Urteil des LSG Hessen vom 22.07.1997

LSG Hes: rehabilitation, stationäre behandlung, erwerbsfähigkeit, krankenversicherung, behandlungsbedürftigkeit, krankheit, aufzählung, heilbehandlung, ermessen, behinderung

Hessisches Landessozialgericht
Urteil vom 22.07.1997 (rechtskräftig)
Sozialgericht Kassel S 8 J 582/95
Hessisches Landessozialgericht L 2 J 29/97
I. Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Kassel vom 27. November 1996 aufgehoben,
soweit es die Beklagte verpflichtet hat, die außergerichtlichen Kosten des Klägers zu erstatten. Im übrigen wird die
Berufung zurückgewiesen.
II. Die Beklagte hat dem Beigeladenen zu 2) die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung entstandenen
außergerichtlichen Kosten des Berufungsverfahrens zu erstatten.
III. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten über die Erstattung von Kosten.
Der 1962 geborene Beigeladene zu 2) beantragte am 19. März 1993 bei der Beklagten wegen Heroin- und
Alkoholabhängigkeit medizinische Leistungen zur Rehabilitation. Er war nicht krankenversichert. Mit Bescheid vom
30. April 1993 entsprach die Beklagte dem Antrag und bewilligte dem Beigeladenen zu 2) eine stationäre
Heilbehandlung für die Dauer von voraussichtlich 6 Monaten, die am 26. Juli 1993 begann. In der Zeit vom 12. bis 26.
Juli 1993 befand sich der Beigeladene zu 2) in stationärer Behandlung im Psychiatrischen Krankenhaus des Klägers
in H. zur Entgiftung, um anschließend die Langzeittherapie in der von der Beklagten bestimmten
Rehabilitationseinrichtung durchzuführen. Der Kläger begehrte erstmalig im Juli 1993 von der Beklagten die Erstattung
der Kosten für die stationäre Behandlung des Beigeladenen zu 2) in der Zeit vom 12. bis 26. Juli 1993. Die Beklagte
lehnte die Kostenübernahme mit Schreiben vom 28. September und 12. November 1993 ab.
Am 16. Mai 1995 erhob der Kläger Klage bei dem Sozialgericht Kassel, mit der er die Verurteilung der Beklagten zur
Zahlung der Kosten der stationären Entgiftungsbehandlung des Beigeladenen zu 2) geltend machte. Er reichte
während des Klageverfahrens den Entlassungsbericht des Psychiatrischen Krankenhauses H. vom 11. August 1993
ein.
Mit Urteil vom 27. November 1996 verpflichtete das Sozialgericht die Beklagte, dem Kläger die Kosten der stationären
Entgiftungsbehandlung des Beigeladenen zu 2) im Psychiatrischen Krankenhaus H. in der Zeit vom 12. bis 26. Juli
1993 in Höhe von 4.089,40 DM sowie die außergerichtlichen Kosten des Verfahrens zu erstatten. Zur Begründung
seiner Entscheidung führte das Sozialgericht im wesentlichen aus, die Leistungsklage sei zulässig und auch
begründet. Der Kläger habe einen Anspruch gegen die Beklagte auf Übernahme der Kosten für den stationären
Aufenthalt des Beigeladenen zu 2) im Psychiatrischen Krankenhaus H ... Die gesetzlichen Voraussetzungen für die
Bewilligung einer medizinischen Rehabilitationsmaßnahme habe der Beigeladene zu 2) unstrittig insoweit erfüllt, als
ihm die Beklagte auf seinen Antrag vom 19. März 1993 jedenfalls eine stationäre Heilbehandlung zur Durchführung
einer Drogenentwöhnung gewährt habe. Soweit die Beklagte die Übernahme der Kosten für die vorgeschaltete
Entgiftungsbehandlung unter Hinweis auf den Leistungsausschluß nach § 13 Abs. 2 Nr. 1 Sozialgesetzbuch VI (SGB
VI) ablehne, könne dem nicht gefolgt werden. Insoweit bestehe der vom Kläger geltend gemachte
Kostenübernahmeanspruch für die Entgiftungsbehandlung gegenüber der Beklagten zu Recht. Die der
Entwöhnungsbehandlung unmittelbar vorgeschaltete Entgiftung im Psychiatrischen Krankenhaus H. sei nicht als
Phase der akuten Behandlungsbedürftigkeit einer Krankheit i.S.d. § 13 Abs. 2 Nr. 1 SGB VI anzusehen. Die
stationäre Entgiftungsbehandlung eines Abhängigen, die der stationären Entwöhnung vorausgehe, sei ebenso wie
diese eine medizinische Leistung zur Rehabilitation i.S.v. § 15 SGB VI, auf die ein Leistungsanspruch bestehe, wenn
der Versicherte nicht Mitglied der gesetzlichen Krankenversicherung sei und daher keinen Anspruch gegen eine
Krankenkasse habe. Zwar sei nicht zu bestreiten, daß die stationäre Entzugsbehandlung nach Wesen und
Rechtsnatur sowohl Krankenhausbehandlung wie auch medizinische Rehabilitationsmaßnahme sei. Von daher sei
unstreitig, daß die stationäre Entziehungsbehandlung primäre Aufgabe der gesetzlichen Krankenversicherung sei. Im
vorliegenden Fall handele es sich indessen um eine andere Fallkonstellation insoweit, als keine gesetzliche
Krankenversicherung bestehe und auch der Sozialhilfeträger die Übernahme der Kosten der Entziehungsbehandlung
ablehne. Für einen solchen Fall habe das Bundessozialgericht klargestellt, daß der Rentenversicherungsträger auch
die Kosten der Entzugsbehandlung zu tragen habe, damit die Rehabilitation insgesamt erfolgversprechend
durchgeführt werden könne. In seinem Urteil vom 23. April 1992, Az.: 13/5 RJ 12/90 habe das Bundessozialgericht
auch ausgeführt, daß die Entgiftung als Teil eines Gesamtkonzepts zur Rehabilitation unumgänglich sei. Eine
Entgiftung ohne medizinische Absicherung durchzuführen heiße, das Risiko in Kauf zu nehmen, daß der Versicherte
durch eine Rehabilitationsmaßnahme in seiner Erwerbsfähigkeit schlechter statt besser gestellt werde. Die insoweit zu
den Vorschriften der Reichsversicherungsordnung ergangene Rechtsprechung wirke nach Überzeugung des Gerichts
auch im Hinblick auf die ab 1. Januar 1992 in Kraft getretenen Regelungen des SGB VI fort. Daß die der
Entwöhnungsbehandlung vorgeschaltete Entgiftungsbehandlung des Beigeladenen zu 2) medizinisch indiziert
gewesen sei, ergebe sich nicht zuletzt aus dem Entlassungsbericht des Psychiatrischen Krankenhauses H. vom 11.
August 1993. Die weiterhin erforderlichen versicherungsrechtlichen Voraussetzungen für die Gewährung von
Leistungen der medizinischen Rehabilitation an den Beigeladenen zu 2) seien gegeben. Darüber hinaus sei auch das
Antragserfordernis erfüllt. Einer gesonderten Entscheidung über die Zulassung der Berufung habe es vor dem
Hintergrund eines Wertes des Beschwerdegegenstandes von unter 10.000,– DM nicht bedurft, da es sich vorliegend
nicht um eine Erstattungsstreitigkeit i.S.v. § 144 Sozialgerichtsgesetz (SGG) handele.
Mit ihrer am 8. Januar 1997 eingelegten Berufung richtet sich die Beklagte gegen das ihr am 12. Dezember 1996
zugestellte Urteil. Sie vertritt die Auffassung, daß zumindest im vorliegenden Fall eine akute Behandlung des
Beigeladenen zu 2) vorgelegen habe, deren Kosten auch aufgrund des eindeutigen Gesetzeswortlauts des § 13 Abs. 2
Nr. 1 SGB VI nicht durch den Rentenversicherungsträger zu erstatten seien.
Die Beklagte beantragt (sinngemäß), das Urteil des Sozialgerichts Kassel vom 27. November 1996 aufzuheben und
die Klage abzuweisen.
Der Kläger und der Beigeladene zu 1) beantragen, die Berufung zurückzuweisen.
Sie halten das erstinstanzliche Urteil für zutreffend.
Der Beigeladene zu 2) hat sich im Verfahren nicht geäußert und auch keine Anträge gestellt.
Im Termin zur mündlichen Verhandlung am 22. Juli 1997 waren die Beklagte und die Beigeladenen trotz
ordnungsgemäßer Ladung weder erschienen noch vertreten.
Wegen der Einzelheiten im übrigen wird auf die Gerichts- und Verwaltungsakten, die Gegenstand der mündlichen
Verhandlung gewesen sind, Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Der Senat konnte den Rechtsstreit trotz Nichterscheinens der Beklagten und der Beigeladenen zum Termin
verhandeln und entscheiden, da mit der Ladung auf diese Möglichkeit hingewiesen worden ist (§§ 110, 124
Sozialgerichtsgesetz – SGG –).
Die im übrigen zulässige Berufung war zuzulassen.
Nach § 144 SGG bedarf die Berufung der Zulassung u.a. bei einer Erstattungsstreitigkeit zwischen juristischen
Personen des öffentlichen Rechts oder Behörden, wenn der Wert des Beschwerdegegenstandes 10.000,– DM nicht
übersteigt. Vorliegend handelt es sich um eine Erstattungsstreitigkeit i.S.d. § 144 Abs. 1 Nr. 2 SGG, so daß die
Berufung durch das Sozialgericht hätte zugelassen werden müssen. Das Sozialgericht hat die Berufung im Tenor des
Urteils allerdings nicht ausdrücklich zugelassen, da es – wie auch aus der Rechtsmittelbelehrung hervorgeht – die
Berufung irrtümlich auch ohne Zulassung für statthaft gehalten hat. Dieser Irrtum des Gerichts darf jedoch nicht zu
Lasten der Beteiligten gehen. Deswegen muß das Berufungsgericht auf die Berufung die Zulassung prüfen und, wenn
Zulassungsgründe vorliegen, in der Sache entscheiden (vgl. Meyer-Ladewig, Kommentar zum Sozialgerichtsgesetz,
5. Aufl., § 144 Rdnr. 45). Eine Zulassung der Berufung kommt hier nur unter den Voraussetzungen des § 144 Abs. 2
Nr. 1 SGG in Betracht, d.h., wenn die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat. Hierzu ist erforderlich, daß die
Streitsache eine bisher nicht geklärte Rechtsfrage aufwirft, deren Klärung im allgemeinen Interesse liegt, um die
Rechtseinheit zu erhalten und die Weiterentwicklung des Rechts zu fördern. Vorliegend geht es um die Frage, ob § 13
Abs. 2 Nr. 1 SGB VI die Zuständigkeit des Rentenversicherungsträgers zur Leistung einer stationären Entgiftung von
suchtkranken, nicht krankenversicherten Versicherten als Rehabilitationsmaßnahme ausschließt. Zur
Leistungsverpflichtung des Rentenversicherungsträgers für die Durchführung einer Entgiftungsbehandlung nicht
krankenversicherter Abhängiger hat das Bundessozialgericht Entscheidungen bisher nur zu der Rechtslage vor
Inkrafttreten des SGB VI getroffen, so daß hier eine grundsätzliche Bedeutung der Rechtslage bejaht und die
Berufung zuzulassen war.
Die Berufung ist sachlich nur insoweit begründet, als die erstinstanzliche Kostenentscheidung im Hinblick auf § 193
Abs. 4 SGG keinen Bestand haben konnte und dementsprechend aufgehoben werden mußte. Im übrigen hat das
Sozialgericht jedoch der Klage zu Recht stattgegeben.
Der Erstattungsanspruch des Klägers richtet sich nach § 104 SGB X. Danach muß ein Leistungsträger, gegen den der
Berechtigte vorrangig einen Anspruch hat oder hatte, einem nachrangig verpflichteten Leistungsträger erbrachte
Sozialleistungen erstatten, sofern nicht die Voraussetzungen von § 101 Abs. 1 SGB X vorliegen oder der
Leistungsträger bereits selbst ohne Kenntnis von der Leistung des anderen Leistungsträgers geleistet hat. Als Träger
der Sozialhilfe ist der Kläger nach § 2 Abs. 1 Bundessozialhilfegesetz (BSHG) lediglich nachrangig verpflichtet, dem
Beigeladenen zu 2) Leistungen nach den §§ 39, 40 BSHG in Form einer stationären Entgiftungsbehandlung zu
gewähren. Ein Fall des Wegfalls der Leistungsverpflichtung oder der eigenen Leistung des erstattungsberechtigten
Leistungsträgers liegt nicht vor. Der Kläger hat die Erstattung der aufgewandten Kosten gegenüber der Beklagten
auch unstreitig innerhalb der 12-monatigen Ausschlußfrist des § 111 SGB X geltend gemacht.
Nach § 104 Abs. 3 SGB X richtet sich der Umfang des Erstattungsanspruchs nach den für den vorrangig
verpflichteten Leistungsträger geltenden Rechtsvorschriften. In § 9 SGB VI ist bestimmt, daß die Rentenversicherung
medizinische, berufsfördernde und ergänzende Leistungen zur Rehabilitation erbringt, um
1) den Auswirkungen einer Krankheit oder einer körperlichen, geistigen oder seelischen Behinderung auf die
Erwerbsfähigkeit der Versicherten entgegenzuwirken oder sie zu überwinden und 2) dadurch Beeinträchtigungen der
Erwerbsfähigkeit der Versicherten oder ihr vorzeitiges Ausfallen aus dem Erwerbsleben zu verhindern oder sie
möglichst dauerhaft in das Erwerbsleben wiedereinzugliedern.
Dabei bestimmt der Rentenversicherungsträger nach § 13 Abs. 1 SGB VI im Einzelfall unter Beachtung der
Grundsätze der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit Art, Dauer, Umfang, Beginn und Durchführung dieser Leistungen
sowie die Rehabilitationseinrichtung nach pflichtgemäßem Ermessen. § 15 Abs. 1 SGB VI enthält eine beispielhafte
Aufzählung medizinischer Leistungen der Rentenversicherungsträger zur Rehabilitation. Diese Aufzählung ist nicht
abschließend, da die Rentenversicherungsträger im Rahmen der ihnen durch § 9 SGB VI zugewiesenen
Aufgabenstellung alle erforderlichen Reha-Leistungen zu erbringen haben. Die Rena-Leistungen der
Rentenversicherungsträger müssen umfassend und vollständig sein, so daß Leistungen anderer Reha-Träger nicht
erforderlich werden (BSG, Urteil vom 23. April 1992, Az.: 13/5 RJ 12/90). Die Verpflichtung der
Rentenversicherungsträger, nach Lage des Einzelfalles die erforderlichen Leistungen vollständig und umfassend zu
erbringen, hat durch das SGB VI keine Änderung erfahren.
Die Zuständigkeit der Beklagten zur Durchführung der Entgiftungsbehandlung des nicht krankenversicherten,
suchtkranken Beigeladenen zu 2) wird nicht ausgeschlossen durch die Vorschrift des § 13 Abs. 2 SGB VI. Nach § 13
Abs. 2 Nr. 1 SGB VI erbringt der Träger der Rentenversicherung nicht medizinische Leistungen zur Rehabilitation in
der Phase akuter Behandlungsbedürftigkeit einer Krankheit, es sei denn, die Behandlungsbedürftigkeit tritt während
der medizinischen Leistungen zur Rehabilitation ein. Diese Vorschrift will verhindern, daß der
Rentenversicherungsträger Leistungen erbringt, für deren Gewährung er nicht zuständig ist. Das sind alle Leistungen,
die der Wiederherstellung der Gesundheit bei akuter Erkrankung dienen. Da der Rentenversicherungsträger aber alle
medizinischen, berufsfördernden und ergänzenden Leistungen erbringen soll, die ein vorzeitiges Ausscheiden aus
dem Erwerbsleben wegen verminderter Erwerbsfähigkeit verhindern, ist aus der Regelung des Absatz 2 Nr. 1 keine
Beschränkung der Leistungen abzuleiten. Grundsätzlich kann der Rentenversicherungsträger daher jede medizinische
Maßnahme leisten, die dem Ziel dient, die Erwerbsfähigkeit zu bessern oder wiederherzustellen (vgl.
Eicher/Haase/Rauschenbach, Die Rentenversicherung der Arbeiter und Angestellten, Stand: März 1993, § 13 Anm. 3).
Damit wird die Gewährung einer stationären Entgiftungsbehandlung durch den Rentenversicherungsträger nicht
gesetzlich ausgeschlossen. Der Rentenversicherungsträger hat vielmehr auf Antrag des Versicherten zu prüfen und
zu entscheiden, welche Rehabilitationsmaßnahme erforderlich ist, um das Ziel der Rehabilitation zu erreichen. Dabei
kann eine einzelne Maßnahme ausreichend sein; möglicherweise bedarf es aber auch einer Kombination von
Einzelmaßnahmen. Im Falle des Beigeladenen zu 2) war zur sinnvollen Durchführung der Rehabilitation auch die
Entgiftungsbehandlung vor der Entwöhnungsbehandlung notwendig, wie von den Beteiligten auch nicht gestritten wird.
Weiterhin erfüllte der Beigeladene zu 2) die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen für die Gewährung der
Rehabilitationsmaßnahme durch die Beklagte.
Nach alledem ist die Beklagte dem Kläger zur Erstattung der Kosten für die erbrachte Entgiftungsbehandlung des
Beigeladenen zu 2) verpflichtet.
Die Berufung konnte somit in der Hauptsache keinen Erfolg haben.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Der Senat hat die Revision aus den Gründen des § 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG zugelassen.