Urteil des LSG Hessen vom 13.12.2005

LSG Hes: stationäre behandlung, ärztliche behandlung, bundesamt für migration, klinik, psychotherapeutische behandlung, ambulante behandlung, stadt, gewalt, psychotherapie, hauptsache

Hessisches Landessozialgericht
Beschluss vom 13.12.2005 (rechtskräftig)
Sozialgericht Kassel S 22 AY 18/05 ER
Hessisches Landessozialgericht L 9 AY 3/05 ER
I. Die Beschwerde der Antragstellerin gegen den Beschluss des Sozialgerichts Kassel vom 1. September 2005 wird
zurückgewiesen.
II. Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.
Gründe:
I.
Es geht in dem einstweiligen Rechtsschutzverfahren um die von der Antragstellerin begehrte Übernahme der Kosten
für eine dreiwöchige stationäre psychotherapeutische Behandlung. Die 1971 geborene Antragstellerin ist türkische
Staatsangehörige. Sie reiste im September 2004 in die Bundesrepublik Deutschland ein, beantragte die Anerkennung
als Asylberechtigte und wurde der Antragsgegnerin zugewiesen. Sie verfügt seither über eine Aufenthaltsgestattung.
Die Antragsgegnerin gewährt der Antragstellerin und ihren drei Kindern B. (geb. 1993), C. (geb. 1996) und D. (geb.
1998) Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG). Ausweislich einer Bescheinigung vom 6.
Dezember 2004 wohnt die Antragstellerin mit ihren Kindern im Frauenhaus A-Stadt (wegen Bedrohung durch den
getrennt lebenden Ehemann). Vom 27. Januar 2005 bis zum 4. August 2005 war die Antragstellerin in ambulanter
Behandlung in der Sprechstunde für interkulturelle Psychosomatik der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie E-
Stadt-Süd. In der Stellungnahme vom 23. September 2005 wird ausgeführt, dass bei der Antragstellerin eine schwere
depressive Störung (ICD 10: F32.2) und Verdacht auf eine posttraumatische Belastungsstörung (F43.2) vorlägen und
dringend eine stationäre Behandlung empfohlen worden sei, die jedoch vom zuständigen Gesundheitsamt abgelehnt
worden sei. Daraufhin seien die ambulanten Gespräche eingestellt worden, da sie die Verantwortung nicht hätten
übernehmen können, zumal die ambulanten Gespräche nur niedrig frequentiert und ohnehin nur unzureichend gewesen
seien. Mit Datum vom 30. März 2005 verordnete der Facharzt für Allgemeinmedizin, Psychotherapie, Dr. F., A-Stadt,
eine stationäre Behandlung in der G-klinik (Diagnose F43.1). Ausweislich eines Kostenvoranschlages der G-klinik
würden für die Antragstellerin 21 x 113,- EUR und für die Kinder 21 x 59,- EUR x 3 Kinder an Kosten entstehen.
Sinngemäß beantragte die Antragstellerin am 5. April 2005 die Übernahme der Kosten für eine psychotherapeutische
stationäre Behandlung in der G-klinik einschließlich der Kosten für die dortige Unterbringung ihrer Kinder. Mit Bescheid
vom 1. Juni 2005 lehnte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge den Antrag der Antragstellerin und ihrer drei
Kinder auf Anerkennung als Asylberechtigte ab. Das Ärzteteam der Sozialmedizinischen Abteilung sah sich nicht in
der Lage, der Empfehlung der Klinik in E-Stadt zu folgen. Zur Begründung wurde ausgeführt, dass zunächst der
Aufenthaltsstatus geklärt werde, bevor eine stationäre Behandlung begonnen werde. Problematisch sei auch, dass die
Antragstellerin nach einer stationären Behandlung wieder ins Frauenhaus zurückgehen müsse und immer noch nicht
wisse, ob sie in der BRD bleiben könne. Problematisch sei, dass sie die deutsche Sprache nicht beherrsche und nach
der Therapie in eine unveränderte, ihr unverständliche Umgebung zurück müsse. Vorrang habe die Klärung der
sozialen Situation und Beschaffung einer Wohnung für sie und ihre drei Kinder. Mit Bescheid vom 19. Juli 2005 lehnte
die Antragsgegnerin den streitbefangenen Antrag ab unter Hinweis darauf, dass nach § 4 AsylbLG nur die
unaufschiebbar erforderlichen ärztlichen Behandlungen zu gewähren seien. Sobald das Asylverfahren abgeschlossen
sei und sie eine Aufenthaltserlaubnis erhalte, könne über ihren Antrag erneut entschieden werden. Hiergegen hat die
Antragstellerin am 17. August 2005 Widerspruch eingelegt mit der Begründung, es sei sehr wichtig, dass sie eine
muttersprachliche Therapie erhalte. Über den Widerspruch wurde bisher – soweit ersichtlich – nicht entschieden.
Am 17. August 2005 hat die Antragstellerin einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen "Verfügung" bei dem
Sozialgericht Kassel gestellt und u. a. vorgetragen, Ende Juni 2005 sei ein Brandanschlag auf das Frauenhaus verübt
worden, was sie sehr aufgewühlt und ihre psychische Situation verschlechtert habe. Sie habe in der Türkei viel Gewalt
– auch sexuelle Gewalt und Folter erlebt und habe es sehr schwer, mit den Folgen dieser Gewalt und der Gewalt ihres
Mannes zu leben. Die Aussicht darauf, bald muttersprachlich behandelt zu werden, sei eine wichtige Stütze gewesen.
Die Antragsgegnerin hat vorgetragen, gemäß § 4 Abs. 1 AsylbLG bestehe bei akuten Erkrankungen ein Anspruch auf
die erforderliche ärztliche Behandlung. Es müsse sich also um einen akuten, unaufschiebbaren Behandlungsbedarf
handeln. Chronische Erkrankungen würden damit ausgeschlossen. Behandlungen längerfristiger Natur, die wegen der
voraussichtlich kurzen Aufenthaltsdauer im Bundesgebiet nicht abgeschlossen werden könnten, könnten keine
Leistungspflicht auslösen. Mit Beschluss vom 1. September 2005 hat das Sozialgericht Kassel den Antrag im
Wesentlichen mit der Begründung abgelehnt, es liege weder ein Anordnungsanspruch noch ein Anordnungsgrund vor.
Zwar fielen unter § 4 Abs. 1 AsylbLG auch akute Krankheitszustände, wie sie im Falle einer chronischen Erkrankung
auftreten könnten, nicht aber die chronische Erkrankung selbst (OVG NRW 20.8.2003 – xxxxx). Das Vorliegen einer
akuten Erkrankung habe nicht glaubhaft gemacht werden können, so dass insoweit auch keine weitergehenden
Ermittlungen hätten angestellt werden müssen. Es sei auch nicht glaubhaft gemacht worden, dass ein
Schmerzzustand bestehen würde, der eine ärztliche Behandlung erforderlich mache. Da bereits die
Anspruchsvoraussetzungen nach § 4 Abs. 1 AsylbLG nicht vorlägen, sei auch nicht mehr die Frage zu entscheiden
gewesen, ob die begehrte Therapie überhaupt vom Anspruchsinhalt des § 4 Abs. 1 AsylbLG gedeckt werde. Danach
sei nämlich nur eine erforderliche Behandlung, nicht jedoch eine optimale Versorgung zu übernehmen. Ein Anspruch
ergebe sich auch nicht aus § 6 AsylbLG, da nicht glaubhaft gemacht sei, dass die begehrte Krankenhausbehandlung
zur Sicherung der Gesundheit unerlässlich sei. Die bloße Behauptung der Antragstellerin reiche nicht. Es hätte ihr
vielmehr oblegen, durch die Vorlage aktueller und aussagekräftiger ärztlicher Stellungnahmen die Überzeugung zu
vermitteln, dass ihre Behandlung keinen Aufschub dulde (OVG NRW 29.5.2000 – yyyyy).
Hiergegen hat die Antragstellerin am 16. September 2005 Beschwerde eingelegt, der das Sozialgericht nicht
abgeholfen hat (19. September 2005). Die Antragstellerin trägt vor, eine angemessene Behandlung ihrer Krankheit sei
für sie lebenswichtig. Im angefochtenen Beschluss sei begründet worden, dass sie nicht nachgewiesen habe, wie
notwendig die Behandlung für sie sei und es sei keine aussagekräftige ärztliche Stellungnahme vorgelegt worden. Ihre
behandelnde Ärztin sei bis Mitte September in Urlaub, so dass sie eine Bescheinigung nachreichen werde. Nunmehr
sei sie ohne therapeutische Unterstützung und Begleitung, was ihre Situation noch mehr erschwere. Die
Antragstellerin hat eine fachärztliche Stellungnahme der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie E-Stadt-Süd vom
23. September 2005 vorgelegt.
Die Antragstellerin beantragt sinngemäß, den Beschluss des Sozialgerichts Kassel vom 1. September 2005
aufzuheben und die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, vorläufig die Kosten einer
stationären psychotherapeutischen Behandlung in der G-klinik zu übernehmen.
Die Antragsgegnerin beantragt, die Beschwerde zurückzuweisen.
Die Antragsgegnerin bezieht sich auf den angefochtenen Beschluss.
Wegen des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird ergänzend auf den Inhalt der Gerichts- und Verwaltungsakten der
Antragsgegnerin Bezug genommen. II.
Die Beschwerde der Antragstellerin ist zulässig, § 172 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG), insbesondere statthaft,
sowie form- und fristgerecht eingelegt worden, § 173 SGG. Die Beschwerde ist jedoch nicht begründet. Der
angefochtene Beschluss des Sozialgerichtes Kassel vom 1. September 2005 ist nicht rechtswidrig und war deshalb
nicht aufzuheben. Nach Auffassung des erkennenden Senates liegen die Voraussetzungen zum Erlass einer
einstweiligen Anordnung im Sinne der Verpflichtung des Antragsgegners zur vorläufigen Gewährung der begehrten
Leistungen gemäß §§ 4 und 6 AsylbLG nicht vor.
Nach § 86b Abs. 2 SGG kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den
Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch die Veränderung des bestehenden Zustandes die
Verwirklichung eines Rechtes des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Eine einstweilige
Anordnung kann auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis getroffen
werden, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint (sog.
Regelungsanordnung). Nach der herrschenden Meinung (die sich u. a. auf die in § 86b Abs. 2 Satz 4 und der
vergleichbaren Regelung in § 123 Abs. 3 Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO - ausgesprochene Verweisung auf die
§§ 920 ff Zivilprozessordnung – ZPO – stützen kann, vgl. Meyer-Ladewig, SGG, 8. Aufl., § 86b, RdNr. 26 ff.) setzt der
Erlass einer einstweiligen Anordnung auch in der Form der Regelungsanordnung sowohl das Vorliegen eines
Anordnungsgrundes als auch eines Anordnungsanspruchs voraus. Dabei darf grundsätzlich mit der einstweiligen
Anordnung nicht die Hauptsache vorweggenommen werden. Als Anordnungsanspruch muss eine Rechtsposition
gegeben sein, deren Durchsetzung im Hauptsacheverfahren beabsichtigt ist und möglich erscheint. Wenn eine Klage
offensichtlich unzulässig oder unbegründet ist, ist eine geschützte Rechtsposition nicht vorhanden (vgl. Meyer-
Ladewig § 86b RdNr. 29). Es muss zumindest glaubhaft gemacht werden, dass ein solcher Anspruch dem Grunde
nach besteht. Daneben muss ebenfalls glaubhaft gemacht werden, dass wesentliche Nachteile drohen, wenn eine
vorläufige Regelung unterbleibt (Anordnungsgrund), es für den Betroffenen als nicht zumutbar erscheint, eine
Entscheidung in der Hauptsache abzuwarten (vgl. Meyer-Ladewig § 86b RdNrn. 27a, 28). Dabei stehen
Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund nicht beziehungslos nebeneinander, sondern bilden ein voneinander
abhängiges bewegliches System (vgl. Meyer-Ladewig § 86b RdNr. 27 m.w.N.). Im vorliegenden Verfahren spricht
derzeit in Bezug auf das Vorliegen einer Verpflichtung der Antragsgegnerin weniger für das Vorliegen eines
Anordnungsanspruchs als dagegen. Hinsichtlich der Unterscheidung zwischen den von der Antragsgegnerin zu
übernehmenden Behandlungskosten für akute Erkrankungen und Schmerzzustände gemäß § 4 Abs. 1 AsylbLG bzw.
der für die Gesundheit unerlässlichen Leistungen gemäß § 6 AsylbLG wird zur Vermeidung von Wiederholungen
Bezug genommen auf die Gründe des angefochtenen Beschlusses, § 153 Abs. 2 SGG analog. Ergänzend ist darauf
hinzuweisen, dass auch aus der Stellungnahme der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie E-Stadt-Süd vom 23.
September 2005 nicht ersichtlich wird, weshalb die Antragstellerin zur Behandlung der akuten
Krankheitserscheinungen einer stationären Behandlung bedarf. In der Stellungnahme wird vor allem beanstandet, dass
die Antragstellerin gegenwärtig weder ambulant noch stationär behandelt werde und dies nicht zu verantworten sei.
Ferner ist ersichtlich, dass die Antragstellerin in dieser Einrichtung bis zur letzten Sitzung am 4. August 2005 lediglich
niederfrequent behandelt wurde. Es ist deshalb nicht einsichtig, weshalb nicht in erster Linie eine wesentliche
Erhöhung der Behandlungsfrequenz angestrebt wurde. Nach den insoweit überzeugenden Bewertungen des
Ärzteteams der Sozialmedizinischen Abteilung vom 13. Juni 2005 dürfte eine isolierte stationäre Behandlung mit
anschließender Rückkehr in das Frauenhaus die derzeitigen Probleme der Antragstellerin nicht lösen. Vielmehr
bedürfte es zunächst einer grundsätzlichen Klärung und Veränderung ihrer sozialen Situation. Inwieweit hierbei eine
begleitende ärztliche/psychotherapeutische ambulante Behandlung erforderlich ist und durch wen sie konkret und in
welcher Form erbracht werden kann, ist nicht Gegenstand dieses Verfahrens. Immerhin fällt auf, dass der in A-Stadt
ansässige Facharzt für Allgemeinmedizin und Psychotherapeut Dr. F. der Antragstellerin die Verordnung zur
stationären Behandlung in der G-klinik ausgestellt hat. Wenn er dies in verantwortlicher Weise getan hat, muss er sich
zunächst mit der Antragstellerin verständigt und die entsprechende Behandlungsbedürftigkeit festgestellt haben.
Damit wäre gegebenenfalls auch ein Ansatz gegeben, in welcher Weise die akute Erkrankung der Antragstellerin
angegangen werden kann und die für die Gesundheit unerlässlichen Behandlungen ambulant durchgeführt werden
können. Auch insoweit wird allerdings ein Ausschluss der Behandlung von chronischen Erkrankungen zu beachten
sein.
Am Vorliegen eines Anordnungsgrundes hat der erkennende Senat beachtliche Zweifel, die auf den o. a. fehlenden
Gründen für eine umgehend erforderliche stationäre Behandlung beruhen und verstärkt werden im Hinblick auf die
fehlende Eilbedürftigkeit unter Berücksichtigung von noch nicht erkennbar ausgeschöpften Behandlungsalternativen.
Die Kostenentscheidung folgt aus der entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 177 SGG).