat hierzu eidesstattlich versichert, er könne sich an diese Besprechung nicht mehr erinnern, erklärte
jedoch in einer zusätzlichen eidesstattlichen Versicherung vom 18. November 1971 auf Antrage, daß er das von der
Klägerin unterschriebene Vollmachtsformular mit der Angabe "S., den 1. März 1967” handschriftlich ausgefüllt habe.
Es steht somit nicht fest, daß Frau Ka. Ende April 1967 Rechtsanwalt Dr. B. im Namen ihrer Mutter mündlich
beauftragt hat, Klage zu erheben. Dies ist von Frau Ka. in ihrer eidesstattlichen Versicherung auch noch nicht einmal
ausdrücklich erklärt worden. Wahrscheinlich hat sie mit R. allgemein über eine Anfechtung dieses Bescheides
gesprochen und es bestand zwischen ihnen Einverständnis darüber, daß die Klageerhebung erst erfolgen sollte,
nachdem die Klägerin eine Prozeßvollmacht unterschrieben hatte. R. gab ihr dabei wahrscheinlich zu diesem Zweck
ein von ihm handschriftlich ausgefülltes Formular mit, das die Klägerin, die Beklagte und den anzufechtenden
Bescheid bezeichnete, und von der Klägerin zuhause unterschrieben wurde. Frau Ka. hat weiterhin eidesstattlich
versichert, daß sie die Prozeßvollmacht 10–14 Tage später unterschrieben im Büro des Rechtsanwaltes Dr. B. abgab,
ohne dabei etwas besonderes zu sagen und ohne auf ihre Besprechung mit R. hinzuweisen, der inzwischen nach
Beendigung seiner Anwaltsstation nicht mehr bei Rechtsanwalt Dr. B. tätig war.
Es kann dahingestellt bleiben, ob dessen Büro nach der Besprechung zwischen Frau Ka. und dem Referendar R.
Ende April 1967 verpflichtet war, eine Notfrist zu notieren, wie das Sozialgericht angenommen hat. Rechtsanwalt Dr.
B. weist zu Recht darauf hin, es sei nicht erwiesen, daß bereits damals ein Auftrag zur Prozeßführung vorgelegen
habe. Jedenfalls hat aber Frau Ka. schuldhaft gehandelt, als sie in der ersten Maihälfte 1967 die von der Klägerin
unterschriebene Prozeßvollmacht in dem Anwaltsbüro abgab, ohne mit Rechtsanwalt Dr. B. zu sprechen oder
wenigstens gegenüber den Büroangestellten eindeutig zu erklären, daß nunmehr Klage gegen die Beklagte erhoben
werden solle, nachdem sie den Referendar R. dort nicht mehr antraf, und auch nicht darauf hinwies, daß sie mit
diesem bereits über eine Anfechtung des Bescheides vom 24. April 1967 gesprochen hatte. Durch dieses Verhalten
hat Frau Ka. mit dazu beigetragen, daß Rechtsanwalt Dr. B. nicht rechtzeitig von seiner Bevollmächtigung zur
Klageerhebung erfuhr. Dieses Verschulden ihrer Tochter muß die Klägerin gegen sich gelten lassen. Angesichts des
Verhaltens der Frau Ka. kann, zumal andere Anhaltspunkte fehlen, nicht festgestellt werden, daß die Klägerin darauf
vertrauen durfte, ihre Tochter werde Rechtsanwalt Dr. B. zuverlässig in ihrem Namen mit der Prozeßführung
beauftragen.
Ein mitwirkendes Verschulden trifft aber auch Rechtsanwalt Dr. B. und dessen Büroangestellte. Letztere mußten der
von Frau Ka. abgegebenen, richtig ausgefüllten und unterzeichneten Prozeßvollmacht entnehmen, daß Rechtsanwalt
Dr. B. damit beauftragt wurde, Klage gegen den Bescheid der Beklagten vom 24. April 1967 zu erheben. Dies geht
eindeutig aus der Prozeßvollmacht hervor. Wenn die Angestellten des Anwaltsbüros diese Vollmacht, ohne sie zu
lesen, in die Handakte einhefteten, die in dem bereits anhängigen Rechtsstreit der Klägerin gegen die LVA Hessen
geführt wurde, so handelten sie fahrlässig, zumal sie es offensichtlich auch unterließen, Frau Ka. nach dem
Verwendungszweck der Prozeßvollmacht zu fragen. Sie hätten auch ohne Schwierigkeiten feststellen können, daß in
dem Rechtsstreit gegen die LVA Hessen bereits am 27. Februar 1967 dem Sozialgericht Marburg/L. mit der
Klageschrift eine von der Klägerin unterschriebene Prozeßvollmacht eingereicht worden war, die von Frau Ka. Anfang
Mai 1967 überbrachte Prozeßvollmacht sich also nicht auf diesen Rechtsstreit beziehen konnte.
Rechtsanwalt Dr. B. hat auf Antrage erklärt, er habe nicht angeordnet, daß ihm auch eingehende Prozeßvollmachten
vorzulegen sind. Dies mag nicht zu beanstanden sein, wenn eingehende Vollmachten bereits anhängige Verfahren
betreffen. Wenn jedoch im Büro eines Rechtsanwaltes eine Prozeßvollmacht abgegeben wird, die sich nicht nur nicht
eindeutig auf ein bereits anhängiges Verfahren bezieht, sondern in der sogar ein anderer, noch nicht abhängiger
Rechtsstreit eindeutig bezeichnet ist, so muß diese Vollmacht dem Rechtsanwalt vorgelegt werden, damit er
entscheiden kann, ob darin ein Auftrag zur Führung eines Rechtsstreites zu erblicken ist. Eine solche Anwendung
hatte Rechtsanwalt Dr. B. nach seiner Einlassung seinem Büroangestellten aber nicht erteilt, vielmehr allgemein
angeordnet, eingehende Prozeßvollmachten in die Handakten einzuheften. Dadurch war es nach Auffassung des
erkennenden Senats möglich, daß die Büroangestellten die Prozeßvollmacht routinemäßig in der die Klägerin
betreffenden Handakte abhefteten, ohne vorher zu prüfen, ob sich die Prozeßvollmacht auch tatsächlich auf den
bereits anhängigen Rechtsstreit gegen die LVA Hessen bezog. Rechtsanwalt Dr. B. hatte damit nicht alles getan, was
in einem normalen Bürobetrieb erforderlich ist, um die Einhaltung gerichtlicher Fristen zu gewährleisten.
Dieses Verschulden des Rechtsanwaltes Dr. B. und seiner Angestellten ist den eigenen Verschulden der Klägerin
gleichzusetzen (vgl. Urteil des BSG vom 26. Februar 1960, 3 RJ 148/57). Damit, daß die Klägerin Rechtsanwalt Dr. B.
rechtzeitig schriftlich beauftragt hatte, gegen den Bescheid der Beklagten vom 24. April 1967 Klage zu erheben, war
er als ihr Vertreter verpflichtet, alle zur rechtzeitigen Klageerhebung erforderlichen Maßnahmen zu treffen, besonders,
da er sie bereits in einem anderen Sozialgerichtsverfahren vertrat (vgl. Beschluss des BGH in NJW 1963 S. 297).
Denn wer einen Rechtsanwalt schriftlich mit einer Prozeßführung beauftragt, muß es gegen sich gelten lassen, wenn
dieser den Auftrag aus von ihm zu vertretenden Gründen nicht ausführt.
Der Wiedereinsetzungsantrag kann auch nicht mit einer Prozeßunfähigkeit der Klägerin begründet werden, wie das
Sozialgericht zutreffend ausgeführt hat. Aus dem vorliegenden neurologischen Gutachten des Dr. med. Sc. M., vom
14. Juli 1967, das vom Sozialgericht Marburg/L. in den Rentenverfahren der Klägerin eingeholt wurde, ergibt sich
eindeutig, daß sie bewußtseinsklar und lediglich in ihrer Stimmungslage klagsam depressiv war. Erwiesenermaßen
erteilte sie ihrer Tochter, Frau Ka., auch sogleich nach Zustellung des angefochtenen Bescheides den Auftrag,
Rechtsanwalt Dr. B. mit der Klageerhebung zu betrauen.
Da dem Sozialgericht die Klage somit zu Recht wegen Versäumung der Klagefrist als unzulässig abgewiesen hat, war
die Berufung zurückzuweisen.
Der im Berufungsverfahren auf Antrag der Klägerin gem. § 627 RVO erteilte Bescheid der Beklagten vom 23.
Dezember 1969 ist nach § 96 SGG Gegenstand dieses Verfahrens geworden (vgl. Peters-Sautter-Wolff, Kommentar
zum Sozialgerichtsgesetz, Anm. 1 b zu § 96).
Dem steht zunächst nicht entgegen, daß es sich hierbei lediglich um einen "In Vertretung” des Geschäftsführers der
Beklagten unterzeichneten Schriftsatz handelt. Die Beklagte hat nämlich darin zum Ausdruck gebracht, daß von ihr
eine Entscheidung auf den Antrag der Klägerin gem. § 627 RVO getroffen worden ist, so daß auf dem Gebiete des
öffentlichen Rechts ein Einzelfall mit unmittelbarer rechtlicher Wirkung geregelt worden ist und damit ein
Verwaltungsakt vorliegt. Ferner wird der Rechtscharakter dieses Schriftsatzes als Verwaltungsakt nicht dadurch
beeinflußt, daß eine förmliche Feststellung durch den Rentenausschuß der Beklagten gem. § 1569 a Abs. 1 Nr. 1
RVO nicht erfolgt ist. Zwar war dies erforderlich, weil die Beklagte über die Gewährung von Rente nicht nur für die
Vergangenheit entschieden hat. Deren Auffassung, eines förmlichen Bescheides habe es nicht bedurft, weil der
Antrag nach § 627 RVO nicht zur Gewährung einer Rente geführt habe, ist unzutreffend und widerspricht auch der
Praxis der Beklagten, die Entscheidungen, mit denen sie z.B. die Anerkennung eines Arbeitsunfalls ablehnt,
richtigerweise von dem bei ihr gebildeten Rentenausschuß treffen läßt. Wenn auch die Versagung von Leistungen in §
1569 a Abs. 1 Nr. 1 RVO nicht aufgeführt ist, muß sie doch stets dort durch förmlichen Bescheid ausgesprochen
werden, wo sie in dieser Bestimmung bezeichnete Leistungen betrifft, da für positive und negative Entscheidungen
gleicher Art auch die gleichen Verfahrensregeln zu gelten haben (so auch RVO-Gesamtkommentar, Anm. 3 zu § 1569
a; Ricke, BG 1968 S. 482 ff.). Für die nach § 1569 a Abs. 1 Nr. 1 RVO gebotene förmliche Feststellung war jedoch
nicht der Geschäftsführer der Beklagten, sondern nach § 1569 RVO in Verbindung mit § 39 Abs. 1 der Satzung der
Beklagten der bei ihr gebildete Rentenausschuß zuständig. Nur soweit keine förmliche Feststellung erforderlich ist,
setzt nach dieser Satzung der Geschäftsführer die Leistung fest (§ 39 Abs. 4 der Satzung). Die fehlende
Zuständigkeit des Geschäftsführers der Beklagten zur Feststellung, daß eine höhere Verletztenrente für die
Vergangenheit und Zukunft abgelehnt wird, bedeutet einen schweren Mangel des Verwaltungsaktes. Dieser Mangel ist
jedoch nicht so offensichtlich, daß er die Nichtigkeit des Verwaltungsaktes herbeiführt. Es ist für einen aufmerksamen
und verständigen Staatsbürger nämlich nicht ohne weiteres erkennbar, daß der Geschäftsführer der Beklagten mit
dem Verwaltungsakt vom 23. Dezember 1969 seine Befugnis überschritten hatte (vgl. Urteil des BSG vom 14.
Dezember 1965, 2 RU 113/63). Der somit rechtswirksam erlassene Bescheid war daher daraufhin zu überprüfen, ob er
in der Sache zutreffend ist (vgl. BSG 24, 134 ff.).
Nach § 627 RVO hat der Versicherungsträger eine Leistung neu festzustellen, wenn er sich durch eine erneute
Prüfung überzeugt, daß die Leistung zu Unrecht ganz oder teilweise abgelehnt, entzogen oder eingestellt worden ist.
Es handelt sich dabei um eine Vornahmeklage, mit der gem. § 79 Nr. 2 SGG die Verurteilung der Beklagten zum
Erlaß eines abgelehnten Verwaltungsaktes begehrt wird. Das bei einer solchen Klage erforderliche Vorverfahren ist
hier nicht erforderlich, weil dieser Bescheid Gegenstand der Berufungsverfahrens geworden ist (vgl. Peters-Sautter-
Wolff, a.a.O., Anm. 1 d zu § 96).
Der Begriff des Überzeugtseins in § 627 RVO kann nicht in rein subjektivem Sinne verstanden werden, weil sonst die
dem Versicherungsträger auferlegte Pflicht zur Neufeststellung einer Leistung nahezu wertlos wäre. Vielmehr müssen
die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit in der Lage sein, aus von ihnen nachprüfbaren objektiven Merkmalen die
Folgerung zu ziehen, daß der Versicherungsträger als überzeugt zu gelten hat. Dabei muß allerdings eine gewisse
Evidenz der Unrichtigkeit der Leistungsablehnung gefordert werden, d.h., die Unrichtigkeit muß so offensichtlich sein,
daß der Versicherungsträger diese bei der erneuten Prüfung hätte erkennen müssen (so Urteil des BSG vom 29. März
1963, 2 RU 234/59, BSG 19 S. 38 ff.).
Die Beklagte hat eine erneute Untersuchung und Begutachtung der Klägerin veranlaßt, um zu prüfen, ob die Folgen
des Unfalles vom 6. Juni 1966 unrichtig festgestellt worden sind. In dem Gutachten der Orthopädischen
Universitätsklinik M. vom 29. August 1969 ist diese Frage ebenso verneint worden wie in dem von der Beklagten
eingeholten Gutachten des Neurologen Dr. Sc. vom 11. September 1969. Die unfallbedingte MdE ist von diesen
Gutachtern mit 30 v.H. bewertet worden. Es wurde zusätzlich lediglich ein in dem angefochtenen Bescheid vom 24.
April 1967 nicht aufgeführter "Zustand nach Dornfortsatzabbruch am 7. Halswirbelkörper” diagnostiziert, der aber zu
keiner wesentlichen Verlagerung des Bruchsegmentes geführt habe. In dem Gutachten der Orthopädischen
Universitätsklinik M. heißt es hierzu: "Eine direkte Unfallfolge des Dornfortsatzbruches des 7. Halswirbelkörpers
besteht nicht.” Diesen Dornfortsatzbruch hat die Beklagte dadurch, daß sie ihn in dem nach § 627 RVO erteilten
Bescheid vom 23. Dezember 1969 angeführt hat, als Unfallfolge anerkannt, so daß eine dahingehende Verurteilung
auszusprechen war.
Die Beklagte brauchte im Sinne des § 627 RVO nicht davon überzeugt zu sein, daß hierdurch eine Erhöhung der
unfallbedingten MdE eingetreten ist. Während es in dem Zwischenbericht der Chirurgischen Universitätsklinik M. vom
25. Oktober 1966 heißt, es erfolge noch eine medico-mechanische Behandlung zur Stärkung der Rückenmuskulatur,
wurde eine spezielle Behandlung des Dornfortsatzbruches als nicht erforderlich bezeichnet. Bei der Untersuchung am
18. Januar 1967 in derselben Klinik äußerte die Klägerin auch von Seiten der Halswirbelsäule keine Beschwerden,
vielmehr solche im Rücken und im Schulterarmbereich. Es wurde eine Arthrose der Schultergelenke und ein
Halswirbelsäulensyndrom festgestellt. Ferner sind in dem im Rentenverfahren der Klägerin eingeholten Gutachten des
Prof. Dr. E. vom 14. Juli 1967 keine auf den Dornfortsatzbruch zurückführende Beschwerden beschrieben worden,
desgleichen nicht in den Gutachten der Orthopädischen Universitätsklinik M. vom 29. August 1969, während es in
dem Gutachten des Neurologen Dr. Sc. vom 11. September 1969 heißt, die Dornfortsatzfraktur des 7.
Halswirbelkörpers habe nicht zu neurologischen Ausfällen geführt. Schließlich hat Dr. med. Sch. in seinem Gutachten
vom 26. Juni 1971 ausgeführt, die alte Fraktur des 7. Hornfortsatzes der Halswirbelsäule sei unter caudaler
Verlagerung knöchern fest konsolidiert. Daß dadurch Beschwerden und Schmerzen hervorgerufen werden, ist von ihm
medizinisch nicht begründet worden. Nach dem Gutachten der Orthopädischen Universitätsklinik M. vom 29. August
1969 bestehen als Folge dieses Bruches keine direkten Folgen, jedoch wurden an der Halswirbelsäule eine vermehrte
Lordose und eine Spondylarthrose diagnostiziert. Es ist daher nicht zu beanstanden, daß die Beklagte in dem
Bescheid vom 24. April 1967 ein "Halswirbelsäulensyndrom” als Nichtunfallfolge bezeichnet hat.
Die Beklagte brauchte auch unter Berücksichtigung des im Berufungsverfahren noch nach § 109 SGG eingeholten
Gutachtens des Dr. med. Sch. nicht davon überzeugt zu sein, daß der von ihr für die Unfallfolgen gebildete MdE-Grad
zu niedrig ist. Dieser Arzt meint, die MdE sei insbesondere wegen der in die Brust ausstrahlenden Schmerzen zu
niedrig festgesetzt worden. Dabei hat er aber offensichtlich nicht ausreichend berücksichtigt, daß nach dem
Gutachten des Prof. Dr. med. E. bei der Klägerin ein "hypochondrisch-depressives Bild bei einem Hirnabbauprozeß”
vorliegt. Prof. Dr. med. E. hat hierzu ausgeführt, die vom Unfall noch herrührenden Beschwerden bildeten die
Ausformung des depressiv anmutenden Bildes, seien aber ätiologisch nicht für das Zustandsbild verantwortlich zu
machen, so daß sie zu einer gleichmäßigen, anhaltenden, längeren Arbeit nicht mehr imstande sei. Wenn die Klägerin
Schmerzen äußert, steht somit nicht fest, daß diese ihre alleinige Ursache in den Unfallfolgen haben. Der Beklagten
kann daher nicht vorgehalten werden, sie müsse von der Bewertung der Unfallfolgen durch Dr. med. Sch. überzeugt
sein, zumal sie in nicht zu beanstandender Weise darauf hingewiesen hat, daß Hausärzte trotz allen Bestrebens nach
unparteiischer Beurteilung doch unwillkürlich geneigt sein werden, die strittigen Fragen in einem dem Patienten
günstigen Sinn zu beantworten.
Nach alledem war die Beklagte nicht verpflichtet, im Rahmen des § 627 RVO eine Neufeststellung der Folgen des
Unfalls vom 6. Juni 1966 vorzunehmen.
Darüber, ob noch Folgen der Unfälle, welche die Klägerin in den Jahren 1951 und 1962 erlitt, vorhanden sind, ist in
diesem Rechtsstreit nicht zu befinden. Die Beklagte hat nämlich lediglich einen Bescheid über dem Umfang der
Folgen des Unfalls vom 6. Juni 1966 gem. § 627 RVO erteilt. Da in Bezug auf andere Unfälle keine Verletztenrente
gezahlt wird, bleibt es der Klägerin anheimgestellt, die Beklagte zu veranlassen, insoweit eine Nachprüfung gem. §
622 RVO oder § 627 RVO herbeizuführen, wenn sie der Auffassung ist, daß durch einen dieser früheren Unfälle eine
MdE um wenigstens 10 v.H. bedingt wird.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.