Urteil des LSG Hessen vom 26.06.1980

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Hessisches Landessozialgericht
Urteil vom 26.06.1980 (rechtskräftig)
Sozialgericht Darmstadt S 6 Kg 1/79
Hessisches Landessozialgericht L 1 Kg 1005/79
I. Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Darmstadt vom 13. Juli 1979 aufgehoben und die
Klage abgewiesen.
II. Auf die Klage wird der Bescheid vom 10. Oktober 1979 aufgehoben.
III. Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten zur Hälfte zu erstatten.
IV. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten über die Gewährung von Kindergeld für die Monate Juli und August 1978.
Der Kläger bezog für seine am 29. November 1956 geborene Tochter B. im Februar 1978 und sodann für den Monat
Juli 1978 Kindergeld gemäß § 2 Abs. 4 a Bundeskindergeldgesetz – BKGG –. Die Tochter B. hatte in der Zeit von
März bis Juli 1978 eine Aushilfsbeschäftigung beim Finanzamt ausgeübt und vom 14. August 1978 an eine
Ausbildung als Flugbegleiterin bei der D. L. durchlaufen; hierfür erhielt sie eine sogenannte Ausbildungsbeihilfe in
Höhe von 324,– DM brutto für den Monat August 1978. Den Antrag des Klägers, auch für seine Tochter B. Kindergeld
für den Monat August 1978 zu gewähren, lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 6. November 1978 mit der
Begründung ab, die Ausbildung als Flugbegleiterin stelle keine die Gewährung von Kindergeld begründende
Ausbildung im Sinne des Bundeskindergeldgesetzes dar. Den Widerspruch wies die Beklagte mit
Widerspruchsbescheid vom 12. Dezember 1978 zurück.
Gegen den Widerspruchsbescheid hat der Kläger am 5. Januar 1979 Klage erhoben. Er hat vorgetragen, für die
Ausbildung sei ausdrücklich Ausbildungsbeihilfe gezahlt worden, die den Betrag von 750,– DM monatlich gemäß § 2
Abs. 2 BKGG nicht überstiegen habe.
Das Sozialgericht Darmstadt hat die Beklagte unter Aufhebung der angefochtenen Bescheide verurteilt, dem Kläger
Kindergeld für die Tochter B. für den Monat August 1978 zu gewähren. Die Berufung hat es zugelassen. Zur
Begründung hat es angeführt, es könne dahinstehen, ob eine Berufsausbildung gemäß § 2 Abs. 2 Nr. 1 BKGG
vorliege, da das Tatbestandsmerkmal der Erwerbstätigkeit und das der Arbeitsvermittlung nicht zur Verfügung stehen
gemäß § 2 Abs. 4 a BKGG erst seit dem 14. August 1978 erfüllt worden sei.
Hätten damit die Voraussetzungen für die Gewährung von Kindergeld bis zum 13. August 1978 vorgelegen, so müsse
für den gesamten Monat August 1978 Kindergeld gewährt werden.
Gegen dieses der Beklagten am 9. August 1979 zugestellte Urteil richtet sich ihre mit Schriftsatz vom 31. August
1979, eingegangen beim Hessischen Landessozialgericht am 5. September 1979, eingelegte Berufung.
Mit dem während des Berufungsverfahrens erteilten Bescheid vom 10. Oktober 1979 entzog die Beklagte das
Kindergeld gemäß § 22 BKGG für den Monat Juli 1978 und forderte den Betrag von 80,– DM gemäß § 13 Nr. 1 BKGG
zurück. Zur Begründung führte sie an, nach den von der Beklagten durchgeführten Ermittlungen habe das Kind B. in
der Zeit vom 1. Juli bis 13. August 1978 sich zwecks Sprachstudien in England aufgehalten; die
Anspruchsvoraussetzung der Verfügbarkeit gemäß § 2 Abs. 4 a BKGG habe deshalb im Monat Juli 1978 nicht
vorgelegen.
Die Beklagte führt zur Begründung der Berufung an, die Vorschrift des § 9 Abs. 1 BKGG, wonach das Kindergeld vom
Beginn des Monats an gewährt werde, in dem die Anspruchsvoraussetzungen erfüllt seien – gegebenenfalls auch nur
an einem Tag des Monats –, sei vorliegend nicht anwendbar. Eine Erwerbstätigkeit gemäß § 2 Abs. 4 BKGG liege nur
dann nicht vor, wenn im Kalendermonat eine Tätigkeit gegen Entgelt an keinem Tage oder nur in unwesentlichem
Umfange ausgeübt werde. Diese bedeute, daß einerseits unter Ausklammerung der Vorschrift des § 9 Abs. 1 BKGG
jeweils auf den Zeitraum von einem Monat abgestellt werden müsse, um feststellen zu können, ob eine
Erwerbstätigkeit vorliege, und andererseits unter dem Gesichtspunkt der Billigkeit eine objektiv feststellbare Grenze
zwischen unwesentlichem und wesentlichem Umfang einer Erwerbstätigkeit festgelegt werden müsse. Dem
entspreche die Verwaltungspraxis der Beklagten, wenn davon ausgegangen werde, daß nur derjenige Erwerbstätiger
im Sinne dieser Vorschrift sei, der mehr als neun Tage oder 63 Stunden monatlich einer Beschäftigung gegen Entgelt
nachgehe. Sei demnach die Tochter B. im August 1978 an mehr als neun Tagen erwerbstätig gewesen, habe der
Kläger insoweit keinen Anspruch auf Kindergeld. Im übrigen habe die Tochter B. im gesamten Monat August wie auch
im Monat Juli der Arbeitsvermittlung nicht zur Verfügung gestanden, da sie sich in England zwecks Sprachstudien
aufgehalten habe.
Die Beklagte beantragt, das Urteil des Sozialgerichts Darmstadt vom 13. Juli 1979 aufzuheben und die Klage
abzuweisen, auch soweit sie sich gegen den Bescheid vom 10. Oktober 1979 richtet.
Der Kläger beantragt, die Berufung zurückzuweisen und den Bescheid vom 10. Oktober 1979 aufzuheben.
Er ist der Auffassung, die Anspruchsvoraussetzungen für die Gewährung von Kindergeld seien auch für den Monat
August 1978 erfüllt, als seine Tochter B. in der Zeit vom 1. bis 13. August 1978 der Arbeitsvermittlung zur Verfügung
gestanden habe; an einem Intensivsprachkurs habe seine Tochter nur in der Zeit vom 31. Juli bis 10. August 1978
teilgenommen. Die Teilnahme sei dem Arbeitsamt B. mitgeteilt worden. Die am 14. August 1978 aufgenommene
Beschäftigung bei der D. L. AG stelle eine Ausbildung dar, da sie der Vorbereitung ihres späteren Berufs gedient
habe. Dem entspreche auch, daß sie als Entlohnung "Ausbildungsbeihilfe” erhalten habe.
Gleichfalls sei die Aufhebung der Gewährung von Kindergeld wie die Rückforderung von Leistungen für den Monat Juli
1978 nicht rechtens, da seine Tochter B. im Juli 1978 der Arbeitsvermittlung zur Verfügung gestanden habe. Im
übrigen enthalte der Bescheid vom 10. Oktober 1979 zahlreiche Fehler; so sei etwa die Entziehung für den Monat Juli
1978 – und nicht wie angegeben Juli 1979 – gewollt. Die Zeit der Abwesenheit seiner Tochter wegen des
Sprachstudiums erstrecke sich nicht auf den Zeitraum vom 1. Juli bis 13. August 1978, sondern allein auf den
Zeitraum vom 31. Juli bis 10. August 1978, wie eine Bescheinigung des Veranstalters belege.
Wegen des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird auf den übrigen Akteninhalt, insbesondere auf den der
Kindergeldakten, der Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist, Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung ist zulässig, denn sie ist form- und fristgerecht eingelegt sowie durch Zulassung statthaft (§§ 151, 150
Nr. 1 des Sozialgerichtsgesetzes – SGG –).
Die Berufung der Beklagten ist auch begründet; das Urteil war aufzuheben und die Klage abzuweisen, soweit
Gegenstand des Rechtsstreits die Gewährung von Kindergeld für den Monat August 1978 war.
Die Gewährung von Kindergeld für die Tochter B. kann nicht auf eine "Berufsausbildung” im Sinne des § 2 Abs. 2 Nr.
1 BKGG gestützt werden. Danach werden Kinder, die das 18. Lebensjahr vollendet haben, nur berücksichtigt, wenn
sie sich in Schul- oder Berufsausbildung befinden. Der Begriff der Berufsausbildung wird im Bundeskindergeldgesetz
nicht näher geregelt. Berufsausbildung ist die Ausbildung für eine später gegen Entgelt auszuübende Berufstätigkeit.
Dahinstehen kann, ob durch den Begriff der Berufsausbildung nur die anerkannten Ausbildungsberufe gemäß § 14
Abs. 2 Nr. 5 des Ausbildungsplatzförderungsgesetzes vom 7. September 1976 (BGBl. I S. 2658) erfaßt werden
sollten. Denn jedenfalls setzt eine Ausbildung voraus, daß sie dem Erwerb von Kenntnissen und Fertigkeiten für einen
in der Zukunft gegen Entgelt auszuübenden Beruf dient und die Zeit und Arbeitskraft des Auszubildenden überwiegend
in Anspruch nimmt. Insoweit haben die Ermittlungen ergeben, daß es sich lediglich um eine Anlernzeit von etwa
sechs Wochen handelte, die allein der Aufnahme einer Beschäftigung bei der D. L. AG und keiner Berufsausbildung
diente; bestätigt wird dies durch den Unterrichtsplan des von der Tochter des Klägers besuchten
Flugbegleitergrundlehrgangs der D. L. AG. Etwas anderes folgt auch nicht aus dem Umstand, daß die D. L. AG der
Tochter des Klägers "Ausbildungsbeihilfe” gewährte. Vielmehr handelt es sich um eine Anlerntätigkeit, die
anschließend vereinbarungsgemäß in ein normales Beschäftigungsverhältnis überging.
Weitergehende Ansprüche kann der Kläger auch nicht aus der Regelung des § 2 Abs. 4 a BKGG herleiten. Kinder, die
das 18., aber noch nicht das 23. Lebensjahr vollendet haben, werden danach bei der Kindergeldgewährung auch
berücksichtigt, wenn sie u.a. nicht erwerbstätig sind und weder Arbeitslosengeld noch Arbeitslosenhilfe beziehen und
der Arbeitsvermittlung zur Verfügung stehen. Danach kann die Tochter B. bei der Kindergeldgewährung nicht
berücksichtigt werden. Denn sie war während des Monats August 1978 ab 14. August 1978 erwerbstätig und befand
sich zudem bis zum 10. August 1978 zur Vorbereitung ihrer Ausbildung als Flugbegleiterin im Ausland. In welchem
Umfange eine Erwerbstätigkeit, die der Kindergeldgewährung nicht entgegensteht, ausgeübt werden kann und
inwieweit der Verwaltungsregelung der Beklagten, wonach als maßgebliche Grenze eine Beschäftigung von neun
Tagen anzunehmen ist, zu folgen ist, kann vorliegend dahinstehen. Während des überwiegenden Teils des Monats
August 1978 übte die Tochter B. jedenfalls eine Erwerbstätigkeit – Anlernzeit – aus und stand zudem zusätzlich zehn
Tage der Arbeitsvermittlung nicht zur Verfügung.
Für die Verfügbarkeit gemäß § 103 Abs. 1 AFG reicht es nicht aus, allein beim Arbeitsamt – noch – als
Arbeitsuchender gemeldet zu sein; der Arbeitsvermittlung steht nämlich nur zur Verfügung, wer eine zumutbare
Beschäftigung unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes ausfüllen kann und darf sowie bereit
ist, jede zumutbare Beschäftigung anzunehmen, die er ausüben kann und darf (§ 103 Abs. 1 AFG i.d.F. vom 23.
Dezember 1976, BGBl. I S. 3845). Damit wurden während des Monats August 1978 nur während drei Tagen die
Voraussetzungen für den Bezug von Kindergeld erfüllt, als nur während dieser Zeit keine Erwerbstätigkeit ausgeübt
wurde und Verfügbarkeit gegeben war. In diesem Falle ist jedoch der Anspruch auf Kindergeld gemäß § 2 Abs. 4 a
BKGG ausgeschlossen.
Weitergehende Rechte kann der Kläger auch nicht aus der Regelung des § 9 Abs. 1 BKGG herleiten; danach wird das
Kindergeld vom Beginn des Monats an gewährt, in dem die Anspruchsvoraussetzungen erfüllt sind. Aus dieser
Vorschrift wird allgemein abgeleitet, daß die Anspruchsvoraussetzungen für den Bezug von Kindergeld jeweils nur an
einem Tag eines Monate erfüllt sein müssen, um den Anspruch für den gesamten Monat zu begründen. Diese
Regelung kann jedoch nicht im Falle des § 2 Abs. 4 a BKGG Anwendung finden. Ist der Anspruch auf Kindergeld
gemäß § 2 Abs. 4 a BKGG ausgeschlossen, so bezieht sich der Ausschlußtatbestand auf den gesamten Monat, in
dem auch nur teilweise eine Erwerbstätigkeit ausgeübt wurde oder die Verfügbarkeit in dem maßgeblichen Umfange
weggefallen ist. Würde diese Auslegung nicht befolgt, wäre es ohne weiteres möglich, die Vorschrift des § 2 Abs. 4 a
BKGG insoweit zu umgehen, als jeweils an einem Tag eines Monats eine Erwerbstätigkeit nicht ausgeübt würde und
an diesem Tage Verfügbarkeit gegeben wäre. Insoweit ist es unzulässig, nur allein auf die Tage der Erwerbstätigkeit
bzw. fehlenden Verfügbarkeit abzustellen. Da die Anspruchsvoraussetzungen jedoch während des gesamten Monats
August 1978 für die Gewährung von Kindergeld nicht gegeben waren, kann auch kein Anspruch aus § 9 Abs. 1 BKGG
hergeleitet werden.
Soweit der Bescheid vom 10. Oktober 1979 streitbefangen ist, war dieser auf die Klage hin aufzuheben. Der Bescheid
ist Gegenstand des anhängigen Rechtsstreits geworden (§§ 153, 96 SGG). Der Bescheid vom 10. Oktober 1979 ist
zur Regelung desselben Dauerschuldverhältnisses ergangen, das auch der angefochtene Bescheid und
Widerspruchsbescheid regelt; er steht zudem im unmittelbaren zeitlichen Zusammenhang mit dem
Kindergeldanspruch für den Monat August 1978, als eine Regelung über den Anspruch des Vormonats getroffen wird.
Dahinstehen kann, inwieweit die Voraussetzungen für den Bezug von Kindergeld tatsächlich für den Monat Juli 1978
weggefallen sind und die Beklagte deshalb berechtigt war, das Kindergeld gemäß § 22 BKGG zu entziehen und
gemäß § 13 Nr. 1 BKGG zurückzufordern. Denn der Bescheid verstößt bereits gegen die Regeln der Anhörung
Beteiligter vor Erlaß eines Verwaltungsaktes gemäß § 34 SGB I. Bevor ein Verwaltungsakt erlassen wird, der in die
Rechte eines Beteiligten eingreift ist diesem Gelegenheit zu geben, sich zu den für die Entscheidung erheblichen
Tatsachen zu äußern. Eine derartige Äußerungsmöglichkeit hat die Beklagte dem Kläger vor Erlaß des Bescheides
nicht eingeräumt; sie hat nicht einmal zu erkennen gegeben, einen Bescheid des getroffenen Inhalts zu erlassen. Eine
während des Klageverfahrens unterbliebene Anhörung ist in Übereinstimmung mit der höchstrichterlichen
Rechtsprechung, der sich der erkennende Senat anschließt, auch nicht nachholbar (vgl. BSG, Urteil vom 28. Juli 1977
– 2 RU 31/77 – BSGE 44, S. 207; Urteil vom 9. März 1978 – 2 RU 105/77 –).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Die Revision hat der Senat zugelassen, weil er der Rechtssache grundsätzliche Bedeutung beigemessen hat.