Urteil des LSG Hessen vom 26.10.2007

LSG Hes: grundsatz der gleichwertigkeit, grundsatz der effektivität, arbeitsentgelt, firma, sorgfalt, nachfrist, beendigung, gehalt, insolvenz, abweisung

Hessisches Landessozialgericht
Urteil vom 26.10.2007 (rechtskräftig)
Sozialgericht Frankfurt S 13 AL 2155/04
Hessisches Landessozialgericht L 7 AL 185/05
I. Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 28. April 2005 aufgehoben.
Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 6. Januar 2004 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides
vom 17. März 2004 verurteilt, dem Kläger für die Monate Januar und Februar 2002 Insolvenzgeld in gesetzlicher Höhe
zu gewähren.
II. Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten beider Instanzen zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten über die Zahlung von Insolvenzgeld für Gehaltsforderungen des Klägers aus den Monaten
Januar und Februar 2002.
Der 1977 geborene Kläger war als Arbeitnehmer der Firma O. G., O., Betriebsleiter der Diskothek "O.". Mit Schreiben
vom 28. Januar 2002 kündigte die Arbeitgeberin das Arbeitsverhältnis zum 28. Februar 2002. In dem Schreiben heißt
es, man müsse leider mitteilen, dass alle Versuche gescheitert seien, mit dem Hauseigentümer zu einer Einigung
darüber zu kommen, wie der durch die permanenten Regeneinbrüche und die Geruchsbelästigung entstandene
Schaden ersetzt werde, wie die notwendigen Sanierungsmaßnahmen erfolgen sollten und wie danach ein
ordnungsgemäßer Betrieb des Lokals wieder aufgenommen werden könne. Dabei sei man mit den
Vergleichsangeboten bis an die Grenze des wirtschaftlich vielleicht gerade noch Vertretbaren gegangen. Nach dem
Umbau sei das "O." mit großem Elan zu einer erfolgreichen Diskothek geworden. An diesem Erfolg sei der Kläger
maßgeblich beteiligt gewesen. Es bleibe nichts anderes übrig, als die Diskothek zu schließen.
Durch Beschluss des Amtsgerichts AA. vom 17. Mai 2002 wurde der Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens
über das Vermögen der früheren Arbeitgeberin des Klägers mangels Masse abgewiesen.
Mit Schreiben vom 29. Juni 2002 wies der Kläger die Firma O. G. darauf hin, diese sei trotz mehrmaliger mündlicher
und telefonischer Aufforderung, das ihm für Januar und Februar zustehende Gehalt zu überweisen, immer noch nicht
nachgekommen; sie werde aufgefordert, dies umgehend zu erledigen. Mit weiterem Schreiben vom 7. August 2002
machte der Kläger erneut geltend, dass bislang kein Gehalt auf seinem Konto eingegangen sei, obwohl die GmbH im
Anschluss an das Schreiben vom 29. Juni 2002 die Zusage gegeben habe, das Gehalt umgehend durch die
Lohnbuchhaltung überweisen zu lassen. Es werde nunmehr eine letzte Frist gesetzt, die offenen Gehaltsansprüche
bis zum 21. August 2002 zu überweisen. Ansonsten sehe er sich gezwungen, rechtliche Schritte zu unternehmen.
Zahlungen der früheren Arbeitgeberin erfolgten indes nicht. Diese teilte lediglich mit Schreiben vom 30. August 2002
mit, dass man aufgrund verschiedener bürokratischer Hemmnisse erst heute in der Lage sei, dem Kläger die
Insolvenzbescheinigung zu übermitteln, mit der er beim Arbeitsamt die Zahlung des ihm noch zustehenden Lohnes
beantragen könne.
Daraufhin beantragte der Kläger am 16. September 2002 bei der Beklagten die Gewährung von Insolvenzgeld. Er gab
an, bis Anfang September 2002 keine Kenntnis von der Insolvenz der Arbeitgeberin gehabt zu haben. Mehrfach habe
er die Gehaltsansprüche bei dem Mitgesellschafter des Unternehmens, dem Zeugen R. JG. (Sohn der
Geschäftsführerin der Firma O. G.), geltend gemacht. Dieser habe ihn immer wieder vertröstet.
Durch Bescheid vom 6. Januar 2004 lehnte die Beklagte die Gewährung von Insolvenzgeld ab, weil der Antrag nicht
innerhalb einer Ausschlussfrist von zwei Monaten nach dem maßgeblichen Insolvenzereignis am 17. Mai 2002, der
Ablehnung des Antrages auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens, gestellt worden sei. Die Versäumung der Antragsfrist
habe der Kläger zu vertreten.
Den dagegen am 14. Januar 2004 erhobenen Widerspruch wies die Beklagte durch Widerspruchsbescheid vom 17.
März 2004 zurück. Der Kläger habe die Ausschlussfrist zur Stellung des Antrages auf Insolvenzgeld, die vorliegend
die Zeit vom 17. Mai 2002 bis zum 17. Juli 2002 umfasse, durch die am 16. September 2002 erfolgte Antragstellung
nicht gewahrt. Eine Nachfrist könne nicht eingeräumt werden. Gerichtliche Schritte zur Durchsetzung seiner
Arbeitsentgeltansprüche habe er bis zur Antragstellung nicht eingeleitet. Vielmehr habe er sich vom Sohn der
Geschäftsführerin vertrösten lassen.
Die dagegen am 21. April 2004 erhobene Klage hat das Sozialgericht Frankfurt am Main (SG) nach Vernehmung des
Zeugen JG. durch Urteil vom 28. April 2005 abgewiesen. Der Kläger habe die Antragsfrist versäumt. Auch die weitere
Frist des § 324 Abs. 3 Satz 2 des Dritten Buches Sozialgesetzbuch (SGB III) stehe dem Kläger nicht zur Verfügung,
weil er die Versäumung der Frist zu vertreten habe; er habe sich nämlich nicht mit der erforderlichen Sorgfalt um die
Durchsetzung seiner Ansprüche bemüht (§ 324 Abs. 3 Satz 3 SGB III). Beim Kläger handele es sich um einen im
Geschäftsverkehr geübten Menschen. Es sei nicht erklärbar, dass er sich bis zu seinem ersten an die frühere
Arbeitgeberin gerichteten Schreiben vom 29. Juni 2002 mit den Vertröstungen des Zeugen JG., der die Diskothek "O."
operativ betreut hätte, zufrieden gegeben und sich hinsichtlich seiner Gehaltsansprüche nicht unmittelbar an die
frühere Arbeitgeberin gewandt habe. Erst am 7. August 2002 habe er sich erneut an die frühere Arbeitgeberin gewandt
und erstmals unter Ankündigung rechtlicher Schritte eine Frist gesetzt. Dieses zögerliche Verhalten sei umso weniger
verständlich, als dem Kläger bekannt gewesen sei, dass die Betriebsräume der früheren Diskothek geräumt gewesen
seien und mit dem Equipment an anderen Orten Disko-Veranstaltungen durchgeführt worden seien. Der Kläger habe
bei diesen Veranstaltungen des Zeugen JG. sogar in seinem bisherigen Wirkungskreis mitgearbeitet und hierbei
Zahlungen ohne Verzögerungen erhalten. Umso mehr hätte ihm unverständlich sein müssen, dass er das Gehalt für
Januar und Februar 2002 noch nicht bekommen habe. Dies hätte ihn – zur Vermeidung von Fahrlässigkeit –
veranlassen müssen, seine Gehaltsforderungen bei der früheren Arbeitgeberin mit größerem Nachdruck als
geschehen geltend zu machen.
Gegen dieses ihm am 23. Juni 2005 zugestellte Urteil wendet sich der Kläger mit seiner am 25. Juli 2005 (Montag)
eingegangenen Berufung. Ihm könne keine Fahrlässigkeit vorgeworfen werden. Zum Zeitpunkt des
streitgegenständlichen Vorfalls sei er erst 25 Jahre alt gewesen und habe noch über keine ausreichende
Geschäftserfahrung verfügt, was Art und Weise der Verfolgung von Gehaltsansprüchen anbelange. Bisher hätte er zu
keiner Zeit irgendwelche Gehaltsansprüche gegenüber Arbeitgebern anmahnen oder einklagen müssen. Zudem habe
das SG außer Acht gelassen, dass er auch nach dem 28. Februar 2002 mit einzelnen verantwortlichen Personen
seiner ehemaligen Arbeitgeberin, namentlich dem Zeugen JG., in geschäftlicher Verbindung gestanden habe. Da er für
die neue Tätigkeit die Vergütung bekommen und die Geschäftsbeziehung auch habe aufrechterhalten wollen, sei
verständlich, dass er seine Ansprüche für Januar und Februar 2002 nicht mit so viel Nachdruck verfolgt habe, wie es
jemand getan hätte, dessen Geschäftsbeziehung mit dem alten Vertragspartner beendet sei. Zudem sei zu
berücksichtigen, dass zwischen ihm und dem Zeugen ein gutes, fast freundschaftliches Verhältnis bestanden habe.
Daher sei vorliegend ein anderer Maßstab anzusetzen. Der Zeuge JG. habe ihm wiederholt erklärt, die offenen Löhne
für Januar und Februar 2002 würden von der Abrechnungsstelle erledigt werden. Dies habe die durchgeführte
Beweisaufnahme vor dem SG bestätigt. Der Zeuge selbst habe bis August 2002 nicht gewusst, dass die Gesellschaft
insolvent sei. Wenn nicht einmal der Zeuge als Minderheitsgesellschafter und Sohn der Geschäftsführerin Kenntnis
von dem Insolvenzereignis gehabt habe, könne ihm – dem Kläger – nicht angelastet werden, dass er dies hätte
erkennen müssen. Vielmehr habe er darauf vertrauen dürfen, dass entsprechend der Aussage des Zeugen die
Gehaltsansprüche von der Abrechnungsstelle erledigt werden würden.
Der Kläger beantragt, das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 28. April 2005 aufzuheben und die
Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 6. Januar 2004 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17.
März 2004 zu verurteilen, dem Kläger für die Monate Januar und Februar 2002 Insolvenzgeld in gesetzlicher Höhe zu
gewähren.
Die Beklagte beantragt, die Berufung zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend und führt ergänzend aus, dass der Kläger die Ausschlussfrist fahrlässig
versäumt habe. Dabei sei insbesondere von Bedeutung, welche Maßnahmen er zur Durchsetzung seiner
Entgeltansprüche ergriffen habe. Erst nach ca. einem halben Jahr habe er sich diesbezüglich an seine frühere
Arbeitgeberin gewandt, obwohl dies schon erheblich zeitnäher hätte erfolgen können. So habe das
Bundessozialgericht (BSG) bereits in seinem Urteil vom 30. April 1996 (10 RAr 8/94) festgestellt, dass nach einem
Ablauf von drei Monaten nach der letzten Zahlung ein entschiedenes Handeln geboten sei, was der Kläger jedoch
habe vermissen lassen.
Beide Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung des Rechtsstreits durch den Berichterstatter anstelle des Senats
gemäß § 155 Abs. 3 und 4 Sozialgerichtsgesetz (SGG) einverstanden erklärt.
Im Übrigen wird wegen der weiteren Einzelheiten auf den Inhalt der Akte der Beklagten und der Gerichtsakte, der
Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist, Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung ist begründet. Dem Kläger steht der geltend gemachte Anspruch auf Zahlung von Insolvenzgeld für die
Monate Januar und Februar 2002 zu. Ihm kann insbesondere nicht entgegengehalten werden, die Antragsfrist
versäumt zu haben. Die Beklagte - und ihr folgend das SG - hat insoweit bei ihrer ablehnenden Entscheidung
gemeinschaftsrechtliche Vorgaben der Europäischen Union (EU) unbeachtet gelassen.
Nach § 183 Abs. 1 Satz 1 SGB III in der vorliegend ab 1. Januar 2002 anwendbaren Fassung des Gesetzes vom 10.
Dezember 2001 (BGBl. I S. 3443) haben Arbeitnehmer Anspruch auf Insolvenzgeld, wenn sie im Inland beschäftigt
waren und bei 1. Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen ihres Arbeitgebers, 2. Abweisung des
Antrags auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens mangels Masse oder 3. vollständiger Beendigung der Betriebstätigkeit
im Inland, wenn ein Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens nicht gestellt worden ist und ein Insolvenzverfahren
offensichtlich mangels Masse nicht in Betracht kommt, (Insolvenzereignis) für die vorausgehenden drei Monate des
Arbeitsverhältnisses noch Ansprüche auf Arbeitsentgelt haben. Diese Voraussetzungen sind, was unter den
Beteiligten auch nicht streitig ist, vorliegend erfüllt. Ein Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das
Vermögen der früheren Arbeitgeberin des Klägers war am 17. Mai 2002 mangels Masse abgewiesen worden; dieser
hatte noch nicht erfüllte Ansprüche auf Arbeitsentgelt für die letzten zwei Monate des zum 28. Februar 2002
gekündigten Arbeitsverhältnisses.
Der Kläger hat auch einen rechtswirksamen Leistungsantrag gestellt. Nach § 324 Abs. 3 Satz 1 SGB III ist
Insolvenzgeld innerhalb einer Ausschlussfrist von zwei Monaten nach dem Insolvenzereignis zu beantragen. Hat der
Arbeitnehmer die Frist aus Gründen versäumt, die er nicht zu vertreten hat, so wird Insolvenzgeld geleistet, wenn der
Antrag innerhalb von zwei Monaten nach Wegfall des Hinderungsgrundes gestellt wird (§ 324 Abs. 3 Satz 2 SGB III).
Freilich hat der Kläger die zweimonatige Ausschlussfrist des § 324 Abs. 3 Satz 1 SGB III versäumt. Für den Beginn
dieser Frist ist der Eintritt des jeweiligen Insolvenzfalls maßgebend, wobei im Falle der Abweisung des Antrags auf
Eröffnung des Insolvenzverfahrens mangels Masse (Insolvenzereignis im Sinne des § 183 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 SGB III)
auf den Tag des entsprechenden Beschlusses des Amtsgerichts AA. abzustellen ist, wobei die Frist ohne Rücksicht
auf die Zustellung diese Beschlusses oder die Kenntnisnahme des Arbeitnehmers vom Eintritt eines
Insolvenzereignisses beginnt (BSG, Urteil vom 30. April 1996 – 10 RAr 8/94). Ausgehend also vom 17. Mai 2002 hat
die zweimonatige Ausschlussfrist an dem nachfolgenden Tag, dem 18. Mai 2002 begonnen und endete - wie auch das
SG zutreffend erkannt hat - am 17. Juli 2002. Der vom Kläger am 16. September 2002 gestellte Antrag auf
Insolvenzgeld war somit nicht fristgemäß.
Dem Kläger ist jedoch eine Nachfrist nach § 324 Abs. 3 Satz 2 SGB III einzuräumen. Eine Nachfrist nach dieser
Vorschrift ist gegeben, wenn der Arbeitnehmer die Frist aus Gründen versäumt, die er nicht zu vertreten hat, und der
Antrag innerhalb von zwei Monaten nach Wegfall des Hinderungsgrundes gestellt wird. Der Arbeitnehmer hat die
Versäumung der Frist zu vertreten, wenn er sich nicht mit der erforderlichen Sorgfalt um die Durchsetzung seiner
Ansprüche bemüht hat (§ 324 Abs. 3 Satz 3 SGB III). Die unverschuldete Unkenntnis von einem Insolvenzereigniss
führt mithin dann zur Eröffnung einer weiteren Antragsfrist, wenn sich der Arbeitnehmer um die Durchsetzung seiner
rückständigen Lohnansprüche bemüht hat. Davon ist entgegen der Auffassung der Beklagten auszugehen, weil vor
allem bindendes Gemeinschaftsrecht der EU nicht ausreichend berücksichtigt worden ist.
Allerdings geht der Senat zunächst davon aus, dass die Vorschrift des § 324 Abs. 3 SGB III als solche
europarechtskonform ist. Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat in seinem Urteil vom 18. September 2003 – C-
125/01 – (SozR 4-4300 § 324 Nr. 1 - Rs. Pflücke) die grundsätzliche Vereinbarkeit einer Ausschlussfrist mit der
Richtlinie des Rates zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedsstaaten über den Schutz der Arbeitnehmer
bei Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers (80/987/EWG) vom 20. Oktober 1980 (Abl EG L 283/23; abgedruckt in
Gagel, SGB III, Anhang 1 zu § 183) bestätigt, wenn die Ausschlussfrist, binnen deren ein Arbeitnehmer nach
nationalem Recht einen Antrag auf Zahlung von Insolvenzgeld nach Maßgabe dieser Richtlinie stellen muss, so
ausgestaltet ist, dass die betreffende Frist nicht weniger günstig ist als bei gleichartigen innerstaatlichen Anträgen
(Grundsatz der Gleichwertigkeit) und nicht so ausgestaltet ist, dass sie die Ausübung der von der
Gemeinschaftsrechtsordnung eingeräumten Rechte praktisch unmöglich macht (Grundsatz der Effektivität). Während
hinsichtlich des Grundsatzes der Gleichwertigkeit mit Rücksicht darauf, dass vergleichbare innerstaatliche Fristen
auch für die Geltendmachung von Arbeitslosengeld oder Kurzarbeitergeld bestehen, keine Bedenken bestehen (s.
eingehend Peters-Lange info also 2007, 51, 56; s. auch Sächsisches LSG Urteil vom 17. April 2007 - L 1 AL 282/04)
ist dem Grundsatz in der Effektivität nicht schon allein deshalb Genüge getan, weil das Gesetz in § 324 Abs. 3 Satz 2
SGB III dem Arbeitnehmer grundsätzlich eine Nachfrist einräumt (so aber wohl LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom
13. September 2005 – L 12 AL 30/01). Der EuGH hat vielmehr in seinem Urteil vom 18. September 2003 (a.a.O.) für
die Auslegung der Ausnahmeregelung des § 324 Abs. 3 S. 3 SGB III ausdrücklich darauf hingewiesen, dass die
Effektivität, die die Richtlinie zum Schutz der Arbeitnehmer bezweckt, nur dann gewährleistet ist, wenn die
zuständigen Stellen nicht übermäßig streng beurteilen, ob der Betroffene sich mit der erforderlichen Sorgfalt um die
Durchsetzung seiner Ansprüche bemüht hat. Daraus folgt, dass an das Vertretenmüssen im Sinne des § 324 Abs. 3
S. 2 und 3 SGB III jedenfalls keine überhöhten Anforderungen gestellt werden dürfen (vgl. auch Sächsisches LSG
Urteil vom 17. April 2007 - L 1 AL 282/04), es ist restriktiv auszulegen (Peters-Lange info also 2007, 51, 57).
Bei Zugrundelegung dieser Grundsätze gelangt der Senat zu dem Ergebnis, dass der Kläger die Versäumung der
Ausschlussfrist nicht zu vertreten hat. Er hat sich im Sinne des § 324 Abs. 3 S. 3 SGB III ausreichend um die
Durchsetzung seiner Ansprüche auf Arbeitsentgelt bemüht. Sein Vorgehen, zunächst im Rahmen persönlicher
Vorsprachen beim Zeugen JG., immerhin dem Mitgesellschafter und - nach dessen eigener Aussage - für den
"operativen Bereich" der Diskothek verantwortlich, eine Erfüllung seiner Entgeltansprüche zu erwirken, war unter den
gegebenen besonderen Umständen sachgerecht und angemessen; es lässt die erforderliche Sorgfalt nicht vermissen.
Dem steht auch nicht entgegen, dass der Kläger, was die Beklagte bemängelt, seine rückständigen Ansprüche erst
am 29. Juni 2002 schriftlich und mit weiterem Schreiben vom 7. August 2002 unter Fristsetzung geltend gemacht hat.
Auszugehen ist davon, dass der Kläger – was auch die Beklagte nicht in Zweifel zieht – bis zum Zugang des
Schreibens seiner früheren Arbeitgeberin vom 30. August 2002 von deren Insolvenz keine Kenntnis hatte und die
Nichtkenntnis des Insolvenzereignisses des § 183 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 SGB III auch nicht ihm, sondern der Firma O. G.
anzulasten ist. Diese war gemäß § 183 Abs. 4 SGB III verpflichtet, den Beschluss des Insolvenzgerichts über die
Abweisung des Antrags auf die Insolvenzeröffnung mangels Masse dem Betriebsrat bzw., da ein Betriebsrat
offensichtlich nicht bestand, ihren Arbeitnehmern unverzüglich bekanntzugeben. Dieser Pflicht, die auch über die
Beendigung des Arbeitsverhältnisses hinaus bestand (vgl. mit weiteren Nachweisen - Peters-Lange info also 2007, 51,
57), ist sie indes nicht nachgekommen. Als "Unwissender" war und ist der Kläger aber - wie die gesetzliche Regelung
des § 183 Abs. 4 SGB III zeigt - besonders schutzwürdig. Dies verbietet ein - auch von der Beklagten geltend
gemachtes - Ansinnen, der Arbeitnehmer, der noch Anspruch auf Arbeitsentgelt habe, sei gehalten ohne
Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls zumindest vorsorglich einen Antrag auf Insolvenzgeld zu stellen oder
massiv mittels Klage gegen den Arbeitgeber vorzugehen.
Ein derartiges Ansinnen erscheint allenfalls dann gerechtfertigt, wenn hinreichende Anhaltspunkte für den Eintritt der
Insolvenz des Unternehmens, in dem der Arbeitnehmer beschäftigt war, vorliegen. Nur wenn der Arbeitnehmer nicht
darauf vertrauen durfte, dass seine Ansprüche noch befriedigt werden, ist es ihm zuzumuten, aber auch zu verlangen,
sich sachkundig zu machen, Rechtsrat einzuholen und ggf. vorsorglich Insolvenzgeld zu beantragen (vgl. Peters-
Lange info also 2007, 51, 58). Hierfür bestehen indes keine Anhaltspunkte; solche sind vorliegend auch nicht
erkennbar.
Sie ergeben sich zunächst nicht aus dem Kündigungsschreiben der Firma O.G. vom 28. Januar 2002. Darin ist zwar
mitgeteilt worden, dass die Diskothek geschlossen werden müsse, weil es mit dem Hauseigentümer zu einer Einigung
insbesondere über notwendige Sanierungsmaßnahmen nicht gekommen sei, obwohl man mit den
Vergleichsangeboten bis an die Grenze des wirtschaftlich gerade noch Vertretbaren gegangen sei. Daraus lässt sich
jedoch nur ableiten, die Schließung der Diskothek erfolge wegen nicht zu tragender notwendiger Investitionen, nicht
aber, der Arbeitgeberin drohe Zahlungsunfähigkeit, weshalb für den Kläger Eile bestehe, seine noch bestehenden
Ansprüche auf Arbeitsentgelt, notfalls auch gerichtlich, geltend zu machen.
In diesem Punkt unterscheidet sich der Fall des Klägers im Übrigen wesentlich von dem Sachverhalt, über den das
BSG - zumal noch vor der für die betroffenen Arbeitnehmer günstigeren Rechtsprechung des EuGH - durch Urteil vom
30. April 1996 - 10 RAr 8/94 - entschieden hat und auf das sich auch vorliegend die Beklagte beruft. Zu den
besonderen Umständen, unter denen das BSG ein entschiedenes Handeln des Arbeitnehmers für geboten erachtet
hat, gehörte vor allem, dass der betroffene Arbeitnehmer über Jahre hinweg sein Arbeitsentgelt nur unregelmäßig und
nicht in vollem Umfange erhalten hatte und zum Zeitpunkt der Beendigung des Arbeitsverhältnisses sich die
Rückstände an Arbeitsentgelt auf circa 50.000 DM beliefen; diese Umstände hätten den Arbeitnehmer
unmissverständlich vor Augen führen müssen, dass sein Arbeitgeber entweder durchgehend zahlungsunfähig
gewesen sei oder – was wahrscheinlicher wäre – sich in erheblichen Zahlungsschwierigkeiten befunden habe.
Des Weiteren konnte der Kläger auch den Gesprächen mit dem Zeugen JG. nicht entnehmen, dass sich seine
Arbeitgeberin in Zahlungsschwierigkeiten befindet oder solche alsbald bevorstehen. Selbst als Mitgesellschafter des
Unternehmens war der Zeuge geraume Zeit nicht über eine Insolvenz informiert. Er hat nämlich ausdrücklich
bekundet, bis zum August 2003 (gemeint wohl: 2002) über die Entwicklung der Gesellschaft im Einzelnen nicht
Bescheid gewusst zu haben; insbesondere war ihm nicht bekannt, dass schon Antrag auf Insolvenzgeld gestellt und
ein ablehnender Beschluss des Amtsgerichts ergangen war.
Des Weiteren ist als Besonderheit des Falles zu berücksichtigen, dass der Kläger auch nach Beendigung seines
Arbeitsverhältnisses mit der Firma O. G. bestrebt war, beruflich wieder Fuß zu fassen. So hoffte er zunächst, dass
die Diskothek an anderer Stelle wieder eröffnet werden würde. In diesem Zusammenhang nutzte er seine Kontakte zu
dem Zeugen JG., der seinerseits bestätigte, sich damals mit der Führung eines Veranstaltungsbetriebes befasst zu
haben, der Veranstaltungen (Partys) in "Fremdlocations" organisierte. Hierzu wurde auch der Kläger herangezogen,
der in seinem früheren Wirkungskreis bei der Bewerbung und der Programmgestaltung dieser Partys tätig war.
Angesichts dieser Umstände ist verständlich, dass der Kläger bei der Verfolgung seiner rückständigen
Arbeitsentgeltansprüche gegenüber dem ehemaligen Mitgesellschafter JG. behutsam vorging und erst Ende Juni
2002, nachdem mehrere mündliche Unterredungen nicht zu dem gewünschten Erfolg geführt hatten, schriftlich und mit
Nachdruck von seiner früheren Arbeitgeberin den Ausgleich der Rückstände forderte.
Hat sich der Kläger nach alledem mit der erforderlichen Sorgfalt bemüht, seine Ansprüche auf Arbeitsentgelt für
Januar und Februar 2002 durchzusetzen, so ist ihm eine Nachfrist zu gewähren. Erst infolge der Übersendung der
Insolvenzgeldbescheinigung durch die frühere Arbeitgeberin (Schreiben vom 30. August 2002) hat er Anfang
September 2002 von dem Insolvenzfall Kenntnis erlangt, womit der Hinderungsgrund im Sinne des § 324 Abs. 3 S. 2
SGB III entfallen war. Sodann hat der Kläger – innerhalb der Zwei-Wochen-Frist dieser Vorschrift – am 16. September
2002 Insolvenzgeld beantragt.
Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 193 SGG, diejenige über die Nichtzulassung der Revision auf § 160
Abs. 2 SGG.