Urteil des LSG Hessen vom 30.03.1994

LSG Hes: verschlechterung des gesundheitszustandes, eintritt des versicherungsfalles, versicherungsträger, klagerücknahme, hauptsache, unverzüglich, erwerbsunfähigkeit, chirurgie, gerichtsakte

Hessisches Landessozialgericht
Beschluss vom 30.03.1994 (rechtskräftig)
Sozialgericht Wiesbaden S 1 B 1/93
Hessisches Landessozialgericht L 13 B 17/93
I. Auf die Beschwerde der Beschwerdeführerin wird der Beschluss des Sozialgerichts Wiesbaden vom 2. Februar
1993 abgeändert.
II. Die Beschwerdegegnerin hat der Beschwerdeführerin die Hälfte ihrer zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung
notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
III. Im übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen.
Tatbestand:
I.
Mit Bescheid vom 23. September 1991 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 5. Dezember 1991 lehnte die
Beschwerdegegnerin einen Antrag der Beschwerdeführerin vom 10. Juni 1991 auf Gewährung von Rente wegen
Erwerbsunfähigkeit, hilfsweise wegen Berufsunfähigkeit, aufgrund des Ergebnisses des Gutachtens der Fachärztin für
Chirurgie, Frau Dr. H., vom 23. Juli 1991 mit der Begründung ab, daß die Beschwerdeführerin nach den ärztlichen
Feststellungen sowohl in ihrem bisherigen Beruf als Betriebsprüferin als auch auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt noch
vollschichtig tätig sein könne. Bei der Beurteilung der Erwerbsfähigkeit hatte Frau Dr. H. folgende Diagnose gestellt:
Bewegungseinschränkung des rechten Kniegelenkes bei erheblichen arthrotischen Veränderungen, endgradige
Bewegungsbehinderung der Lendenwirbelsäule bei mäßigen degenerativen Veränderungen.
Die von der Beschwerdeführerin daraufhin erhobene Klage vor dem Sozialgericht Wiesbaden begründete sie mit
Schriftsatz vom 13. April 1992 unter Beifügung u.a. eines ärztlichen Attestes ihres behandelnden Orthopäden Dr. S.,
in welchem dieser bescheinigte, daß bei ihr ein erheblicher Verschleiß beider Kniegelenke besteht. Das rechte Knie
sei in seiner Beweglichkeit eingeschränkt. Dadurch komme es zu einer Überlastung des linken Knies und in
Verbindung mit dem Verschleiß links, zu massiven Schmerzen und wiederholten Gelenkschwellungen. Das
Sozialgericht holte daraufhin zum Zwecke der Sachaufklärung ein orthopädisches Gutachten von Prof. Dr. med. E. P.
von der Orthopädischen Klinik und Poliklinik der G. Universität in M. ein. In seinem Gutachten vom 25. Juli 1992
diagnostizierte Prof. P. ausgeprägte degenerative Veränderungen im Bereich der Wirbelsäule, insbesondere der
Lendenwirbelsäule, in Form einer Osteochondrose, Spondylose und Spondylarthrose, Polyarthrose der Hände,
degenerative Veränderungen beider Kniegelenke im Sinne einer Gonarthrose, rechts stärker ausgeprägt mit zustand
nach arthroskopisch kontrollierter Gelenkrevision, Beugekontrakturen beider Kniegelenke, rechts stärker als links,
einen Senk-Spreiz-Fuß beidseits sowie Adipositas und schätzte das Leistungsvermögen der Widerspruchsführerin
dahingehend ein, daß diese insbesondere aufgrund der seit der letzten Begutachtung vom 23. Juli 1991 deutlich
verschlechterten Befunde im Bereich beider Kniegelenke nicht mehr in der Lage sei, Arbeiten auf dem allgemeinen
Arbeitsmarkt vollschichtig zu verrichten. Der Anmarschweg sollte nicht über 200 m betragen und die Benutzung
öffentlicher Verkehrsmittel sei nur bedingt möglich. Hinsichtlich des Zeitpunkts, ab wann diese Einschränkungen
gelten, führte der Sachverständige aus, daß der Gesundheitszustand der Beschwerdeführerin im Gutachten vom 23.
Juli 1991 richtig bewertet worden sei. Die von ihm vorgenommene Untersuchung habe gezeigt, daß sich innerhalb
eines Jahres eine ganz erhebliche Verschlechterung habe nachweisen lassen, so daß die oben angegebenen
Einschränkungen ab dem gegenwärtigen Zeitpunkt Gültigkeit hätten.
Mit Schriftsatz vom 7. September 1992 erkannte die Beschwerdegegnerin den Anspruch auf Rente wegen
Erwerbsunfähigkeit auf unbestimmte Zeit unter Zugrundelegung eines am 31. Juli 1992 eingetretenen
Versicherungsfalles an. Ergänzend vertrat sie die Ansicht, daß eine Belastung mit außergerichtlichen Kosten nicht
gerechtfertigt sei, da der Versicherungsfall erst nach Erteilung des angefochtenen Bescheides eingetreten sei und sie
den Anspruch unverzüglich anerkannt habe. Mit Schriftsatz vom 23. September 1992 hat die Prozeßbevollmächtigte
der Beschwerdeführerin dieses Teilanerkenntnis angenommen und den Rechtsstreit für erledigt erklärt. Des weiteren
hat sie beantragt, der Beschwerdegegnerin die Kosten des Verfahrens aufzuerlegen.
Mit Beschluss vom 2. Februar 1993 hat das Sozialgericht Wiesbaden sodann entschieden, daß die
Beschwerdegegnerin der Beschwerdeführerin keine außergerichtlichen Kosten zu erstatten habe. In den Gründen
seiner Entscheidung führte es im wesentlichen aus, die Beteiligten hätten einander außergerichtliche Kosten des
Klageverfahrens nicht zu erstatten, obwohl die Beschwerdeführerin mit ihrer Klage teilweise Erfolg gehabt habe. Ein
Versicherungsträger habe nämlich jedenfalls dann keine Kosten zu tragen, wenn die materiell-rechtlichen
Voraussetzungen des geltend gemachten Anspruchs erst während des Rechtsstreits durch eine Änderung der
Verhältnisse erfüllt würden und er unverzüglich ein Anerkenntnis gebe. In diesem Fall sei nämlich davon auszugehen,
daß die Beschwerdegegnerin auf einen neuen Antrag der Beschwerdeführerin die Leistung zuerkannt hätte und ein
Rechtsstreit nicht erforderlich gewesen wäre. Es sei gerechtfertigt, dem Versicherungsträger außergerichtliche Kosten
des Prozeßgegners aufzuerlegen, wenn sich die Verhältnisse nach Abschluß seines Handelns zugunsten des
Versicherten geändert hätten und er diesem Umstand ohne schuldhaftes Zögern Rechnung trage. Durch das
Gutachten von Prof. P. sei erwiesen, daß die angefochtenen Bescheide zur Zeit der Klageerhebung rechtmäßig
gewesen seien und die Beklagte ihr Anerkenntnis, das rechtlich ein Teilanerkenntnis sei, bereits 3 Wochen nach
Zugang dieses Gutachtens abgegeben habe und erst aufgrund einer in diesem Gutachten festgestellten wesentlichen
Verschlechterung des Gesundheitszustandes der Beschwerdeführerin, Erwerbsunfähigkeit anzunehmen gewesen sei,
könne eine Kostenerstattung durch die Beschwerdegegnerin hinsichtlich des anerkannten Klaganspruchs nicht in
Betracht kommen. Diese habe nämlich alles getan, was von ihr aufgrund der im Gerichtsverfahren eingetretenen
Änderung der Prozeßlage billigerweise habe erwartet werden können. Unter Berücksichtigung dieser Gesichtspunkte
erscheine es nicht sachgemäß, der Beschwerdegegnerin für das von der Beschwerdeführerin angestrebte Verfahren
auch noch die außergerichtlichen Kosten der Beschwerdeführerin aufzuerlegen.
Die gegen diesen Beschluss am 1. März 1993 eingelegte Beschwerde, der das Sozialgericht nicht abgeholfen hat,
wird von der Beschwerdeführerin damit begründet, daß der Beschluss für sie eine wirtschaftliche Härte bedeute, da
sie lediglich eine Rente in Höhe von DM 1.256,– monatlich netto erhalte. Es sei ihr damals auch keine andere Wahl
geblieben, als das Angebot der Beschwerdegegnerin anzunehmen, denn sie sei bereits am 9. Juni 1992 von der
Krankenkasse ausgesteuert worden. Außerdem sei sie krank, ohne Einkommen und nervlich am Ende gewesen.
Hätte sie das Angebot der Beschwerdegegnerin nicht angenommen, so bekäme sie wohl bis heute noch keine Rente
und wäre nach 44 Arbeitsjahren zum Sozialfall geworden. Das Urteil von Fr. Dr. H. sei für sie nicht in Ordnung, denn
sie sei nur eine Ärztin für Chirurgie und innerhalb von 7 Minuten könne man kein so wichtiges Urteil abgeben.
Derselben Meinung sei auch ihr Vorgesetzter, Regierungsdirektor K. gewesen und habe deshalb an Frau Dr. H.
geschrieben. Der Beschwerdebegründung war die Kopie dieses Schreibens von Herrn ltd. Regierungsdirektor K. vom
Finanzamt M. vom 7. Februar 1992 beigefügt, in dem dieser gegenüber Frau Dr. H. darauf hinwies, daß die
Beschwerdeführerin seit dem 12. Dezember 1990 wegen Erkrankung dem Dienst nicht mehr zur Verfügung stehe.
Regelmäßige, auch von dem Krankenversicherungsträger veranlaßte qualifizierte Untersuchungen hätten zu dem
Ergebnis geführt, daß sie nicht dienstfähig sei. Die Entscheidungen der übrigen Ärzte und klinischen Einrichtungen,
die aufgrund intensiver Untersuchungen erfolgt seien, stünden im Widerspruch zu dem Ergebnis der 7-minütigen
Untersuchung von Frau Dr. H. und ließen Zweifel aufkommen an der Stichhaltigkeit ihres Untersuchungsergebnisses.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Schriftsätze der Beteiligten und der Gerichtsakte sowie der
Gerichtsakte aus dem Hauptsacheverfahren vor dem Sozialgericht Wiesbaden und der beigezogenen Verwaltungsakte
der Beschwerdegegnerin ergänzend Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
II.
Die Beschwerde ist statthaft (§ 172, Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz –SGG–). Sie ist form- und fristgerecht eingelegt (§
173 SGG), also zulässig und in der Sache auch teilweise begründet. Das Sozialgericht hat der Beschwerdeführerin zu
Unrecht jeglichen Kostenerstattungsanspruch gegen die Beschwerdegegnerin versagt.
Rechtsgrundlage für die Entscheidung bildet § 193 Abs. 1 SGG, soweit der Rechtsstreit in der Hauptsache durch das
angenommene Teilanerkenntnis der Beschwerdegegnerin erledigt wurde, und § 102 S. 3 SGG, soweit der Rechtsstreit
durch die als Klagerücknahme zu interpretierende einseitige Erledigungserklärung der Beschwerdeführerin in der
Hauptsache sein Ende gefunden hat.
Eine für das Ergebnis entscheidungsrelevante Bedeutung kommt dieser Differenzierung letztlich aber nicht zu, da die
Prüfung des strittigen Kostenerstattungsanspruchs nach den gleichen Grundsätzen zu erfolgen hat.
Im sozialgerichtlichen Verfahren ist danach die Frage der Kostentragung bzw. -erstattung teilweise abweichend etwa
von den Regelungen in der Zivilprozeßordnung (ZPO) oder der Verwaltungsgerichtsordnung unter Berücksichtigung
aller konkreten Umstände nach freiem richterlichen Ermessen in erster Linie nach dem Gedanken der Billigkeit zu
entscheiden. Hierbei ist nach Auffassung des Senats einerseits beachtlich, ob nach der zum Zeitpunkt des Erlassens
der angefochtenen Verwaltungsentscheidung gegebenen Sach- und Rechtslage begründeter Anlaß zur Klageerhebung
gegeben war, andererseits aber auch zu berücksichtigen, welchen mutmaßlichen Ausgang das Hauptverfahren nach
dem Erkenntnisstand zum Zeitpunkt seiner Beendigung gehabt hätte. Eine strikte Bindung an das Ergebnis des
Rechtsstreits besteht jedoch nicht (vgl. z.B. Meyer-Ladewig, 5. Aufl. 1993, § 193, Rz 13 f.). Diese Kriterien
entsprechen am besten der besonderen Ausgestaltung der Stellung der Beteiligten im sozialgerichtlichen Verfahren
und öffnen den gesetzlich gewollten Raum für die Entscheidung des Einzelfalls unter Beachtung von
Billigkeitserwägungen. Dabei darf entgegen teilweise abweichender Auffassungen die Frage der Kostentragung weder
ausschließlich oder primär nach der Wertung des zum Zeitpunkt der Erledigung vorliegenden Sach- und Streitstandes,
noch allein nach dem Gesichtspunkt beurteilt werden, ob der angefochtene Bescheid im Zeitpunkt seines Erlasses
rechtmäßig war oder nicht. Wegen der gerade im Vergleich zum Zivilprozeß vorhandenen Besonderheiten des
sozialgerichtlichen Verfahrens verbietet sich darüber hinaus eine strikte Anknüpfung an die Regelungen in §§ 91, 93
ZPO).
Im Einklang mit diesen rechtlichen Erwägungen hat das Sozialgericht in dem angefochtenen Beschluss zwar
zutreffend ausgeführt, daß ein Versicherungsträger dann keine Kosten zu tragen hat, wenn die materiell-rechtlichen
Voraussetzungen des geltend gemachten Anspruchs erst während des Rechtsstreits durch eine Änderung der
Verhältnisse erfüllt werden und er unverzüglich ein Anerkenntnis abgibt. Auch nach Auffassung des Senats ist es
nicht gerechtfertigt, dem Versicherungsträger außergerichtliche Kosten des Prozeßgegners aufzuerlegen, wenn sich
die Verhältnisse nach Abschluß seines Handelns zugunsten des Versicherten geändert haben und er diesem
Umstand ohne schuldhaftes Zögern Rechnung trägt (ebenso Meyer-Ladewig, a.a.O.). Dies gilt freilich nur mit der
Maßgabe, daß ein Anerkenntnis ab Änderung der Verhältnisse abgegeben wird und keine hinreichenden Hinweise
dafür bestehen, daß die Beendigung des Rechtsstreits in der Hauptsache durch das angenommene Teilanerkenntnis
und die Klagerücknahme im übrigen den Charakter eines Vergleichs aufweist, z.B. wenn Anhaltspunkte dafür stehen,
daß der Versicherungsfall früher als von der Beschwerdegegnerin anerkannt eingetreten ist und möglicherweise zu
einem weitergehenden Rentenanspruch der Beschwerdeführerin geführt hätte.
So liegt der Fall jedoch hier. Bereits durch das der Klagebegründung vom 13. April 1992 beigefügte ärztliche Attest
des behandelnden Orthopäden, Dr. S., ist eine wesentliche Befundverschlechterung an den Kniegelenken der
Beschwerdeführerin in einem Ausmaß dokumentiert, wie sie auch in dem anschließenden Gutachten von Prof. Dr. P.
vom 25. Juli 1992 festgestellt wird. Gegenüber dem Vorgutachten von Frau Dr. H. vom 23. Juli 1991 werden hier
Verschleißerscheinungen nicht nur am rechten, sondern auch am linken Knie bei massiven Schmerzen und
wiederholten Gelenkschwellungen beschrieben. Es ist nicht auszuschließen, daß bereits aufgrund dieser Befunde und
der hierdurch eingeschränkten Wegefähigkeit der Beschwerdeführerin ein Rentenanspruch für die Zeit vor dem von der
Beschwerdegegnerin angenommenen Eintritt des Versicherungsfalles im Juli 1992 bestanden hat. Genauere
Feststellungen hierzu wären durch eine konkrete Anfrage bei dem behandelnden Arzt Dr. S. möglich gewesen. Das
Teilanerkenntnis der Beschwerdegegnerin und die Klagerücknahme im übrigen durch die Beschwerdeführerin sind
daher hinsichtlich des Zeitpunkts des Rentenbeginns im Ergebnis als gegenseitiges Nachgeben von den ursprünglich
eingenommenen Positionen zu werten. Es entspricht daher auch der Billigkeit, der Beschwerdeführerin einen
Anspruch auf Erstattung der Hälfte ihrer außergerichtlichen Verfahrenskosten gegen die Beschwerdegegnerin
zuzusprechen.
Der Beschwerde gegen den Beschluss des Sozialgerichts Wiesbaden war somit teilweise stattzugeben und dieser
Beschluss abzuändern.
Dieser Beschluss ergeht gemäß § 183 SGG kostenfrei. Er ist unanfechtbar, § 177 SGG.