Urteil des LSG Hessen vom 13.03.2017

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Hessisches Landessozialgericht
Urteil vom 29.05.1974 (rechtskräftig)
Sozialgericht Kassel S 5 Ar 60/72
Hessisches Landessozialgericht L 1 Ar 78/73
Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Kassel vom 5. Dezember 1972 aufgehoben und die
Klage abgewiesen.
Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten darüber, ob die Beklagte berechtigt war, die Entscheidung über die Bewilligung von
Arbeitslosengeld an den Kläger ab 1. Januar 1972 aufzuheben.
Der im Jahre 1928 geborene Kläger, der jugoslawischer Staatsangehöriger ist, war vom 1. Oktober 1971 bis zum 23.
Dezember 1971 bei dem Forstunternehmen B. Sch., das seinen Sitz in K. hat, beschäftigt und als Waldarbeiter in B.
eingesetzt. Er war von seinem Arbeitgeber in K., wo er keine Wohnung hatte, unter der Anschrift des Arbeitgebers
polizeilich gemeldet worden, nicht aber in B. wo er auf Veranlassung seiner Firma für die Zeit der Arbeitsleistung in
dem Hotel untergebracht war.
Am 27. Dezember 1971 meldete sich der Kläger bei dem Arbeitsamt B., Nebenstelle H., arbeitslos und beantragte die
Bewilligung von Arbeitslosengeld. Als Anschrift gab er in dem Antrag B., an. Der Kläger zog am 31. Dezember 1971
aus dem Hotel aus und begab sich nach seinen Angaben auf eine Reise, um die für den Antrag auf Arbeitslosengeld
erforderlichen Arbeitsbescheinigungen seiner früheren Arbeitgeber zu sammeln. Diese Arbeitgeber waren von
Dezember 1970 bis April 1971 der Forstverband S. e. V. in B. von April 1971 bis September 1971 der Forstverband K.
e. V. in K. und danach das Forstunternehmen B. Sch. in K ... Außerdem hielt sich der Kläger nach seinen Angaben
im Januar 1972 bei seinem Bruder in M. bei F. auf. Am 8. Mai 1972 nahm er bei der Firma St. in D. eine neue
Beschäftigung auf.
Nachdem der Inhaber des Hotels , der Beklagten mitgeteilt hatte, der Kläger habe bis zum 31. Dezember 1971 bei ihm
gewohnt, sei also am 31. Dezember 1971 ausgezogen und mit unbekanntem Ziel abgereist, bewilligte die Beklagte
dem Kläger ab 24. Dezember 1971 für vorläufig 120 Wochentage Arbeitslosengeld, hob aber durch Bescheid vom 28.
Juli 1972 zugleich ihre Entscheidung ab 1. Januar 1972 auf. Zur Begründung führte sie aus, der Kläger habe den
Wechsel seines Aufenthaltsortes weder der zuständigen Dienststelle in H. angezeigt noch nach einer Erklärung des
Hotelinhabers H. eine Nachricht bzw. seine Adresse hinterlassen. Dadurch sei er nicht erreichbar gewesen und habe
der Arbeitsvermittlung nicht zur Verfügung gestanden.
Der Widerspruch des Klägers, in welchem er vortrug, im Hotel sei seine Anschrift bekannt gewesen und er habe seine
Adresse Herrn K., dem Vertreter des nichtanwesenden Inhabers H. hinterlassen, blieb erfolglos
(Widerspruchsbescheid vom 2. August 1972).
Mit seiner Klage begehrt der Kläger, die Bescheide der Beklagten aufzuheben. Zur Begründung führte er aus, seine
Adresse bei der Fa. Sch. in K. sei dem Arbeitsamt bekannt gewesen. Zwischenzeitlich habe er sich bei seinem
Bruder in M. aufgehalten, weil er durch die Nichtzahlung des Arbeitslosengeldes kein Geld gehabt habe.
Durch Urteil vom 5. Dezember 1972 gab das Sozialgericht Kassel der Klage statt. In den Entscheidungsgründen
führte es aus, der Kläger habe auch über den 31. Dezember 1971 hinaus der Arbeitsvermittlung zur Verfügung
gestanden. Es sei ihm nicht zu widerlegen, daß er nach wie vor in der Lage und bereit gewesen sei, eine ihm von den
Arbeitsamt H. angebotene Arbeit in Bezirk dieses Arbeitsamtes anzunehmen. Erst durch ein Arbeitsangebot des
Arbeitsamtes bzw. durch eine Einladung zur Arbeitsberatung hätte festgestellt werden können, ob die
Voraussetzungen der Verfügbarkeit für die Arbeitsvermittlung möglicherweise nicht mehr vorgelegen hätten. Es sei
nicht auszuschließen, daß sich der Aufenthaltsort des Klägers in einem solchen Falle hätte feststellen lassen. Das
Verlassen des bisherigen Aufenthaltsortes sei nicht ursächlich dafür, daß der Kläger nicht in Arbeit vermittelt werden
konnte.
Gegen das ihr am 20. Dezember 1972 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 19. Januar 1973 schriftlich beim
Hessischen Landessozialgericht Berufung eingelegt. Zur Begründung trägt sie vor, der Gesetzgeber sehe in dem
Arbeitslosengeld eine sekundäre Leistung für den Fall, daß eine Vermittlung in Arbeit nicht möglich sei. Eine etwaige
Vermittlung in Arbeit sei aber dann nicht möglich, wenn sich der Arbeitslose der Verfügungsgewalt des Arbeitsamtes
entziehe. Das könne dadurch geschehen, daß der Arbeitslose mit unbekanntem Aufenthalt verziehe. Wenn jemand
seinen Wohn- oder Aufenthaltsort mit unbekanntem Ziel verlasse, stehe er der Arbeitsvermittlung objektiv nicht zur
Verfügung; denn er "könne” während seiner Abwesenheit einem etwaigen Arbeitsangebot nicht Folgeleisten und damit
auch keine Beschäftigung unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes aufnehmen. Für den
Kläger habe eine spezielle Verpflichtung zur Mitteilung aller Änderungen in den Verhältnissen, die für den
Leistungsanspruch maßgebend sind, bestanden. Dazu habe auch der Wechsel des Wohn- oder Aufenthaltsortes
gehört. Diese Verpflichtung sei dem Kläger bekannt gewesen. Das Unterlassen der Anzeige gehe zu seinen Lasten.
Die Behauptung des Klägers, die Anschrift in O. hinterlassen zu haben, werde durch die Erklärung des Hotelinhabers
H. widerlegt. Wenn auch die Firma Sch. die Anschrift des Klägers gewußt hab, so brauchte das Arbeitsamt dies nicht
zu erkennen; denn Sch. war dem Arbeitsamt nur als einer der ehemaligen Arbeitgeber des Klägers bekannt. Bei dieser
Sachlage sei es ausgeschlossen gewesen, daß sich der Aufenthaltsort des Klägers im Falle eines Arbeitsangebotes
hätte ermitteln lassen. Für die Frage der Verfügbarkeit komme es auch nicht darauf an, daß durch ein Arbeitsangebot
oder durch die Einladung zur Arbeitsberatung hätte festgestellt werden können, ob Verfügbarkeit weiterhin gegeben
sei. Entscheidend sei, ob die Arbeitsvermittlung objektiv in der Lage gewesen wäre, dem Kläger ein Arbeitsangebot zu
unterbreiten. Das sei wegen des unbekannten Aufenthalts des Klägers nicht möglich gewesen. Sollte der Kläger an
seinen polizeilichen Wohnsitz nach K. zurückgekehrt sein, so wäre der Bewilligungsbescheid des Arbeitsamtes B.
auch wegen fehlender Zuständigkeit dieses Arbeitsamtes aufzuheben. Der Kläger hätte sich bei dem für ihn
zuständigen Arbeitsamt K. unverzüglich arbeitslos melden müssen.
Die Beklagte beantragt, das Urteil des Sozialgerichts Kassel vom 5. Dezember 1972 aufzuheben und die Klage
abzuweisen.
Der Kläger beantragt, die Berufung zurückzuweisen.
Er trägt vor, er habe dem Vertreter des Hotelbesitzers mitgeteilt, er wolle seinen Bruder besuchen und zu früheren
Arbeitgebern fahren, um die für den Antrag auf Arbeitslosengeld erforderlichen Arbeitsbescheinigungen zu beschaffen.
Die für ihn bestimmte Post sei von dem Hotel regelmäßig an das Büro der Firma Sch. übersandt worden, weil sein
Aufenthaltsort im Hotel bekannt gewesen sei. Ihn hätten daher Aufforderungen des Arbeitsamtes gleichfalls erreicht,
und er wäre imstande gewesen, ihnen umgehend Folge zu leisten.
Ergänzend wird auf die Gerichtsakten und die Leistungsakten der Beklagten, deren Inhalt Gegenstand der mündlichen
Verhandlung war, Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die an sich statthafte und in rechter Form und Frist eingelegte Berufung ist zulässig und in der Sache begründet.
Die Beklagte hat das dem Kläger bewilligte Arbeitslosengeld ab 1. Januar 1972 zu Recht entzogen, da die
Leistungsvoraussetzungen weggefallen waren.
Nach § 151 Abs. 1 Arbeitsförderungsgesetz (AFG) werden Entscheidungen, durch die Leistungen nach diesem
Gesetz bewilligt worden sind, insoweit aufgehoben, als die Voraussetzungen für die Leistungen nicht vorgelegen
haben oder weggefallen sind.
Dem Kläger stand vom Entziehungszeitpunkt an ein Anspruch auf Arbeitslosengeld nicht mehr zu, da er der
Arbeitsvermittlung nicht zur Verfügung stand. Anspruch auf Arbeitslosengeld hat nämlich nur, wer arbeitslos ist, der
Arbeitsvermittlung zur Verfügung steht, die Anwartschaftszeit erfüllt, sich beim Arbeitsamt arbeitslos gemeldet und
Arbeitslosengeld beantragt hat (§ 100 Abs. 1 AFG). Nach § 103 Abs. 1 Satz 1 AFG steht der Arbeitsvermittlung zur
Verfügung, wer 1. eine Beschäftigung unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes ausüben kann
und darf sowie 2. bereit ist, jede zumutbare Beschäftigung anzunehmen, die er ausüben kann.
Bei der Auslegung des § 103 AFG ist zu beachten, daß nach § 5 AFG die Vermittlung in Arbeit den Leistungen nach
dem 4. Abschnitt vorgeht. Das Arbeitslosengeld ist damit eine subsidiäre Leistung für den Fall, daß sich
Vermittlungsmöglichkeiten nicht ergeben (Urteil des BSG vom 30. Oktober 1959 – Az.: 7 RAr 2/58). Die
Leistungsgewährung an einen Arbeitslosen darf nur dann erfolgen, wenn zugleich für die Beklagte jederzeit die
Möglichkeit besteht, unverzüglich den Leistungsempfänger zu erreichen, um ihm eine zumutbare Arbeit anzubieten.
Solche Arbeiten können auch kurzfristig anfallen, wenn beispielsweise im Falle eines plötzlichen Wintereinbruchs
dringend Arbeitskräfte zum Schneeräumen gesucht werden, wenn kurzfristig Arbeiter für Versand- oder
Verladearbeiten oder für ähnliche Arbeiten benötigt werden (vgl. Urteil d. BSG vom 18. Dezember 1964 – Az.: 7 RAr
18/64). Das für die Vermittlung in Arbeit zuständige Arbeitsamt kann die ihm gesetzlich obliegende Vermittlungspflicht
nur dann erfüllen, wenn sich der Arbeitslose in seinem Bezirk aufhält und jederzeit unter der Anschrift, die er in dem
Leistungsantrag angegeben hat, sofort erreicht werden kann. Für das Arbeitsamt B., dessen Aufgabe es war, den
Kläger in Arbeit zu vermitteln, war der Kläger nur bis zum Zeitpunkt seiner Abreise aus B. erreichbar, weil er sich
danach nicht mehr in dem Arbeitsamtsbezirk B. aufhielt. Um sicherzustellen, daß die Beklagte auch dann jederzeit in
der Lage gewesen wäre, den Kläger in Arbeit zu vermitteln, nachdem er den Arbeitsamtsbezirk B. verlassen hatte,
hätte der Kläger von seiner Abreise beim Arbeitsamt B. gemäß § 130 Abs. 1 AFG beantragen müssen, das
Arbeitsamt für zuständig zu erklären, in dessen Bezirk er sich ab 1. Januar 1972 aufhielt. Außerdem hätte sich der
Kläger bei dem Zuständigkeitswechsel nach § 131 AFG bei dem nunmehr zuständigen Arbeitsamt unverzüglich
melden müssen. Nur unter Beachtung der in den §§ 130, 131 AFG aufgestellte Voraussetzungen einer
Zuständigkeitsänderung bei einer Änderung des Wohn- bzw. Aufenthaltsortes durch den Kläger wäre es der Beklagten
möglich gewesen, diesen unverzüglich in Arbeit zu vermitteln. Indem es der Kläger unterlassen hat, der Beklagten die
Änderung seines Aufenthaltsortes mitzuteilen und den Antrag zu stellen, ein anderes Arbeitsamt für zuständig zu
erklären, bestand für die Beklagte vom Zeitpunkt der Abreise des Klägers am 31. Dezember 1971 an nicht mehr die
Möglichkeit, den Kläger in Arbeit zu vermitteln, ohne daß es darauf ankam, ob die Beklagte dem Kläger ein konkretes
Arbeitsangebot gemacht hat. Dem Kläger stand daher der zweitrangige Anspruch auf Arbeitslosengeld für diese Zeit
nicht zu.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.