Urteil des LSG Hessen vom 13.03.2017

LSG Hes: bahnhof, bak, bier, versicherungsschutz, hinterbliebenenrente, arbeitsstelle, lehrling, blutprobe, gefahr, mittelwert

Hessisches Landessozialgericht
Urteil vom 23.05.1979 (rechtskräftig)
Sozialgericht Kassel S 3 UG 20/77
Hessisches Landessozialgericht L 3 U 108/78
Auf die Berufung der Kläger werden das Urteil des Sozialgerichts Kassel vom 12. Januar 1978 sowie der Bescheid
vom 25. Oktober 1976 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27. Januar 1977 aufgehoben und die Beklagte
verurteilt, den Klägern Hinterbliebenenrente in gesetzlichen Umfang zu gewähren.
Die Beklagte hat den Klägern die außergerichtlichen Kosten des Rechtsstreites zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Die Kläger sind die Witwe und der 1960 geborene Sohn des am 20. August 1976 tödlich verunglückten H. B. (B.). Sie
streiten mit der Beklagten um die Gewährung von Hinterbliebenenrenten.
Der im Jahre 1923 geborene B. wurde nach den Angaben seines Arbeitgebers, des Malermeisters M. F. (I.), am 20.
August 1976 auf dem Bahnhof von I. von einem anfahrenden Schiebezug der Deutschen Bundesbahn (DB), den er zur
Heimfahrt benutzen wollte, gegen 18.11 h erfaßt, überfahren und dadurch tödlich verletzt. B. habe um 16.00 h die
Arbeit eingestellt gehabt, sei von einem Arbeitsplatz bei einem Kunden in I. zur Werkstatt gegangen, wo er sich
gewaschen und umgezogen sowie mit Arbeitskollegen aus Anlaß einer Geburtstagsfeier zwei Flaschen Bier getrunken
habe. Gegen 17.15 h sei er mit dem Lehrling K. zum Bahnhof gegangen. Unterwegs habe er sich noch mit zwei
Bekannten unterhalten sowie für etwa 10 Minuten das "Hotel G.” am Bahnhof I. aufgesucht. Nachdem der Lehrling K.
erklärt hatte, B. sei auf halbem Wege bei Bekannten stehengeblieben, weil er den Zug um 17.29 h ohnehin nicht mehr
habe erreichen können, zog die Beklagte die Ermittlungsakten der Staatsanwaltschaft bei dem Landgericht Kassel (22
Js 761/76) mit den Feststellungen der DB bei. Danach ist in dem Gutachten des Prof. Dr. H. (Institut für
Rechtsmedizin der Universität M.) vom 26. August 1976 aufgrund der am 23. August 1976 entnommenen Blutprobe
eine Blutalkoholkonzentration (BAK) von durchschnittlich 1,98 ‰ angenommen worden. Mit Bescheid vom 25.
Oktober 1976 lehnte hierauf die Beklagte die Gewährung von Hinterbliebenenleistungen ab, da B. zur Unfallzeit infolge
Alkoholeinwirkung verkehrsuntüchtig gewesen sei und sich daher nicht mehr auf einem versicherungsrechtlich
geschützten Weg von der Arbeitsstelle nach Hause befunden habe. Der gegen diesen am gleichen Tag abgesandten
Bescheid am 3. November 1976 eingelegte Widerspruch blieb erfolglos. Die Beklagte wies ihn mit Bescheid vom 27.
Januar 1977 zurück.
Gegen diesen am gleichen Tag abgesandten Widerspruchsbescheid haben die Kläger bei dem Sozialgericht Kassel –
SG – am 8. Februar 1977 Klage erhoben und erneut geltend gemacht, daß die Beklagte nicht beweisen könne, daß
der Unfall des trinkgewohnten und schwergewichtigen B. seine alleinige Ursache in einer alkoholbedingten
Verkehrsuntüchtigkeit habe. Mit Urteil vom 12. Januar 1978 hat das SG die Klage aus den Gründen der
angefochtenen Bescheide abgewiesen.
Gegen dieses an sie mit Einschreiben am 19. Januar 1978 abgesandte Urteil haben die Kläger am 30. Januar 1978
schriftlich Berufung eingelegt.
Es ist im Berufungsverfahren zunächst der Sachverhalt weiter aufgeklärt worden. Dazu sind die Ermittlungsakten der
Staatsanwaltschaft und der DB (Gesch.Z.: 32 B 28 Bu 417/76) beigezogen worden. Auf ihren Inhalt wird verwiesen.
Ferner sind zur Blutalkoholbestimmung, zum Arbeitstag des B. am Unfalltag und zu den Möglichkeiten der Heimfahrt
nach Arbeitsende mit öffentlichen Verkehrsmitteln die Auskünfte des Medizinaldirektors Dr. M. (K.), des Deutschen
Wetterdienstes, Offenbach, des Beerdigungsinstitutes T. (H.), des Prof. Dr. H., des Malermeisters F. und der DB vom
15. März, 6. und 8. April, 28. Juli bzw. 30. und 31. März 1978 eingeholt worden. Danach ist nach ordnungsgemäßer
Blutentnahme und Blutalkoholbestimmung eine BAK im Mittelwert von 1,98 ‰ festgestellt worden. Vom 16.30 h an
bis 17.15 ha hatte B. mit Arbeitskollegen einen Geburtstag gefeiert. Von I. aus konnte er mit der DB um 17.29 h und
18.11 h nach H. abfahren, um dort den Bahnbus nach T.-D. um 17.53 h bzw. 18.53 h erreichen zu können. Der
nächste Bahnbus fährt danach erst um 22.13 h von dort wieder ab. Im einzelnen wird auf die erteilten Auskünfte
verwiesen. Ferner sind als Zeugen der Lehrling K. der Schlosser H., dessen Bekannter D. und die
Bundesbahnbediensteten H., S. und B. gehört worden. Der Zeuge H. sagte u.a. aus, daß B. ihm und dem Nachbarn
Hut je eine Flasche Bier aus seiner Tasche zum Trinken angeboten habe, ohne von ihnen dazu aufgefordert worden
zu sein. Daraus habe er auf eine gewisse Alkoholisierung geschlossen. Andere äußere Beweisanzeichen für einen
Alkoholeinfluß habe er allerdings nicht beobachtet. Dafür konnten auch die anderen Zeugen keine Anhaltspunkte
mitteilen. Wegen der Einzelheiten wird auf die Vernehmungsniederschriften vom 6. Dezember 1978 und 22. Januar
1979 verwiesen.
Die Kläger wiederholen ihr bisheriges Vorbringen und führen zur Begründung der Berufung ergänzend aus: Es müsse
davon ausgegangen werden, daß zur Unfallzeit keineswegs eine BAK von mindestens 1,98 bis 2,1 ‰ vorgelegen
habe. Die Blutprobe sei nicht sogleich, sondern erst drei Tage später entnommen worden, als bereits ein
Fäulnisprozeß der Leiche fortgeschritten gewesen sei. Keiner der Zeugen habe Merkmale einer Alkoholisierung bei B.
bemerkt, und zwar auch nicht der Zeuge H. B. sei trinkgewohnt gewesen. Der Versuch, auf einen anfahrenden Zug
noch aufzuspringen, könne nicht als Ausdruck alkoholbedingter Verkehrsuntüchtigkeit gewertet werden. Ein solches
Verhalten werde alltäglich beobachtet und schließe den Versicherungsschutz auch nicht unter dem Gesichtspunkt der
selbstgeschaffenen Gefahranlage aus.
Die Kläger beantragen, das Urteil des Sozialgerichts Kassel vom 12. Januar 1978 sowie den Bescheid vom 25.
Oktober 1976 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27. Januar 1977 aufzuheben und die Beklagte zu
verurteilen, ihnen die Hinterbliebenenrente in gesetzlicher Höhe zu gewähren, hilfsweise, ein rechtsmedizinisches
Gutachten zur Höhe der BAK und zur Frage der alkoholbedingten Verkehrsuntüchtigkeit einzuholen.
Die Beklagte beantragt, die Berufung zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend und meint: Für die Frage, bei welcher BAK die absolute
Verkehrsuntüchtigkeit bei einem Fußgänger erreicht werde, komme es nicht entscheidend auf die jeweilige
Verkehrssituation an. Begebe sich ein Fußgänger in eine größere Gefahr, als sie üblicherweise im Straßenverkehr
auftrete, so müsse sich dies auch auf die Höhe der die absolute Verkehrsuntüchtigkeit auslösenden BAK auswirken.
Hier habe sich B. zur Unfallzeit in einer besonders gefährlichen Verkehrssituation befunden, so daß bei einer BAK von
1,98 ‰ absolute Verkehrsuntüchtigkeit anzunehmen sei. Diese sei auch die rechtlich allein wesentliche Unfallursache
gewesen.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Streit- und sonst beigezogenen Akten verwiesen.
Entscheidungsgründe:
Der Senat konnte im Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entscheiden (§ 124 Abs. 2
Sozialgerichtsgesetz – SGG –).
Die Berufung ist frist- und formgerecht eingelegt (§ 151 SGG). Nachdem die Kläger mit ihr lediglich den Anspruch auf
Hinterbliebenenrente (§§ 589 Abs. 1 Nr. 3, 590, 595 Reichsversicherungsordnung – RVO –) verfolgen, liegen auch
keine Berufungsausschließungsgründe vor (§§ 144, 145 SGG), so daß die Berufung uneingeschränkt statthaft ist.
Die zulässige Berufung ist auch begründet. Das sozialgerichtliche Urteil konnte nicht aufrechterhalten bleiben. Das
SG hat die zulässige Klage zu Unrecht abgewiesen; die angefochtenen Bescheide sind rechtswidrig. Die Kläger haben
Anspruch auf die Hinterbliebenenrente, da B. einen Arbeitsunfall erlitten hat, an dessen Folgen er unmittelbar darauf
verstorben ist (§§ 589 Abs. 1 Nr. 3, 590, 595, 550 Abs. 1 RVO).
Auf Grund der Ermittlungen der Beklagten, der DB und der Staatsanwaltschaft sowie im Berufungsverfahren stellt der
Senat zunächst folgenden Sachverhalt fest: B. beendete am Unfalltag seine als Malergeselle für den Malermeister F.
zu verrichtenden Tätigkeiten gegen 16.00 h, begab sich in den Betrieb, wo er sich wusch und umzog. Von 16.30 h an
feierte er dort mit Arbeitskollegen einen Geburtstag, wobei er mindestens drei Flaschen Bier trank. Zusammen mit
dem Zeugen K. trat er sodann gegen 17.15 h den Weg zu etwa 1 km entfernt gelegenen Bahnhof I. an, von wo er –
wie auch sonst üblich – den Zug nach H. um 17.29 h nehmen wollte. Auf halbem Wege blieb er vor dem Anwesen des
Zeugen H. in der Unteren Bahnhofstraße stehen und erklärte dem Zeugen K., daß dieser weitergehen möge, da er den
Zug ohnehin nicht mehr schaffe. Den Zeugen H., der mit dem Nachbarn H. vor seinem Grundstück stand, bat er,
zwecks Verrichtung der Notdurft nach hinten gehen zu dürfen. Während der Zeuge K. nach schnellem Laufen noch
den Zug am Bahnhof I. erreichte, verweilte B. noch einige Zeit bei H. und H. Diesen gab er je eine Flasche Bier á 0,33
l und trank mit ihnen. Die Unterhaltung drehte sich um den von B. einige Zeit zuvor vorgenommenen Anstrich eines
Nachbarhauses. Gegen 17.30 h kam der Zeuge D. hinzu, der B. schließlich in seinem Pkw VW 1303 zum Bahnhof I.
fuhr. Dort war B. etwa um 17.45 h eingetroffen. Kurz vor 18.11 h betrat er dann das Empfangsgebäude und den
Bahnsteig des Bahnhofs I. auf dem der Zugführer und Zeuge H. gerade den Abfahrauftrag für den um diese Zeit
planmäßig abfahrenden Nahverkehrszug nach H. gegeben hatte. B. rannte auf den sich in Bewegung setzenden Zug
zu, wobei er an der schiebenden Elektrolok vorbeilief und die letzte Tür des letzten Waggons erreichte. Es gelang
ihm, diese zu öffnen. Er versuchte, noch während der Fahrt einzusteigen. Nachdem er dabei noch drei bis vier
Schritte gelaufen war, stürzte er und geriet schließlich unter die Elektrolok, von der er einige Meter mitgeschleift und
dadurch tödlich verletzt wurde. B. hatte beabsichtigt, in H. um 18.53 h den Bahnbus zu seinem Wohnort T.-D. zu
nehmen. Dieser von den Beteiligten nicht bestrittene Sachverhalt ergibt sich aus den Ermittlungen der
Staatsanwaltschaft, der DB, der Beklagten und des Gerichts im Berufungsverfahren, insbesondere nach Vernehmung
der Zeugen H., K., D. H., S. und H. sowie der Auskünfte des Arbeitgebers F. und der DB.
Hiernach befand sich B. zur Unfallzeit auf einem nach § 550 Abs. 1 RVO versicherten Weg von der Arbeitsstelle in I.
nach seinem Wohnort. Der Versicherungsschutz war nicht etwa dadurch entfallen, daß sich der Arbeitsunfall auf
diesem Weg rund zwei Stunden nach dem gewöhnlichen Arbeitsende ereignete und B. in dieser Zeit private
Betätigungen eingeschoben hatte. Es ist nach den Angaben seines Arbeitgebers und des Zeugen K. erwiesen, daß B.
nach Einstellung der Arbeit gegen 16.00 h erst um 16.15 h an der Betriebsstätte eintraf, sich dort wusch und umzog,
ehe er gegen 16.30 h mit Arbeitskollegen einen Geburtstag mit alkoholischen Getränken feierte. Diese Feier, die eine
private, eingeschobene Tätigkeit darstellt, führte nicht zur Lösung von versicherten Unternehmen. Sie dauerte
lediglich 45 Minuten an. Gegen 17.15 h trat B. nämlich zusammen mit dem Zeugen K., den gewöhnlichen Heimweg
von der Oberen Bahnhofstraße durch die Untere Bahnhofstraße zum Bahnhof I. an, um den Zug – wie auch sonst
üblich – um 17.29 h zu erreichen. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts, der sich der Senat wiederholt
angeschlossen hat, steht ein Versicherter, der den Weg von der Arbeitsstelle nach Hause nicht sogleich nach
Beendigung der versicherten Tätigkeit – hier 16.30 h – antritt und den versicherten Weg aus privaten Gründen
nochmals unterbricht, auf dem restlichen Heimweg wieder unter Versichertenschutz, sofern die Unterbrechung nicht
zwei Stunden überschreitet (vgl. BSG, Urteile vom 28.4.1976 – 2 RU 147/75 – und 24.2.1977 – 8 RU 42/76 –). Der
Zeuge K. bekundete, daß man von der Arbeitsstätte bis zum Bahnhof I. als Fußgänger mindestens 15 Minuten
benötige, so daß sich vorliegend eine private Zwecke dienende Betätigung von insgesamt knapp 1 1/2 Stunden ergibt.
Dazu ist nämlich auch der Aufenthalt bei dem Zeugen H. während des Weges zum Bahnhof und die Zeit zwischen
dem Absetzen des B. durch den Zeugen D. am Bahnhof I. gegen 17.45 h und dem Betreten des Bahnsteigs gegen
18.11 h hinzuzurechnen. Die Beteiligten gehen hiervon übereinstimmend aus.
Ferner ist der Versicherungsschutz nicht deshalb entfallen, weil B. einer sogenannten selbstgeschaffenen erhöhten
Gefahrenlage erlegen sein könnte. Nach der ständigen Rechtsprechung des Reichsversicherungsamtes und des
Bundessozialgerichts, der sich der Senat ebenfalls wiederholt angeschlossen hat, schließt nur dasjenige Verhalten
des Verunglückten den Unfallversicherungsschutz aus, das in hohem Maß vernunftwidrig ist (vgl. Hess. LSG, Urt. v.
22.2.1978 – L-3/U – 1119/77). Die dadurch geschaffene Gefahr ist dann als die rechtlich allein wesentliche
Unfallursache zu werten. Im allgemeinen wird z.B. das Auf- und Abspringen von fahrenden Eisenbahnzügen oder
Straßenbahnen nicht als ein solches, den Versicherungsschutz ausschließendes grob vernunftwidriges Verhalten
angesehen (vgl. RVA, Urt. v. 2.10.1926, I a 1671.25 – in EuM 20, 83 ff; BSG, Urt. v. 30.1.1970 – 2 RU 194/66 –;
28.10.1976 – 8 RU 24/76 – in SozR 2200 § 550 RVO Nr. 21). Das ist auch hier anzunehmen. Es ergeben sich nach
den erfolgten Ermittlungen keine sich so heraushebenden Umstände, die den Schluß auf ein besonders
unvernünftiges Verhalten gestatten. Nach den Bekundungen des Zeugen H. war B. auf den Bahnsteig gelaufen
gekommen, als der Schiebezug gerade soeben losfuhr. Es gelang ihm noch, an der anfahrenden Elektrolok
vorbeizulaufen, den letzten Waggon zu erreichen und die letzte Tür, die sich im letzten Drittel desselben befindet, zu
öffnen. Erst nach drei bis vier weiteren Schritten stürzte er, als es ihm nicht gelang, aufzuspringen. Das steht nach
den von den Beteiligten unwidersprochenen Aussagen des Zeugen H. fest. Dessen Bekundungen kommt besonderer
Beweiswert zu, da er das gesamte Unfallgeschehen von seiner Fahrdienstleiterstelle aus genauestens beobachtet.
Danach war der Zug erst etwa 5 bis 6 Meter gefahren, als B. stürzte. Damit kann die Geschwindigkeit des Zugs, die
der Zeuge H. mit zwischen 5 bis 10 km/h angab, noch nicht so hoch gewesen sein, daß es als in besonderem Maße
vernunftwidrig angesehen werden könnte, in dieser Situation noch aufspringen zu wollen. In diesem Zusammenhang
darf im übrigen nicht unbeachtet bleiben, daß B. den Zug um 18.11 h erreichen mußte, wollte er nicht eine längere
Wartezeit in H. in Kauf nehmen. Nach der Auskunft der DB konnte er dort nach 18.53 h erst um 22.13 h wieder einen
Bahnbus zu seinem Wohnort benutzen.
Von all diesen Umständen geht auch die Beklagte aus. Sie meint jedoch, daß der bei B. festgestellte Blutalkohol die
rechtlich allein wesentliche Unfallursache gewesen sei. Dem stimmt der Senat nicht zu. Entgegen der Auffassung der
Beklagten ist eine alkoholbedingte Verkehrsuntüchtigkeit des B. zur Unfallzeit nicht feststellbar. Nach der
Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (vgl. Urteile v. 26.4.1977 – 8 RU 92/76 – in SozR 2200 § 550 RVO Nr. 29;
8.9.1977 – 2 RU 79/76; 25.11.1977 – 2 RU 55/77 – in SozR 2200 § 548 RVO Nr. 37), der sich der Senat wiederholt
angeschlossen hat (vgl. HLSG, Urteil vom 12.10.1977 – L-3/U-62/76 –), kann bei einem Fußgänger eine
alkoholbedingte absolute Verkehrsuntüchtigkeit nur dann angenommen werden, wenn dieser sich im Zustand des
Vollrausches befindet (vgl. dazu BSGE 12, 242, 243; Gutachten des Bundesgesundheitsamtes "Alkohol bei
Verkehrsstraftaten”, Kirschbaum-Verlag, 2. Auflage, 1962, 52). Das war bei B. zur Unfallzeit nicht der Fall. Diese
Feststellung trifft der Senat, obwohl nach dem Gutachten des Prof. Dr. H. vom 26. August 1976 und seiner
ergänzenden Stellungnahme vom 28. Juli 1978 nach der – ansonsten von den Beteiligten nicht in Zweifel gezogenen –
ordnungsgemäß entnommenen Blutprobe und vorgenommenen Blutalkoholbestimmung von einem Mittelwert von 1,98
% ausgegangen werden kann. Die Beklagte hält diesen ermittelten Wert für zutreffend. Einer weiteren
Beweiserhebung dazu bedarf es nicht, weil dieser vom Senat nach den vorgenommenen Ermittlungen als zutreffend
angesehener BAK-Wert den Klägern keine Rechtsnachteile bringt. Er allein reicht nicht aus, eine alkoholbedingte
Verkehrsuntüchtigkeit als allein rechtlich wesentliche Unfallursache annehmen zu können. Wie das BSG (a.a.O.)
wiederholt dargelegt hat, ist in den Fällen der vorliegenden Art stets zu prüfen, ob noch weitere Umstände vorliegen,
die die Annahme der alkoholbedingten Verkehrsuntüchtigkeit eines Fußgängers rechtfertigen. Es muß sich dabei um
typische Beweisanzeichen handeln, die eindeutig abgrenzbar sind. Ein Fehlverhalten, das ebensogut andere Ursachen
haben kann, wie etwa Unaufmerksamkeit, Leichtsinn und Übermüdung o.ä., die ihren Grund nicht in
vorausgegangenem Alkoholgenuß haben, genügt dazu nicht. Nur im Rahmen einer solchen Überprüfung dürfen die
Ausführungen des 8. Senats des BSG (Urt. v. 26.4.1977 – 8 RU 92/76 –) gesehen werden, wonach es auf die
"Verkehrssituation (je einfacher, d.h. ungefährlicher, um so geringere Anforderungen an das Wahrnehmungs- und
Reaktionsvermögen des Fußgängers) und vor allem das Verhalten des Verunglückten unmittelbar vor und während der
Unfallsituation” ankomme. Nichts anderes hat das Landessozialgericht Berlin in seinem Urteil vom 12.2.1959 (L-3/U –
174/57 in BG 1960, 287) ausgesagt. Die Beklagte verkennt die Rechtsprechung der Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit
zur Feststellung von alkoholbedingter Verkehrsuntüchtigkeit und wendet – wie insbesondere ihr Schriftsatz vom 9.
Februar 1979 verdeutlicht – Blutalkoholgrenzwerte bei einem Fußgänger von über 1,6 ‰ zu schematisch an. Gerade
dies verbieten aber die oben aufgezeigten Umstände (vgl. BSG a.a.O.). Zusätzliche Anhaltspunkte, die auf eine
alkoholbedingte Verkehrsuntüchtigkeit schließen lassen, sind vorliegend nicht ersichtlich. Ein solcher Umstand liegt
nicht bereits darin, daß B. auf einen fahrenden Zug aufspringen wollte und dabei verunglückte. Wie oben bereits
dargelegt, war B. bis zu der letzten Tür des letzten Waggons des gerade erst anfahrenden Zuges gelangt. Die
Situation war noch nicht so gefährlich, daß er von dem Aufsprungversuch unter allen Umständen hätte Abstand
nehmen müssen und nur wegen des Alkoholgenusses nicht zu dieser Erkenntnis gelangen konnte. Der vorliegende
Fall unterscheidet sich grundlegend von dem, den das Landessozialgericht Berlin zu beurteilen hatte. Dort
verunglückte ein Passagier einer Straßenbahn, als er sich bei einer BAK von 1,7 ‰ aus ihr während der Fahrt aus der
offenen Tür mit dem Oberkörper hinausbeugte, um zu erbrechen bzw. angeblich nach einem Bekannten Ausschau zu
halten. Die Beklagte bringt mit der Darlegung ihrer Auffassung eines sogenannten "qualifizierten Fußgängers in
besonderer Verkehrslage” den Gesichtspunkt des Ausschlusses des Versicherungsschutzes bei erhöhter
selbstgeschaffener Gefahrenlage in die Bewertung darüber mit ein, ob alkoholbedingte Verkehrsuntüchtigkeit vorliegt.
Es kann offenbleiben, ob eine solche Betrachtungsweise statthaft ist. Sie muß im Sinne des Vortrags der Beklagten
jedenfalls versagen, wenn – wie hier – keine erhöhte selbstgeschaffene Gefahrenlage vorgelegen hat.
Auch sonst liegen keine Umstände vor, die die Annahme einer alkoholbedingten Verkehrsuntüchtigkeit rechtfertigen.
Es mag sein, daß das ungefragte Anerbieten des B. an B. und den Zeugen H., mit ihm sein Bier zu trinken, eine
gewisse Distanzlosigkeit darstellte. Auch das Rutschen der Bierflasche aus der Hand kann für Alkoholeinfluß
sprechen. Der Zeuge H. deutete es so. Indessen sagen diese Umstände nichts über eine alkoholbedingte
Verkehrsuntüchtigkeit aus. Dieses Verhalten kann auch andere Gründe haben. So wurde B. vom Zeugen D. als
gutmütig bezeichnet. Der Zeuge H. kannte ihn aus seiner Arbeit beim Nachbarn H ... Er konnte sich nicht erklären,
warum B. die Flasche aus der Hand fiel. Ansonsten konnten die Zeugen keine Zeichen einer typischen
Alkoholeinwirkung feststellen. B. bewegte sich im Verkehr, soweit er beobachtet werden konnte, unauffällig. Den
abfahrenden Zug versuchte er zielstrebig und auf kurzem Wege noch zu erreichen. Dies gelang ihm auch, obwohl er
auch durch sein übermäßiges Körpergewicht als stark behindert angesehen werden muß. Wegen der Einzelheiten
verweist der Senat auf das Ergebnis der Beweisaufnahme.
Ist danach aber eine alkoholbedingte Verkehrsunsicherheit nicht erweislich, so geht dies zu Lasten der Beklagten (vgl.
BSG a.a.O.), die im übrigen keine weiteren Beweisanträge stellt.
Entsprechend ihrer Erklärung im Berufungsverfahren wird die Beklagte nicht nur die Hinterbliebenenrenten nach Höhe
und Dauer sondern auch die übrigen Hinterbliebenenleistungen in gesetzlichem Umfang feststellen müssen. Der Senat
konnte sich bezüglich der Hinterbliebenenrenten auf ein Grundurteil beschränken, da solche in einem den
Berufungsausschließungsgrund des § 144 Abs. 1 Nr. 2 SGG übersteigenden Umfang zu gewähren sind.
Die Nebenentscheidungen beruhen auf §§ 193, 160 SGG.