Urteil des LSG Hessen vom 13.03.2017

LSG Hes: arbeitslosenversicherung, unterbrechung, verfügungsgewalt, verfügungsmacht, aussperrung, sozialversicherung, krankenversicherung, arbeitsamt, verfassung, bezugsdauer

Hessisches Landessozialgericht
Urteil vom 04.08.1954 (rechtskräftig)
Sozialgericht Darmstadt
Hessisches Landessozialgericht Arb. VI 19/54
Auf die Berufung der Klägerin werden das Urteil des Sozialgerichtes Darmstadt vom 21. Mai 1954 und die
Entscheidung des Spruchausschusses beim Arbeitsamt D. vom 19. November 1953 aufgehoben und der Einspruch
der Beklagten gegen den Bescheid des Arbeitsamtes D. vom 13. Oktober 1953 zurückgewiesen.
Die Parteien haben einander Kosten nicht zu erstatten.
Tatbestand:
Die Beklagte war vom 4. Mai 1948–14. März 1953 bei der Firma Gebrüder R. A.C., D., als Emaille-Aufträgerin
beschäftigt. In der Zeit vom 26. August – 23. September 1951 beteiligte sie sich an dem seinerzeit durchgeführten
Streik. Am 23. März 1953 meldete sie sich arbeitslos und beantragte Arbeitslosenunterstützung, die ihr von dem
Arbeitsamt D. für 26 Wochen gewährt wurde. Der Antrag der Beklagten, die Bezugsdauer zu verlängern, wurde mit
Bescheid vom 13. Oktober 1953 abgelehnt, weil das Arbeitsverhältnis vom 26. August – 23. September 1951 durch
Streik unterbrochen gewesen sei.
Gegen diesen Bescheid, der der Beklagten am 14. Oktober 1953 zugestellt wurde, legte sie am 26. Oktober 1953
Einspruch ein. Der Spruchausschuss beim Arbeitsamt D. gab dem Einspruch mit Bescheid vom 19. Oktober 1953
statt und stellte fest, daß die Beklagte Anspruch auf Arbeitslosenunterstützung für längstens 45 Wochen bei
Vorliegen der übrigen Voraussetzungen habe. In der Entscheidung wurde unter anderem ausgeführt, durch einen
Streik werde das Beschäftigungsverhältnis nicht unterbrochen. Es habe sich um einen von der Gewerkschaft erklärten
und somit nach Artikel 29 der Hessischen Verfassung legalen Streik gehandelt. Der Arbeitgeber habe von dem Recht
zur Kündigung keinen Gebrauch gemacht. Die Sozialpartner hätten nach Streikende vereinbart, daß die
Beschäftigungsverhältnisse nicht als unterbrochen gelten sollten. Aus dem Verhalten der Arbeitgeberin und der
Beklagten, die nach Ende des Streiks ihre Arbeitsbereitschaft wieder zu erkennen gegeben habe, müsse geschlossen
werden, daß trotz zeitweiligen Fehlens der Arbeitsbereitschaft der Beklagten bzw. der Verfügungsmacht der
Arbeitgeberin von einer Unterbrechung des Arbeitsverhältnisses nicht gesprochen werden könne.
Gegen diese Entscheidung des Spruchausschusses hat die Klägerin am 15. Oktober 1953 nach altem Recht
Berufung eingelegt, die ab 1. Januar 1954 gemäß § 215 Absatz 2 und 4 Sozialgerichtsgesetz (SGG) als Klage zu
behandeln war. Zur Begründung hat sie ausgeführt, daß eine Unterbrechung des versicherungspflichtigen
Beschäftigungsverhältnisses eingetreten sei, da die Verfügungsmacht des Arbeitgebers während des Streikes nicht
vorgelegen habe.
Mit Urteil vom 21. Mai 1954 hat das nach § 57 SGG zuständige Sozialgericht D. die Klage gegen die angefochtene
Entscheidung des Spruchausschusses als unbegründet abgewiesen. In der Begründung hat es sich der Entscheidung
des Spruchausschusses angeschlossen und weiter ausgeführt, von einer mangelnden Arbeitsbereitschaft der
Beklagten während des Streikes könne nicht schlechthin die Rede sein. Die Arbeitsbereitschaft habe vielmehr,
allerdings unter gewissen Voraussetzungen, weiterbestanden. Außerdem habe sich die Auffassung des Gesetzgebers
hinsichtlich eines Streiks gegenüber der Zeit, in der die grundsätzlichen Entscheidungen des früheren
Reichsversicherungsamtes (RVA) ergangen seien, geändert. Dies ergebe sich aus § 90 des Gesetzes über
Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung, wonach eine Sperrfrist nicht mehr verhängt werden dürfe, wenn ein
Arbeitnehmer eine durch Ausstand oder Aussperrung freigewordene Arbeit während der Dauer des Ausstandes oder
der Aussperrung ablehne. Diese Änderung der Auffassung müsse sich auch dort auswirken, wo die vom Gesetz offen
gelassene Frage durch die Rechtsprechung eine Klärung zu erfahren hätte. Außerdem sei das Streikrecht im
Grundgesetz garantiert, so daß der Arbeitnehmer erwarten dürfe, daß ihm der Gesetzgeber aus der Ausübung des
Streikrechts keine rechtlichen Nachteile erwachsen lasse. Bei der Berechnung der ununterbrochenen Beschäftigung
sei lediglich die Zeit des Streikes in Abzug zu bringen. Der Beklagten stehe daher Arbeitslosenunterstützung für
insgesamt 45 Wochen zu.
Gegen dieses, am 3. Juli 1954 zugestellte Urteil hat die Klägerin am 19. Juni 1954 Berufung eingelegt. Zur
Begründung hat sie ausgeführt, sozialversicherungsrechtlich werde durch den Streik das Beschäftigungsverhältnis
unterbrochen. Unerheblich sei es, ob der Wille der Streikenden auf eine dauernde Lösung der bestehenden
Arbeitsbeziehung gerichtet sei. Die Unterbrechung könne auch nicht durch eine nachträgliche Vereinbarung der
Vertragsparteien beseitigt werden. Obwohl die grundlegende Entscheidung Nr. 2766 des früheren RVA zur
Krankenversicherung ergangen sei, bestünden doch keine Bedenken, sie auch für die Arbeitslosenversicherung
heranzuziehen, da diese nach § 69 des Gesetzes über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung (AVAVG)
unter anderem auf jener aufbaue und abweichende Sondervorschriften nicht vorhanden seien.
Die Klägerin hat beantragt, die Entscheidung des Sozialgerichtes Darmstadt aufzuheben und die Sache eventuell
zurückzuverweisen.
Die Beklagte hat beantragt, die Berufung als unbegründet zurückzuweisen.
Sie ist der Ansicht, daß sie durch den Streik keine rechtlichen Nachteile erdulden dürfe, da das Streikrecht durch die
Verfassung garantiert sei.
Im übrigen haben die Beteiligten auf ihr Vorbringen in der ersten Instanz Bezug genommen.
Auf die Schriftsätze der Beklagten vom 18. Juni, 8. und 20. Juli sowie 3. August 1953 (vgl. 1, 5, 10 und 16 der Akten)
wird verwiesen.
Entscheidungsgründe:
Mit Wirkung vom 1. August 1953 wurde die Bezugsdauer der Arbeitslosenunterstützung für solche Arbeitslose, die
keine Rente wegen Alter oder Invalidität bzw. Berufsunfähigkeit beziehen und vor der Arbeitslosmeldung mindestens
104 Wochen in ununterbrochener versicherungspflichtiger Beschäftigung gestanden haben, auf 32 Wochen, höchstens
aber 52 Wochen erhöht (§ 99 AVAVG in der Fassung des Gesetzes zur Änderung und Ergänzung von Vorschriften
auf dem Gebiet der Arbeitslosenversicherung und der Arbeitslosenfürsorge vom 24. August 1953 – BGBl. S. 1022 –).
Während für die Grundbezugsdauer von 13 Wochen wenigstens 26 Wochen versicherungspflichtige Beschäftigung die
Voraussetzung bilden (§ 95 AVAVG), muß für die erhöhte Bezugsdauer eine längere "ununterbrochene”
versicherungspflichtige Beschäftigung vorgelegen haben. Ob diese Voraussetzung erfüllt ist, bestimmt sich nach §§
69 ff. AVAVG. Danach gilt als Grundlage das Beschäftigungsverhältnis der Krankenversicherung; eine
Versicherungspflicht in der Arbeitslosenversicherung setzt also eine krankenversicherungspflichtige Beschäftigung
voraus, die nach § 165 Reichsversicherungsordnung (RVO) für die dort genannten Berufe dann vorliegt, wenn die
Beschäftigung gegen Entgelt erfolgt. Den Begriff des Beschäftigungsverhältnisses, welches das der Regel nach auf
dem Arbeitsvertrag beruhende und durch Anstellung oder Arbeitsaufnahme wirksam gewordene Verhältnis zwischen
Arbeitgeber und Arbeitnehmer bedeutet, hatte das frühere Reichsversicherungsamt bereits erläutert und in mehrfachen
Entscheidungen (Nr. 3331, 4449, 4706 u.a.) immer wieder darauf hingewiesen, daß das Beschäftigungsverhältnis
nicht unbedingt gleichbedeutend sei mit wirklicher Arbeitsleistung; es umfasse grundsätzlich auch Zeiten, in denen
vorübergehend tatsächlich keine Arbeit geleistet wurde, sofern der Arbeitgeber die Verfügungsmacht über den
Arbeitnehmer hatte, was im Einzelfall Tatfrage wäre. Der erkennende Senat trug keine Bedenken, diesen für das
abhängige Beschäftigungsverhältnis entwickelten allgemeinen Grundsatz der Sozialversicherung auf den neu
gefaßten § 99 AVAVG anzuwenden. Wenn aber das Vorhandensein der Verfügungsgewalt des Arbeitgebers
unerläßliche Voraussetzung für den Bestand eines Beschäftigungsverhältnisses im Sinne der Sozialversicherung ist,
so erlischt mit ihrem Wegfall, wie das frühere Reichsversicherungsamt in Entscheidung 2766 ausgeführt hat, das
Beschäftigungsverhältnis und damit die Pflichtversicherung. Es bestanden keine Bedenken, diesen für das Recht der
Krankenversicherung entwickelten Grundsatz auch für das Recht der Arbeitslosenversicherung zu übernehmen. Die
Verfügungsgewalt des Arbeitgebers über den Arbeitnehmer erlischt, wenn dieser in Streik tritt. Durch seine Teilnahme
am Streik gibt er eindeutig zu erkennen, daß er sich von der Verfügungsmacht des Arbeitgebers löst und ihr nicht
mehr unterstehen will; Arbeitsbereitschaft besteht nicht mehr. Der Wille des Arbeitnehmers, unter neuen
Arbeitsbedingungen bei dem gleichen Arbeitgeber weiter zu arbeiten, ist nur als Bereitschaft zur Begründung eines
neuen Beschäftigungsverhältnisses zu bewerten. Das einmal erloschene Beschäftigungsverhältnis lebt nicht wieder
auf. Selbst die Wiederaufnahme der Arbeit zu den alten Bedingungen übt keine sozialversicherungsrechtliche
Rückwirkung auf das erloschene Beschäftigungsverhältnis aus.
Wenn in dem erstinstanzlichen Urteil die Ansicht vertreten wurde, trotz zeitweiligen Fehlens der Arbeitsbereitschaft
der Beklagten und der Verfügungsgewalt des Arbeitgebers könne von einer Unterbrechung des Arbeitsverhältnisses
nicht gesprochen werden, weil der Arbeitgeber keinen Gebrauch von seinem Kündigungsrecht gemacht und sich
vielmehr bereit gezeigt habe, das Beschäftigungsverhältnis weiter bestehen zu lassen, außerdem die Beklagte nach
Ende des Streiks ihre Arbeitsbereitschaft zu erkennen gegeben habe, und auch von den Sozialpartnern vereinbart
worden seien, daß die Beschäftigungsverhältnisse nicht als aufgelöst anzusehen seien, so wurde hierbei übersehen,
daß nicht über die Frage zu entscheiden war, ob durch den Streik das privatrechtliche Arbeitsverhältnis beendet
wurde. Das die Grundlage der Versicherungspflicht bildende Beschäftigungsverhältnis beginnt und endet unter
Umständen unabhängig von dem privatrechtlichen Arbeitsverhältnis. Mit dem Wegfall der Verfügungsgewalt des
Arbeitgebers über die Beklagte, das heißt, im Zeitpunkt des Streikbeginns, war jedenfalls das
Beschäftigungsverhältnis im Sinne der Sozialversicherung bereits erloschen. Während der Dauer des Streiks lag
mithin ein versicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis nicht mehr vor. Damit entfiel für die Beklagte die
Voraussetzung des § 99 Absatz 1 Satz 3 AVAVG, nämlich das Vorliegen eines ununterbrochenen
Beschäftigungsverhältnisses.
Die im § 90 AVAVG angeblich zum Ausdruck kommende andersartige Stellungnahme des Gesetzgebers zum Streik
ist in diesem Zusammenhang bedeutungslos. Wenn auch das Streikrecht durch die Verfassung garantiert worden ist,
so setzt sich der streikende Arbeitnehmer doch einem Risiko aus, das der Gesetzgeber keineswegs abschwächen
oder beseitigen wollte; auch aus dem § 90 AVAVG ist nichts Gegenteiliges herauszulesen. Wenn dort die Ablehnung
eines durch Streik freigewordenen Arbeitsplatzes dem Arbeitsuchenden während des Streiks freigestellt wird, so
bedeutet dies nur, daß der Staat in dem Arbeitskampf in keiner Weise zu Gunsten eines Sozialpartners eingreifen will.
Diese Neutralität des Staates findet ihren besonderen Ausdruck noch im § 94 AVAVG, wonach Arbeitslose, deren
Arbeitslosigkeit durch einen inländischen Ausstand oder eine inländische Aussperrung verursacht ist, während des
Ausstandes oder der Aussperrung keine Arbeitslosenunterstützung erhalten. Der Gesetzgeber will den streikenden
Arbeitnehmer nicht vor jeder Schlechterstellung schützen. Dies ergibt sich auch daraus, daß das
Kündigungsschutzgesetz streikenden Arbeitnehmern nicht zu Gute kommt (§ 23 KSchG). Vielmehr kann jedem
Streikenden wirksam gekündigt werden, ohne daß er sich dagegen wehren kann. Das Streikrisiko mit allen etwaigen
rechtlichen Nachteilen hat der Streikende selbst zu tragen.
Schließlich war noch darauf hinzuweisen, daß an Streiktagen kein Lohn gezahlt wird, so daß es nicht nur an der
"Beschäftigung”, sondern vor allem auch am "Entgelt” i.S. des § 165 Reichsversicherungsordnung in Verbindung mit §
69 AVAVG fehlt.
Die Kostenentscheidung folgte aus § 193 Sozialgerichtsgesetz.
Im Hinblick darauf, daß die vorliegende Entscheidung eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung betrifft, und
die angeführte Entscheidung Nr. 2766 des ehemaligen Reichsversicherungsamtes lediglich die Wirkung eines Streiks
auf die Krankenversicherungspflicht zum Gegenstand hatte, hat der Senat die Revision gemäß § 162 Absatz 1 Ziffer
1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zugelassen.
Die Revision ist binnen eines Monats nach Zustellung des Urteils schriftlich beim Bundessozialgericht in Kassel,
Volker Bernadotte-Platz einzulegen und binnen eines weiteren Monats zu begründen. Sie muß das angefochtene
Urteil bezeichnen und einen bestimmten Antrag enthalten. Die Revisionsbegründung muß außerdem die verletzte
Rechtsnorm und, soweit Verfahrensmängel gerügt werden, die Tatsachen und Beweismittel bezeichnen, die den
Mangel ergeben (§ 164 SGG).
Die Revisionsschrift und die Revisionsbegründungschrift müssen von einem vor dem Bundessozialgericht
zugelassenen Prozeßbevollmächtigten unterzeichnet sein. Als Prozeßbevollmächtigte vor dem Bundessozialgericht
sind zugelassen die bei einem deutschen Gericht zugelassenen Rechtsanwälte, Verwaltungsrechtsräte sowie die
Mitglieder und Angestellten von Gewerkschaften, von selbständigen Vereinigungen von Arbeitnehmern mit sozial-
oder berufspolitischer Zwecksetzung, von Vereinigungen von Arbeitgebern und von Vereinigungen der Kriegsopfer,
sofern sie kraft Satzung oder Vollmacht zur Prozeßvertretung befugt sind (§§ 166, 217 SGG).