Urteil des LSG Hessen vom 13.03.2017

LSG Hes: wiedereinsetzung in den vorigen stand, gesetzliche frist, klagefrist, zustellung, absicht, verordnung, ausländer, post, vorverfahren, rechtsmittelfrist

Hessisches Landessozialgericht
Urteil vom 07.12.1977 (rechtskräftig)
Sozialgericht Frankfurt S 3 U 266/76
Hessisches Landessozialgericht L 3 U 805/77
Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 22. April 1977 aufgehoben
und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.
Die Entscheidung über die außergerichtlichen Kosten bleibt der abschließenden Entscheidung vorbehalten.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten um die Gewährung der Dauerrente.
Der im Jahre 1933 geborene Kläger erlitt bei einem Arbeitsanfall am 22. Mai 1974 einen Fersenbeinbruch links. Die
Beklagte gewährte ihm deswegen mit Bescheid vom 5. Mai 1975 eine vorläufige Verletztenrente, zuletzt nach einem
Grad der Minderung der Erwerbsfähigkeit – MdE – um 20 v.H. Da der Kläger inzwischen nach Italien zurückgekehrt
war, erstattete Dr. C. (W.) am 19. Januar 1976 ein zweites Rentengutachten nur nach Aktenlage. In ihm vertrat er die
Auffassung, daß nach den früher erhobenen Befunden bei normalem Verlauf eine weitere Besserung anzunehmen sei,
so daß die MdE jetzt auf Bauer 10 v.H. betrage. Hierauf lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 9. Februar 1976 die
Gewährung einer Bauerrente ab. Gleichzeitig entzog sie die bisher gewahrte vorläufige Verletztenrente zum Ablauf
des Monats März 1976. In dem in deutscher Sprache gefaßten Bescheid belehrte sie den Kläger u.a. darüber, daß er
gegen diesen nach Zustellung entweder innerhalb eines Monats bei ihr Widerspruch einlegen oder innerhalb von drei
Monaten Klage bei dem zuständigen Sozialgericht in Frankfurt am Main, Mainzer Landstr. 48, erheben könne. Den
Bescheid übersandte sie gegen Einschreiben direkt an den Kläger in Italien. Der von ihm unterschriebene Rückschein
wurde von dem Postamt seines Heimatortes am 14. Februar 1976 abgestempelt. Außerdem übersandte die Beklagte
über die deutsch-italienische Verbindungsstelle für die gesetzliche Unfallversicherung im Verhältnis zu Italien am 9.
Februar 1976 ein Doppel des Bescheides an die italienische Verbindungsstelle, dem Istituto Nazionale per
l’Assicurazione contro gli Infortuni sul Lavore in Rom (INAIL). Am 26. März 1976 ging bei der Beklagten ein Schreiben
des Prozeßbevollmächtigten des Klägers vom 24. des Monats ein, mit dem er gegen den Bescheid "Widerspruch”
einlegte. Gleichzeitig übersandte er eine vom Kläger auf ihn ausgestellte und unterschriebene Vollmacht, in der es
heißt, daß er bevollmächtigt werde, den Kläger in seiner Angelegenheit bei der Bau-Berufsgenossenschaft in Frankfurt
am Main bezüglich der Unfallrente zu vertreten und alle Rechts- und Prozeßhandlungen vorzunehmen. Außerdem war
dem Widerspruchsschreiben ein von ihm unter dem 20. März 1976 unterschriebenes und an die Beklagte gerichtetes
Schreiben in italienischer Sprache beigefügt, in dem es u.a. heißt, er "widersetze sich” der Entscheidung der
Beklagten.
Am 11. Mai 1976 ging bei der Beklagten ein weiteres Schreiben des Prozeßbevollmächtigten des Klägers vom
Vortage ein, in dem er darum bat, den Widerspruch vom 24. März 1976 als Klage anzusehen und die Sache an das
Sozialgericht Frankfurt am Main – SG – weiterzuleiten. Dem folgte die Beklagte am 26. Mai 1976. Nachdem hierauf
das SG (S-3/U-173/76) von der Beklagten die Zustimmungserklärung des Klägers zur Weiterleitung des Widerspruchs
als Klage und die entsprechende Entscheidung der Widerspruchsstelle angefordert hatte, teilte die Beklagte mit, daß
ein Vorverfahren bisher nicht stattgefunden habe. Die Widerspruchsfrist sei nicht eingehalten; es werde ein
Widerspruchsbescheid erteilt werden. Am 10. August 1976 übersandte die Beklagte dem SG den
Widerspruchsbescheid vom 29. Juli 1976, wonach der Widerspruch als unzulässig verworfen ist.
Das SG gab die Unfallakten mit Verfügung vom 8. September 1976 zurück und teilte gleichzeitig mit, daß bei ihm kein
Klageverfahren anhängig gewesen sei. Abschrift dieser Verfügung wurde gleichzeitig dem Prozeßbevollmächtigten
des Klägers übersandt.
Der Widerspruchsbescheid, in dem die Anschrift des zuständigen SG in Frankfurt am Main mit "Mainzer Landstr. 49”
angegeben ist, ist von der Beklagten zum Zwecke der Zustellung an den Prozeßbevollmächtigten des Klägers bei der
Post gegen Einschreiben am 30. Juli 1976 aufgeliefert worden.
Mit dem am 9. September 1976 bei dem SG eingegangenen Schriftsatz vom gleichen Tage hat der
Prozeßbevollmächtigte des Klägers geltend gemacht, gegen den Bescheid vom 9. Februar 1976 sei bereits eine
Klage anhängig; von dieser werde der Widerspruchsbescheid erfaßt. Mit Urteil vom 22. April 1977 hat das SG die als
zulässig angesehene Klage aus den Gründen des Widerspruchsbescheides abgewiesen. Wegen der Einzelheiten wird
auf das angefochtene Urteil verwiesen.
Gegen das an ihn am 14. Juli 1977 gegen Empfangsbekenntnis zugestellte Urteil hat der Kläger bei dem Hessischen
Landessozialgericht am 9. August 1977 schriftlich Berufung eingelegt. Er bringt vor: Die Widerspruchsfrist betrage
nach dem Recht der Europäischen Gemeinschaft – EG – drei Monate, so daß mit dem Eingang der
Widerspruchsschrift bei der Beklagten am 26. März 1976 die Frist gewahrt gewesen sei. Folge man dem nicht, so
habe der Widerspruch als Klage angesehen werden müssen. Noch innerhalb der Klagefrist von drei Monaten sei von
ihm nämlich gebeten worden, den Widerspruch als Klage an das SG weiterzuleiten. Im übrigen stehe nach dem
Gutachten des Dr. d. G. (B.) vom 1. März 1976 fest, daß durch die Unfallfolgen noch ein Grad der MdE zwischen 30
bis 33 v.H. hervorgerufen werde.
Der Kläger beantragt, das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 22. April 1977 sowie den Bescheid vom 9.
Februar 1976 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29. Juli 1976 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen,
ihm ab 1. April 1976 Verletztenrente nach einem Grad der MdE um 33 v.H. zu gewähren, hilfsweise, das Verfahren
auszusetzen und zur Auslegung von Artikel 83 der EWG-Verordnung Nr. 3 und Artikel 86 der EG-Verordnung Nr.
1408/71 die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes einzuholen.
Die Beklagte beantragt, die Berufung zurückzuweisen, hilfsweise, das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt am Main
vom 22. April 1977 aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Sozialgericht
zurückzuverweisen, hilfsweise, die Revision zuzulassen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Unfall- und Streitakten verwiesen.
Entscheidungsgründe:
Die statthafte Berufung ist frist- und formgerecht eingelegt und daher zulässig.
Sie ist auch insoweit begründet, als das Urteil aufzuheben und der Rechtsstreit zur neuen Verhandlung und
Entscheidung an das Sozialgericht zurückzuverweisen war, weil dieses zu Unrecht die Klage abgewiesen hat, ohne in
der Sache selbst zu entscheiden (§ 159 Abs. 1 Nr. 1 Sozialgerichtsgesetz – SGG –).
Das SG hat die als zulässig erachtete Klage als unbegründet abgewiesen, gleichwohl aber keine materiell-rechtliche
Entscheidung getroffen. Nach den Entscheidungsstunden seines Urteils geht es davon aus, daß der Kläger den
Widerspruch gegen den Bescheid über die erstmalige (negative) Feststellung der Dauerrente verspätet eingelegt habe
und dieser dadurch verbindlich geworden sei (§ 77 SGG). Die Beklagte sei daher berechtigt gewesen, den
Widerspruch als verspätet zurückzuweisen. Damit hat sich das SG bei der Überprüfung des Sachverhalts lediglich auf
die Einhaltung einer Verfahrensfrist, nämlich der Widerspruchsfrist (§ 84 Abs. 1 SGG), beschränkt, ohne sich mit der
Sache selbst zu befassen. Diese Entscheidung ist inhaltlich in gleicher Weise zu beurteilen, als wenn die Klage durch
ein Prozeßurteil abgewiesen worden wäre.
Da beide Fälle gleich zu behandeln sind, durfte der Senat nach § 159 Abs. 1 Nr. 1 SGG die Sache an das SG
zurückverweisen, weil es – zu Unrecht – eine Sachentscheidung unterlassen hat.
Zunächst ist festzustellen, daß das SG offensichtlich nicht die Rechtzeitigkeit der Klage überprüft, sondern diese
ohne Begründung als "fristgerecht erhoben” bezeichnet hat. Da vorliegend ein Vorverfahren stattgefunden hat, ist
Gegenstand der Klage der Bescheid über die erste Feststellung der Dauerrente in der Gestalt des
Widerspruchsbescheides (§ 95 SGG). Das SG, das wie die Beklagte von einem verspätet erhobenen Widerspruch
ausgegangen ist, hatte daher vorab die Einhaltung der Klagefrist gegen den Widerspruchsbescheid festzustellen. Bei
einer solchen Prüfung hätte es bemerken müssen, daß der Widerspruchsbescheid an den Prozeßbevollmächtigten
des Klägers gegen Einschreiben am 30. Juli 1976 aufgeliefert worden ist und die Klage erst nach Ablauf der Klagefrist
am 9. September 1976 bei dem SG eingegangen war (§§ 87, 63 SGG in Verb. mit §§ 2, 4 des
Verwaltungszustellungsgesetzes des Bundes). Es hatte dann darüber zu entscheiden gehabt, ob dadurch, daß die
Beklagte in dem Widerspruchsbescheid den Sitz des SG in Frankfurt am Main, Mainzer Landstraße, mit der
unrichtigen Hausnummer "49” bezeichnet hat, der Lauf der Rechtsbehelfsfrist bewirkt werden konnte (vgl. dazu
Peters-Sautter-Wolff, Kommentar zur Sozialgerichtsbarkeit, Anm. 3 c zu § 66 SGG mit w. Nachw.; Noack in DÖV
1961, 217; Hess. LSG, Urteil vom 25. April 1973 – L-3/U-47/73 –; 29. September 1974 – L-3/U-164/77; LSG Berlin,
Breithaupt 1955, 217; BSG, Urteil vom 24. Dezember 1966 – 1 RA 3/64 – in E 25, 31; 2. April 1971 – 11 RA 214/70 –
in SozR Nr. 33 zu § 66 SGG). Hierauf kommt es bei der Beurteilung der Zulässigkeit der Klage indessen nicht
entscheidend an. Das SG hat nämlich ferner zu Unrecht das bei der Beklagten am 26. März 1976 eingegangene
Schreiben des Prozeßbevollmächtigten des Klägers vom 24. März 1976 allein als verspäteten Widerspruch
angesehen. Es hat hierzu allerdings zunächst zutreffend festgestellt, daß ein Widerspruch gegen den angefochtenen
Bescheid nicht rechtzeitig erhoben worden sei. Der in deutscher Sprache abgefaßte Bescheid enthält eine den §§ 66,
78, 84, 87 SGG genügende und damit richtige Rechtsmittelbelehrung. Der Kläger ist fehlerfrei darüber belehrt worden,
daß er nach Zustellung des Bescheides wahlweise entweder innerhalb eines Monats bei der Beklagten Widerspruch
einlegen oder innerhalb von drei Monaten Klage bei dem SG erheben könne. Die Anschriften der Beklagten und des
örtlich zuständigen SG sind ebenfalls zutreffend wiedergegeben. Auch liegt eine nicht zu beanstandende, den Lauf der
Rechtsbehelfsfrist bewirkende Zustellung an den Kläger vor. Nach Artikel 75 Abs. 2 der EG-Verordnung Nr. 574/72
vom 21. März 1972 (vgl. Amtsblatt der EG Nr. L 74 vom 27. März 1972, S. 1) teilt der zuständige Versicherungsträger
dem Antragsteller seine Entscheidung unmittelbar mit und übermittelt ein Doppel der Verbindungsstelle des
Mitgliedsstaates, in dessen Gebiet der Antragsteller wohnt oder er stellt sie der Verbindungsstelle des zuständigen
Staates zu. Der unmittelbaren Mitteilung ist genügt, wenn lediglich das Post- und Fernmeldewesen in Anspruch
genommen wird (vgl. EuGH. Urteil vom 18. Februar 1975 in der Rechtssache 66/74 in EuGHE 1975 –2, 147 ff. =
SozR 6041 Art. 56 EWG-V 4 Nr. 1). Diesen Erfordernissen ist hier genügt. Ausweislich der Unfallakten ist der
Bescheid dem Kläger mittels Einschreiben gegen Rückschein zum Zweck der Zustellung am 10. Februar 1976 bei der
Post aufgeliefert worden. Außerdem ist ein Doppel des Bescheides fehlerfrei der zuständigen italienischen
Verbindungsstelle, dem INAIL, übersandt worden. Auf dem Rückschein hat der Kläger durch seine Unterschrift den
Erhalt des Bescheides bestätigt. Da dieser von dem Postamt seines Heimatortes am 14. Februar 1976 abgestempelt
ist, kann bedenkenfrei davon ausgegangen werden, daß der Bescheid ihm auch an diesem Tag ausgeliefert worden
ist. Damit ist auch erwiesen, daß die Rechtsbehelfsfrist spätestens am 15. Februar 1976 zu laufen begonnen hatte.
Danach war die Klagefrist von drei Monaten am 14. Mai 1976 (freitags) und die Widerspruchsfrist von einem Monat
am 15. März 1976 (montags) abgelaufen (§§ 84 Abs. 1, 87 Abs. 1 S. 2 SGG). Entgegen der Auffassung des Klägers
beträgt die Frist zur Einreichung des Widerspruchs nach § 84 Abs. 1 SGG auch dann einen Monat, wenn der
Bescheid außerhalb des Geltungsbereiches des SGG zugestellt wird. Die Vorschriften des SGG über das
Vorverfahren enthalten keine dem § 84 Abs. 1 S. 2 SGG für die Auslandszustellung entsprechende Regelung. Wie
das LSG Berlin (Breithaupt 1974, 632 f.) zutreffend dazu ausgeführt hat, ist diese Regelung des § 84 SGG eindeutig.
Sie entspricht offenbar dem Willen des Gesetzgebers, da dieser trotz mehrfacher Änderungen des SGG keine
Angleichung an die Klagefrist vorgenommen hat. Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus supranationalem oder
zwischenstaatlichem Recht.
Das SG geht aber zu Unrecht davon aus, daß der Kläger sein Wahlrecht darüber, ob er zunächst Widerspruch
einlegen oder sofort Klage erheben wolle, zugunsten des Widerspruchs ausgeübt habe und daran gebunden sei. Zwar
ergibt der Wortlaut der in deutscher Sprache abgefaßten Widerspruchsschrift seines in F. lebenden und ständig
italienische Versicherte vor den Sozialgerichten vertretenden Prozeßbevollmächtigten, daß Widerspruch eingelegt
werden sollte, ferner wurden in der Widerspruchsschrift mehrfach Formulierungen verwendet, die auf eine zunächst
gewollte Widerspruchseinlegung hindeuten und das Schriftstück war außerdem an die Beklagte gerichtet (§ 78 Abs. 2
S. 1, 2. Halbsatz SGG). Das SG hat aber übersehen, daß der Kläger im Zeitpunkt der Widerspruchseinlegung nicht
mehr die Möglichkeit hierzu hatte, da die gesetzliche Frist von einem Monat (§ 84 Abs. 1 SGG) bereits ablaufen war.
Nicht nur das Widerspruchsschreiben seines Prozeßbevollmächtigten vom 24. März 1976 ging bei der Beklagten
verspätet ein, sondern auch sein dieser Schrift beigefügtes, in Italien erst am 20. März 1976 abgefaßtes Schreiben.
Nur binnen der Monatsfrist besteht aber ein echtes Wahlrecht des Antragstellers, das nach dem erklärten Willen und
der Auslegungsregel des § 78 Abs. 2 S. 1, Halbsatz 2 SGG zu beachten ist.
Jedoch ist der – verspätet eingelegte – Widerspruch hier in eine Klage umzudeuten. In der Regel wünscht der
Rechtsuchende nämlich die vorurteilsfreie Prüfung der beanstandeten Entscheidung, ohne daß für ihn der dafür
einzuschlagende Weg von Bedeutung ist. Deshalb kann hier die Klageabsicht ohne weitere Rückfrage unterstellt
werden. Bei verständiger Würdigung kann nicht zweifelhaft sein, daß der Kläger seine Rechtsverfolgung nicht wegen
der Versäumung der Widerspruchsfrist scheitern lassen wollte. Aus diesem Grunde ist es gerechtfertigt, auch ohne
Befragung des Klägers seinen Widerspruch in die Klage umzudeuten. Ein solches Vorgehen entspricht dem
anerkannten Grundsatz, daß ein Verkennen der Verfahrensregeln möglichst nicht zu einem Verlust an Rechtsschutz
führen soll (vgl. Urteil des BSG vom 31.1.1974, 4 RJ 167/73 in SozR 1500 Nr. 1 zu § 92 SGG). Im Leitsatz dieses
Urteils heißt es zwar, der Widerspruch könne dann in eine Klage umgedeutet werden, wenn der Beteiligte erkennbar
die Absicht verfolge, eine Änderung der Verwaltungsentscheidung durch eine weisungsfreie Stelle zu erreichen. Aus
dem Urteil selbst geht aber nicht hervor, daß das BSG die Auffassung vertritt, es müsse ausdrücklich die Absicht
geäußert worden sein, die Entscheidung einer weisungsfreien Stelle herbeizuführen. In dem dort entschiedenen Fall
hatte der Kläger auch nur "Widerspruch zur Landesversicherungsanstalt” eingelegt und eine darüber hinausgehende
Absicht nicht zu erkennen gegeben. Auch im vorliegenden Falle ist eine solche Absicht aus dem
Widerspruchsschreiben des Prozeßbevollmächtigten des Klägers nicht herzuleiten. Ob sie dem beigefügten Schreiben
des Klägers vom 20. März 1976 entnommen werden kann, ist zumindest zweifelhaft, weil dort zwar nicht der
Ausdruck l’opposizione (Widerspruch), aber auch nicht der Ausdruck ricorso (Klage) verwendet worden ist (vgl.
Rundschreiben des Hauptverbandes der gewerblichen Berufsgenossenschaften vom 27. November 1974 – VB 217/74
– und 11. August 1977 – VB 111/77). Er äußerte sich nur dahin, daß er sich der Entscheidung der Beklagten
widersetze (si oppone alla decisione). Jedoch ist in dem nach Ablauf der Widerspruchsfrist bei der Beklagten
eingegangenen Widerspruchsschreiben die Erhebung der Klage zu erblicken, weil sich aus ihm ergibt, daß der Kläger
eine Überprüfung des angefochtenen Bescheides wünschte und er diesen Zweck nur noch dadurch erreichen konnte,
daß er Klage erhob. Etwas anderes würde nur gelten, wenn der Kläger zum Ausdruck gebracht hätte, daß er lediglich
eine Überprüfung des Bescheides durch die Beklagte bzw. deren Widerspruchsstelle, nicht aber durch die Gerichte
der Sozialgerichtsbarkeit, begehrte. Enthält ein Rechtsbehelfsschreiben keine solche Einschränkung, so ist es stets
dahin auszulegen, daß der zulässige Rechtsbehelf (Widerspruch oder Klage) eingelegt werden soll. Im übrigen hat der
Prozeßbevollmächtigte des Klägers in seinem an die Beklagte gerichteten Schreiben vom 10. Mai 1976 gebeten, den
Widerspruch als Klage anzusehen und die Angelegenheit den SG zu übergeben. Auch damit hat er eindeutig zum
Ausdruck gebracht, daß er eine Entscheidung durch das SG begehrt. Das SG hätte deshalb nach Vorlage der Akten
durch die Beklagte am 4. Juni 1976 in der Sache selbst entscheiden und den später ergangenen
Widerspruchsbescheid zum Gegenstand des Verfahrens machen müssen.
Bei dieser Rechtslage brauchte der Senat nicht darüber zu entscheiden, ob darin, daß das SGG für den Widerspruch
anders als für die Klage bei Auslandszustellung aus nicht erkennbaren Gründen nur die kurze Rechtsmittelfrist von
einem Monat vorsieht (§ 84 Abs. 1 SGG einerseits und §§ 87 Abs. 1 S. 2, 153 Abs. 1, 165 SGG andererseits), ein
Verstoß gegen Bestimmungen des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland, z.B. Artikel 3, 19, 20 GG,
liegt. Ferner kann es offen bleiben, ob deshalb, weil der Bescheid über die Feststellung der Dauerrente einschließlich
der Rechtsbehelfsbelehrung dem Kläger lediglich in deutscher Sprache zugestellt worden ist, entweder keine
Rechtsmittelfrist zu laufen begann oder ihm unter Berücksichtigung seines Auslandsaufenthaltes und der Unkenntnis
der deutschen Sprache Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren gewesen wäre. Soweit ersichtlich, hat
das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) bisher allein in einem Fall, in dem wegen des Vorwurfs des Betruges ein
Strafbefehl ergangen war, ausgesprochen, daß dieser bei einem der deutschen Sprache nicht hinreichend mächtigen
Ausländer bezüglich der Belehrung über den Rechtsbehelf in seiner Landessprache abzufassen sei (vgl. BVerfG,
Beschluss vom 10. Juni 1976 – 2 BvR 1074/74 – in E 40, 95 ff.). Demgegenüber hat der 2. Senat des Hessischen
Landessozialgerichts am 21. September 1976 (L-2/J-2/76; mitgeteilt vom Hauptverband der gewerblichen
Berufsgenossenschaften im Rundschreiben VB 64/77) entschieden, daß die Rechtsverhältnisse im Bußgeld- oder
Strafprozeßrecht wesentlich anders geartet seien als im Sozialrecht und hier nicht angewendet werden konnten. Für
diese Auffassung kann sprechen, daß die Amts- und Gerichtssprache deutsch ist (vgl. BFH, Urteil vom 9. März 1976
VII B 102/75 – in NJW 1976, 1335; BVerwG Buchholz 310, § 58 VwGO Nr. 27; OLG Hamm JMBl. NRW 1974, 192;
a.A. VG Kassel NJW 1977, 543 sowie Huber NJW 1976 S. 1008, 1010; vgl. außerdem § 184
Gerichtsverfassungsgesetz und die §§ 23 des Verwaltungsverfahrensgesetzes des Bundes sowie des Hessischen
Verwaltungsverfahrensgesetzes). Ferner betrifft die obengenannte Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes
lediglich einen Fall, in dem die kurze Rechtsbehelfsfrist von einer Woche gilt (§ 409 Abs. 1 S. 1 StPO). Auch in dem
sonstigen Bußgeld- oder Strafverfahrensrecht, das zudem zum Teil im Rahmen einer Massenverwaltung von einer nur
summarischen Überprüfung der Tatbestandsvoraussetzungen getragen ist, gelten die kurzen Rechtsbehelfsfristen von
einer Woche (vgl. §§ 311 Abs. 2 S. 1, 314 Abs. 1, 341 Abs. 1 StPO, §§ 64 und 79 Abs. 3 und 4 des Gesetzes über
Ordnungswidrigkeiten). Da es sich bei diesen Verfahren um Eingriffe in die Integrität des jeweils Betroffenen handelt,
die zudem teilweise auch den Vorwurf enthalten, kriminell gehandelt zu haben, kann es gerechtfertigt erscheinen,
insoweit ausnahmsweise zu verlangen, daß einem Ausländer wenigstens die Rechtsbehelfsbelehrung in seiner
Landessprache erteilt wird, wobei nach der Auffassung des Bundesverfassungsgerichts auch noch dahin zu
unterscheiden sein soll, ob dieser Ausländer der deutschen Sprache entweder hinreichend oder nicht hinreichend
mächtig ist. Ob dies auch für das Verfahren nach dem SGG zu gelten hat, brauchte der Senat aber aus den oben
genannten Gründen nicht zu entscheiden.
Bei der erneuten Verhandlung und Entscheidung wird das SG zu beachten haben, daß es sich bei dem angefochtenen
Verwaltungsakt nicht um einen Rentenentziehungsbescheid handelt, wie es in seinen Entscheidungsgründen
angenommen hat. Die Beklagte hat vielmehr nach § 1585 Abs. 2 Reichsversicherungsordnung vor Ablauf des 2.
Unfalljahres erstmalig (negativ) die Dauerrente festgestellt, wofür keine Änderung der Verhältnisse erforderlich ist (vgl.
Lauterbach, Unfallversicherung, 3. Auflage, Anm. 4 c zu § 622 RVO mit w.Nachw.). Unter Beachtung dessen wird das
SG zu entscheiden haben, ob mit Ablauf des Monats März 1976 die Unfallfolgen keinen Grad der MdE um wenigstens
20 v.H. mehr bedingen, wie in dem angefochtenen Bescheid angenommen wird.
Die Nebenentscheidungen beruhen auf §§ 193, 160 SGG.