Urteil des LSG Hessen vom 14.03.2008
LSG Hes: rente, arbeitsamt, erwerbsfähigkeit, merkblatt, arbeitsförderung, rückerstattung, verwaltungsakt, behörde, rücknahme, sicherheit
Hessisches Landessozialgericht
Urteil vom 14.03.2008 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Frankfurt S 1 AL 2631/04
Hessisches Landessozialgericht L 7 AL 55/07
Bundessozialgericht B 7 AL 26/08 R
I. Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 22. Februar 2007 wird
zurückgewiesen.
II. Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.
III. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand:
Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob die Klägerin verpflichtet ist, das im Zeitraum vom 24. Juli 2002 bis 29.
Oktober 2002 bezogene Arbeitslosengeld zurückzuerstatten.
Auf ihren Antrag vom 24. Juli 2002 gewährte die Beklagte der Klägerin Arbeitslosengeld in Höhe von 246,68 EUR
wöchentlich. Mit Schreiben vom 10. September 2002 teilte die Bundesversicherungsanstalt für Angestellte dem
ärztlichen Dienst der Beklagten mit, dass der Klägerin ab 1. August 2001 Versichertenrente wegen voller
Erwerbsminderung bewilligt worden sei und die laufende Zahlung am 1. November 2002 beginne. Der
Eingangsstempel trägt sowohl bei dem ärztlichen Dienst als auch bei dem Arbeitsamt FD. das Datum vom 18.
September 2002. Am 2. Oktober 2002 teilte auch die Klägerin die Zubilligung der Rente mit.
Mit Schreiben vom 21. Oktober 2003 forderte die Beklagte bei der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte den
Rentenbescheid an, der am 31. Oktober 2003 einging. Gleichzeitig wurde mitgeteilt, dass der Nachzahlungsbetrag
bereits abgerechnet worden sei. Mit Bescheid vom 30. Dezember 2003 hob die Beklagte die Bewilligung des
Arbeitslosengeldes für die Zeit ab 24. Juli 2002 auf und forderte die Rückerstattung in Höhe von 4.747,12 EUR. Der
Widerspruch vom 8. Januar 2004 wurde nach Anhörung der Klägerin mit Widerspruchsbescheid vom 30. Juli 2004 mit
der Maßgabe zurückgewiesen, dass der Erstattungsbetrag auf 3.431,71 EUR reduziert wurde.
Hiergegen hat die Klägerin am 16. August 2004 bei dem Sozialgericht Frankfurt am Main Klage erhoben, das diese
mit Urteil vom 22. Februar 2007 abgewiesen hat. In den Entscheidungsgründen hat es ausgeführt: Die Beklagte habe
zu Recht die Arbeitslosengeldbewilligung wegen Änderung der Verhältnisse aufgehoben und das überzahlte
Arbeitslosengeld zurückgefordert. In dem der Klägerin ausgehändigten "Merkblatt für Arbeitslose" sei
unmissverständlich darauf hingewiesen worden, dass die Klägerin den Bezug Renten aller Art, insbesondere Rente
wegen Berufs- und Erwerbsunfähigkeit mitteilen müsse. Die gesetzlichen Fristen für die Rückforderung seien von der
Beklagten eingehalten worden.
Gegen dieses der Klägerin am 13. März 2007 zugestellte Urteil hat sie am 19. März 2007 bei dem Hessischen
Landessozialgericht Berufung eingelegt.
Sie ist der Auffassung, sie habe alles getan, damit die Beklagte den Erstattungsanspruch gegenüber dem
Rentenversicherungsträger hätte geltend machen können.
Die Klägerin beantragt, das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 22. Februar 2007 sowie den Bescheid
der Beklagten vom 30. Dezember 2003 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30. Juli 2004 aufzuheben.
Die Beklagte beantragt, die Berufung zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Wegen des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird auf den übrigen Akteninhalt Bezug genommen sowie auf den der
Akten der Beklagten, der Gegenstand der Beratung gewesen ist.
Entscheidungsgründe:
Der Senat konnte ohne mündliche Verhandlung entscheiden, nachdem sich die Beteiligten hiermit einverstanden
erklärt haben (§ 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz – SGG).
Die Berufung ist zulässig aber unbegründet.
Der Bescheid der Beklagten vom 30. Dezember 2003 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30. Juli 2004
ist nicht zu beanstanden. Die Klägerin ist zur Rückerstattung des Arbeitslosengeldes im Zeitraum vom 24. Juli 2002
bis 29. Oktober 2002 verpflichtet.
Nach § 125 Abs. 3 Sozialgesetzbuch Drittes Buch - Arbeitsförderung - SGB III in der 2002 geltenden Fassung steht
der Bundesanstalt ein Erstattungsanspruch entsprechend § 103 des Zehnten Buches zu, wenn dem Arbeitslosen von
einem Träger der gesetzlichen Rentenversicherung wegen einer Maßnahme zur Rehabilitation Übergangsgeld oder
einer Rente wegen Erwerbsminderung zuerkannt wird. Hat der Träger der gesetzlichen Rentenversicherung Leistungen
nach Satz 1 mit befreiender Wirkung an den Arbeitslosen oder einen Dritten gezahlt, hat der Bezieher des
Arbeitslosengeldes dieses insoweit zu erstatten.
Nach der amtlichen Begründung (Bundestag-Drucksache 13/4941, Seite 177) soll die Regelung des Abs. 3 S. 2
verhindern, dass der Arbeitslose durch eine Zahlung beider Leistungsträger begünstigt wird.
Da auch bei rückwirkender Bewilligung einer Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit der Bezug einer Leistung
nach § 125 Abs. 1 SGB III rechtmäßig war, war nach früherer Rechtslage ein Erstattungsanspruch gegenüber dem
Arbeitslosen für die Zeit vor der Entscheidung des Trägers der Rentenversicherung ausgeschlossen. Deshalb
bestimmt nunmehr § 125 Abs. 3 S. 2 SGB III, dass der Arbeitslose die erhaltenen Leistungen erstatten muss (vgl.
Valgolio in: Hauck/Noftz, SGB III, Arbeitsförderung, 2007, § 125 Rdnr. 22).
Wie die Beklagte im Widerspruchsbescheid vom 30. Juli 2004 zutreffend ausgeführt hat, entspricht der
Erstattungsbetrag dem Umfang, in dem auch der Rentenversicherungsträger zur Erstattung verpflichtet wäre. Der
Umfang der Erstattungsverpflichtung des Arbeitslosen beschränkt sich aber auch hierauf ("insoweit"), so dass die
Leistungen des Arbeitslosengeldes und der Rente gegenüberzustellen sind und nur der jeweils niedrigere Betrag zu
erstatten ist. Dies hat die Beklagte beachtet und für die Zeit vom 24. Juli 2002 bis 13. September 2002 zutreffend
einen Erstattungsbetrag in Höhe von 1.810,67 EUR und für die Zeit vom 14. September 2002 bis 29. Oktober 2002 in
Höhe von 1.621,04 EUR errechnet.
Für die Zeit ab Kenntnis der Klägerin über die Bewilligung der Rente – 14. September 2002 – bis zum Ende des
Bezuges des Arbeitslosengeldes – 29. Oktober 2002 – ist die Rückzahlungsverpflichtung der Klägerin im Übrigen
auch nach den §§ 48, 50 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch - Verwaltungsverfahren - SGB X in Verbindung mit § 330
Abs. 3 SGB III begründet.
Danach kann die Beklagte die Arbeitslosengeldbewilligung nach § 125 Abs. 1 SGB III regelmäßig für die Zeit nach der
Feststellung einer verminderten Erwerbsfähigkeit durch den Rentenversicherungsträger wegen einer wesentlichen
Änderung in den Verhältnissen aufheben. Ab diesem Zeitpunkt muss der Arbeitslose, unabhängig von dem Beginn
einer möglichen Rentenzahlung, mit einer Aufhebung der Leistungsbewilligung und einer Erstattungsforderung
rechnen, da er regelmäßig bereits durch die Schreiben der Arbeitsverwaltung im Rahmen der Nahtlosigkeitsregelung
darauf hingewiesen wird (Behrend in: Eicher/Schlegel, SGB III, 2007, § 125, Rdnr. 114). Auch die Klägerin hat bei
Antragstellung am 27. Juni 2002 das "Merkblatt 1 für Arbeitslose" erhalten, wie sie mit ihrer Unterschrift bestätigt hat.
Mit der Kenntnis von der Bewilligung der Rente wegen Erwerbsminderung musste sie daher damit rechnen, dass die
Beklagte das für den deckungsgleichen Zeitraum gezahlte Arbeitslosengeld zurückfordern wird (vgl. Winkler in: Gagel,
SGB III, 2007, § 125, Rdnr. 54 m.w.N.).
Die Beklagte hat auch die Jahresfrist (§ 48 Abs. 4 i.V.m. § 45 Abs. 4 S. 2 SGB X) eingehalten. Danach muss die
Behörde innerhalb eines Jahres seit Kenntnis der Tatsachen, welche die Rücknahme eines rechtswidrigen
begünstigenden Verwaltungsaktes für die Vergangenheit rechtfertigen, den Verwaltungsakt zurücknehmen.
"Kenntnis" im Sinne von § 45 Abs. 4 S. 2 SGB X bedeutet nach der Rechtsprechung die hinreichende Sicherheit für
den Erlass eines Rücknahmebescheides. Nicht ausreichend sind ein "Kennenkönnen" oder selbst ein grob
fahrlässiges "Kennenmüssen" (vgl. Steinwedel in: Kasseler Kommentar, § 45 SGB X, Rdnr. 29 m.w.N.).
Nach Aktenlage war die Beklagte ab 18. September 2002 - Eingang des Schreibens der Bundesversicherungsanstalt
für Angestellte vom 10. September 2002 bei dem Arbeitsamt FD. - darüber informiert, dass der Klägerin
Versichertenrente bewilligt wurde. Diesen Sachverhalt hat auch die Klägerin am 2. Oktober 2002 der Beklagten
mitgeteilt. Ein weiteres Tätigwerden der Beklagten ist dann erst wieder am 21. Oktober 2003 festzustellen, als sie bei
der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte die Übersendung des Rentenbescheides angefordert hat.
Anhaltspunkte dafür, dass etwa ein missbräuchliches Sichverschließen vor der Kenntnis vorliegt, die die
Gleichstellung mit der Kenntnis rechtfertigen könnten (vgl. Steinwedel, a.a.O), sind jedoch nicht ersichtlich.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Im Hinblick darauf, dass zu § 125 Abs. 3 S. 2 SGB III keine höchstrichterliche Rechtsprechung vorliegt, hat der Senat
die Revision zugelassen (§ 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG).