Urteil des LSG Hessen vom 05.12.1996

LSG Hes: erworbene rechte, entziehung, kriegsopfer, rücknahme, verwaltungsverfahren, heimatstaat, pflege, kroatien, weltkrieg, republik

Hessisches Landessozialgericht
Urteil vom 05.12.1996 (rechtskräftig)
Sozialgericht Frankfurt S 11 V 1834/95
Hessisches Landessozialgericht L 5 V 108/96
I. Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 19. Januar 1996 wird
zurückgewiesen.
II. Der Beklagte hat dem Kläger die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen Aufwendungen beider
Instanzen zu erstatten.
III. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten über die Rechtmäßigkeit der Entziehung von Versorgungsleistung nach dem
Bundesversorgungsgesetz (BVG).
Der 1930 geborene Kläger hat als ausländischer Staatsangehöriger seinen Wohnsitz in der Republik Kroatien.
Erstmals am 13. Februar 1989 beantragte er bei dem Beklagten die Gewährung von Beschädigtenversorgung und trug
vor, am 7. April 1944 durch liegengebliebenes Kriegsmaterial verletzt worden zu sein. Er habe das linke Auge verloren
sowie Narben und Stecksplitter im Bereich beider Unterschenkel davongetragen. Er sei deshalb als ziviles Kriegsopfer
in seinem Heimatland anerkannt. Der Kläger legte entsprechende Anerkennungsbescheide und Zahlungsbelege vor.
Nach weiteren Ermittlungen erkannte der Beklagte mit Bescheid vom 1. April 1992 die geltend gemachten
Gesundheitsstörungen als Schädigungsfolgen an und gewährte Beschädigtenrente nach einer Minderung der
Erwerbsfähigkeit (MdE) von 30 v.H. ab Juni 1992. Zur Begründung führt er u.a. aus, daß die Leistung als sog. "Kann-
Leistung” gemäß § 64 d Abs. 1 bzw. § 64 Abs. 2 BVG bewilligt werde.
Diesen Bescheid nahm der Beklagte ohne vorherige Anhörung des Klägers mit Aufhebungsbescheid vom 11. Januar
1993 mit Wirkung ab 1. Februar 1993 zurück und führte zur Begründung aus, daß der Bewilligungsbescheid
rechtswidrig sei, da eine Doppelversorgung gemäß § 7 Abs. 2 BVG unzulässig sei. Der Kläger erhalte bereits Rente
als ziviles Kriegsopfer von seinem Heimatstaat und habe deshalb keinen weiteren Anspruch nach dem BVG. Die
Aufhebung sei im öffentlichen Interesse geboten. Zugunsten der Interessen des Klägers sei berücksichtigt worden,
daß der Grund für das Zustandekommen des rechtswidrigen Bescheides allein in der Verantwortung der deutschen
Verwaltung liege. Im Rahmen der Ermessensprüfung sei die persönliche Lage des Klägers berücksichtigt worden. Die
Höhe der Versorgung des Heimatstaates könne nicht zugunsten des Klägers berücksichtigt werden, da auf diese
wirtschaftlichen Verhältnisse deutsche Verwaltungsentscheidungen keinen Einfluß hätten.
Hiergegen legte der Kläger mit Schreiben vom 8. Februar 1993 Widerspruch ein und trug vor, daß die Entziehung der
Versorgungsleistung rechtswidrig sei. Er sei ein vollständiger Invalide und vollkommen auf fremde Hilfe und Pflege
angewiesen. Berücksichtigt werden müsse auch, daß er schon als Kind geschädigt worden sei. Einmal erworbene
Rechte dürften seiner Ansicht nach nicht wieder verlorengehen. Durch Widerspruchsbescheid vom 9. Juli 1993 wies
der Beklagte den Widerspruch zurück. Da den Kläger kein Verschulden an der Rechtswidrigkeit des Bescheides
treffe, brauche er die gezahlten Leistungen nicht zurückzuerstatten. Für die Zukunft überwiege jedoch das öffentliche
Interesse. Es sei bekannt, daß der Kläger schon in jungen Jahren schwer geschädigt worden sei und in schwierigen
wirtschaftlichen Verhältnissen lebe. Diese Umstände würden bei den Sozialleistungen vielfach zutreffen und könnten
bei allem Verständnis nicht dazu führen, daß lebenslang fortgesetzt werde, was nach dem Gesetz nicht sein dürfte.
Die dagegen am 1. November 1993 beim Sozialgericht Frankfurt am Main erhobene Klage war verspätet. Der Kläger
nahm die Klage zurück und stellte einen Neuantrag. Mit Bescheid vom 21. September 1994 in Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 13. März 1995 lehnte der Beklagte die Rücknahme des Bescheides vom 11. Januar
1993 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 9. Juli 1993 ab und wiederholte im wesentlichen seine Begründung.
Am 10. Mai 1995 hat der Kläger dann erneut Klage vor dem Sozialgericht Frankfurt am Main erhoben und die Ansicht
vertreten, daß die Entziehung von Versorgungsleistungen rechtswidrig sei und deshalb nicht hätte erfolgen dürfen.
Mit Urteil vom 19. Januar 1996 hat das Sozialgericht die angefochtenen Bescheide und Widerspruchsbescheide
aufgehoben. In den Entscheidungsgründen hat es im wesentlichen ausgeführt, eine Aufhebung des Bescheides vom
1. April 1992 hätte nur unter den Voraussetzungen des § 45 Sozialgesetzbuch – Verwaltungsverfahren (SGB X) –
erfolgen können. Entscheidend sei, daß der Beklagte von der ihm nach § 45 Abs. 1 SGB X obliegenden Pflicht zur
Anwendung sachgerechten Ermessens keinen Gebrauch gemacht habe. Der Beklagte habe in seiner Entscheidung
nicht auf den individuellen Einzelfall des Klägers abgestellt. Vielmehr weise die Formulierung darauf hin, daß der
Beklagte bei seiner Entscheidung gerade nicht die individuellen Verhältnisse des vorliegenden Falles im Auge gehabt
habe. Das Fehlen jeglicher Einzelfallbezogenheit werde insbesondere dadurch deutlich, daß in einer Vielzahl von
Fällen die gleiche Formulierung benutzt worden sei. Es sei gerichtsbekannt, daß der Beklagte nach Bekanntwerden
der Urteile des Bundessozialgerichts (BSG) vom 20. Mai 1992 zahlreiche Verwaltungsverfahren zur Rückforderung
eingeleitet habe und in ca. 300 gleichgelagerten Fällen praktisch wortgleiche Rücknahme- und Widerspruchsbescheide
erlassen habe. Der Bescheid und der Widerspruchsbescheid seien deshalb wegen der nicht ordnungsgemäßen
Ausübung des Ermessens aufzuheben gewesen.
Gegen das am 29. Januar 1996 zugestellte Urteil hat der Beklagte am 1. Februar 1996 beim Hessischen
Landessozialgericht Berufung eingelegt. Er ist der Ansicht, bei Rücknahmeentscheidungen nach § 45 SGB X sei im
sozialen Entschädigungsrecht im Regelfall kein Ermessen auszuüben. Dies habe der 9/9a-Senat des BSG in
ständiger Rechtsprechung festgestellt. Der vorliegende Fall sei ein klassischer Regelfall. Es habe deshalb kein
Ermessen ausgeübt werden müssen. Außerdem ergebe sich aus den Texten des angefochtenen Bescheides und
Widerspruchsbescheides, daß sowohl die Höhe der ausländischen Zivilopferrente als auch das Lebensalter, die
Schädigung sowie das Gesamteinkommen in die Überlegung einbezogen worden seien. Schließlich könnten die
derzeitigen Auswirkungen des Bürgerkriegs im ehemaligen Jugoslawien nicht berücksichtigt werden. Denn für die
Folgen des Bürgerkrieges, der ein halbes Jahrhundert nach dem Zweiten Weltkrieg entbrannt sei, sei die
Bundesrepublik Deutschland nicht verantwortlich.
Der Beklagte beantragt, das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 19. Januar 1996 aufzuheben und die
Klage abzuweisen sowie die Revision zuzulassen.
Der Kläger, der in der mündlichen Verhandlung nicht erschienen ist, beantragt (schriftlich), die Berufung
zurückzuweisen.
Der Kläger wiederholt im wesentlichen seine Widerspruchsbegründung. Er ist der Ansicht, daß er weiterhin Anspruch
auf Versorgungsleistung habe und die Entziehung rechtswidrig sei.
Der Senat hat mit gerichtlichem Schreiben vom 24. September 1996 die Urteile des Senats vom 14. Dezember 1995
in vergleichbaren Fällen in das Verfahren eingeführt.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichts- und Verwaltungsakte Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Der Senat konnte trotz Ausbleibens des Klägers in der mündlichen Verhandlung entscheiden, da die Ladung einen
entsprechenden Hinweis enthielt (§ 110 Abs. 1 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz – SGG –).
Die Berufung ist zulässig, denn sie ist form- und fristgerecht eingelegt sowie statthaft (§§ 151 i.V.m. 143, 144 Abs. 1
Satz 1 SGG).
Die Berufung ist jedoch sachlich unbegründet. Zu Recht hat das Sozialgericht Frankfurt am Main mit Urteil vom 19.
Januar 1996 den Bescheid vom 21. September 1994 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 13. März 1995
sowie den Bescheid vom 11. Januar 1993 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 9. Juli 1993 aufgehoben.
Diese Verwaltungsentscheidungen sind rechtswidrig.
Die Rücknahme eines rechtswidrig begünstigenden Verwaltungsaktes gemäß § 45 Abs. 1 SGB X unterliegt
bestimmten Voraussetzungen und Einschränkungen (§ 45 Abs. 2 bis 4 SGB X). Der Senat hat bereits in zwei
vergleichbaren Fällen (vgl. HLSG, Urteile vom 14. Dezember 1995 – L-5/V-1221/94 und L-5/V-345/95) entschieden,
daß die Rücknahmebescheide rechtswidrig sind. Diese Urteile sind in dieses Verfahren eingeführt worden. Der Senat
nimmt vollinhaltlich darauf Bezug.
Entscheidend ist hiernach, daß die ursprüngliche Entscheidung der Bewilligung von Versorgungsleistungen allein in
den Verantwortungsbereich der Versorgungsverwaltung fällt. Eine Doppelversorgung ist gemäß § 7 Abs. 2 BVG
grundsätzlich ausgeschlossen. Das Bundessozialgericht (BSG) hat in ständiger Rechtsprechung (BSG, Urteil vom 25.
November 1976 – 9 RV 188/75, Urteile vom 20. Mai 1992 – 9a RV 11/91 und 9a RV 12/91, zuletzt Urteil vom 10.
August 1993 – 9/9a RV 39/92) entschieden, daß Kriegsopfer, die von ihrem Heimatstaat Versorgungsleistungen
erhalten, keinen weiteren Anspruch nach dem BVG haben. Entscheidend ist grundsätzlich nur der Anspruch.
Unerheblich ist, ob und inwieweit die Geldleistungen letztlich erbracht werden. Der Kläger ist als ziviles Kriegsopfer
anerkannt. Der ehemalige Staat Jugoslawien gewährte auch Versorgungsleistungen. Die selbständigen Staaten
Bosnien-Herzegowina, Slowenien und Kroatien haben insoweit die früheren jugoslawischen Rechtsnormen auch
übernommen.
Entscheidend ist ferner auch im vorliegenden Fall, daß ein Ermessensfehler vorliegt, so daß die angefochtene
Entscheidung rechtswidrig ist (vgl. § 54 Abs. 2 Satz 2 SGG). Der Senat sieht im vorliegenden Fall keinen Regelfall,
der jegliche Ermessenserwägung der Verwaltung verzichtbar macht. Vielmehr fehlt die notwendige pflichtgemäße
Ermessensentscheidung. Es liegt eine sog. Ermessensunterschreitung vor, denn es wurde dieselbe Formulierung für
eine Vielzahl von Fällen benutzt und damit Verhältnisse pauschal nur berücksichtigt, aber nicht alle wesentlichen
Unterschiede des Einzelfalles berücksichtigt. Auch im vorliegenden Fall waren weitere Umstände bekannt, jedenfalls
hätten sie von der Beklagten ermittelt werden können und müssen. Der Kläger hat selbst vorgetragen, daß er Invalide
und vollkommen auf fremde Pflege und Hilfe angewiesen sei. Die Berufung war deshalb – wie bereits in
vergleichbaren Fällen – zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 193 SGG.
Die Revision war zuzulassen, da das BSG in vergleichbaren Fällen auf die Nichtzulassungsbeschwerde des
Beklagten die Revision bereits zugelassen hat.