Urteil des LSG Hessen vom 13.03.2017

LSG Hes: kündigung, besitz, arbeitsunfall, auskunft, aushändigung, feststellungsklage, rücknahme, anfang, unternehmen, arbeitsgericht

Hessisches Landessozialgericht
Urteil vom 11.02.1976 (rechtskräftig)
Sozialgericht Gießen S 3 U 86/74
Hessisches Landessozialgericht L 3 U 363/75
Auf die Berufung des Klägers werden das Urteil des Sozialgerichts Gießen vom 20. Februar 1975 sowie die
Bescheide des Beklagten vom 1. April und 26. Juni 1974 aufgehoben und die am 26. Januar 1973 erlittene
Beckenprellung beiderseits als Folge eines Arbeitsunfalls festgestellt.
Der Beklagte hat den Kläger die außergerichtlichen Kosten des Rechtsstreits zu erstatten.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten um die Feststellung der Folgen eines Arbeitsunfalls.
Der 1929 geborene Kläger war als kriminal-technischer Angestellter bei der Kriminalstelle in tätig. Am 3. Mai 1973
erfuhr der Beklagte auf die Anzeige der AOK , daß der Kläger auf dem Weg zu seiner Dienststelle beim Überqueren
der F.-Straße in von einem Personalkraftwagen – Pkw – angefahren worden sei und Prellungen am Becken bzw. an
der Hüfte und an Beinen erlitten habe. Er habe wegen der Kündigung seines Beschäftigungsverhältnisses seine
Dienststelle aufsuchen wollen. In dem von dem Beklagten beigezogenen Krankheitsbericht des Dr. vom 12. Oktober
1973 werden eine Prellung der Hüfte und ein Hämatom bestätigt. Dr. bescheinigte Arbeitsunfähigkeit für die Zeit vom
26. Januar bis 6. April 1973. Auf Antrage erklärte der Kläger am 28. Oktober 1973, daß er am 26. Januar 1973 von
einem Pkw angefahren worden sei, als er das seiner Dienststelle gegenüberliegende Büro seines
Prozeßbevollmächtigten habe aufsuchen wollen, um sich dort für eine beabsichtigte Rücksprache bei seiner
Dienststelle Rat zu holen. Der Beklagte zog außerdem die Akten des Regierungspräsidenten in D. bei, denen zufolge
der Kläger durch seinen Prozeßbevollmächtigten der Kündigung mit Schreiben vom 26. Januar 1973 widersprach und
gleichzeitig am 30. Januar 1973 bei dem Arbeitsgericht Kündigungsschutzklage erhob. In einem von dem
Kriminalhauptkommissar von der Kriminalhauptstelle gefertigten Vermerk vom 15. Februar 1974 wurde es nicht als
glaubhaft angesehen, daß sich der Unfall am 26. Januar 1973 ereignet hatte. Hierauf gestützt lehnte der Beklagte mit
formlosem Bescheid vom 2. April 1974 die Feststellung einer Entschädigung ab, da der behauptete Arbeitsunfall vom
26. Januar 1973 nicht erweislich sei.
Mit am 11. April 1974 bei dem Beklagten eingegangenen Schreiben vom 9. April 1974, das er dem Sozialgericht
Gießen – SG – am 2. Mai 1974 vorlegte, hat der Kläger Klage erhoben und geltend gemacht: Bei der am 26. Januar
1973 erlittenen Beckenprellung handele es sich um einen Arbeitsunfall. Diese sei zwar zur Zeit ausgeheilt, lasse aber
den Eintritt von Spätfolgen befürchten. Er sei von der erfolgten Kündigung überrascht worden, nachdem ihm Anfang
Januar 1973 der damalige stellvertretende Dienststellenleiter Kriminal-Oberkommissar aufgrund einer erstellten
Beurteilung erklärt gehabt habe, es komme keine Kündigung in Betracht. Er habe deshalb am 26. Januar 1973 von
ihm wissen wollen, wieso es nun doch zur Kündigung gekommen sei und feststellen wollen, ob eine Rücknahme
dieser Kündigung möglich sei. Zu diesem Zweck sei er zu seiner Dienststelle gegangen, vor deren Betreten er aber
zunächst seinen Prozeßbevollmächtigten zur Rücksprache habe aufsuchen wollen. Das SG hat, nachdem der
Beklagte den förmlichen Ablehnungsbescheid vom 26. Juni 1974 vorgelegt hatte, die Auskunft des
Prozeßbevollmächtigten des Klägers vom 24. August 1974 eingeholt, in der dieser dessen Angaben im wesentlichen
bestätigte. Sodann hat es nach Beiziehung einer Auskunft des Ordnungsamtes der Stadt vom 27. Januar 1975 und
eines Teiles des W.er Stadtplanes über die örtlichen Verhältnisse in der F.-Straße mit Urteil vom 20. Februar 1975 die
Klage abgewiesen und zur Begründung ausgeführt: Der Kläger habe nach Ankunft mit seinem Pkw auf einem
Parkplatz in der Nähe seiner Dienststelle in der F.-Straße den Unfall erlitten, als er am 26. Januar 1973 das
gegenüberliegende Büro seines Prozeßbevollmächtigten habe aufsuchen wollen. Dabei habe er sich nicht auf einem
versicherten Weg im Sinne des § 550 Reichsversicherungsordnung – RVO –, sondern auf einem unversicherten
Abweg befunden. Die von ihm beabsichtigte Rücksprache bei seinem Prozeßbevollmächtigten habe zwar im
Zusammenhang mit der Kündigung seines Beschäftigungsverhältnisses, zähle aber zu den sog. eigenwirtschaftlichen
Handlungen, da er nicht aus einer sich aus dem Arbeitsverhältnis ergebenden Verpflichtung gehandelt habe.
Gegen dieses an ihn mit Einschreiben am 20. März 1975 abgesandte Urteil hat der Kläger am 18. April 1975 Berufung
eingelegt und im wesentlichen sein bisheriges Vorbringen wiederholt. Persönlich vor dem Senat gehört, hat er
außerdem erklärt: Kurz vor Erreichen seiner Dienststelle sei ihm eingefallen, daß er das für die beabsichtigte
Rücksprache erforderliche Kündigungsschreiben noch nicht im Besitz habe. Um dieses zu erlangen, habe er seinen
damaligen Zustellungsbevollmächtigten aufsuchen und bei dessen Anwesenheit auch um Rat fragen wollen. Bei der
danach vorgesehenen Rücksprache auf seiner Dienststelle hätte er außerdem auf eine schnelle Aushändigung der
Arbeitspapiere und eines Zeugnisses gedrungen sowie seine dort noch befindlichen persönlichen Sachen abgeholt.
Der Kläger beantragt, das Urteil des Sozialgerichts Gießen vom 20. Februar 1975 sowie die Bescheide vom 1. April
und 26. Juni 1974 aufzuheben und festzustellen, daß die am 26. Januar 1973 erlittene beiderseitige Beckenprellung
Folge eines Arbeitsunfalls sei.
Der Beklagte beantragt, die Berufung zurückzuweisen.
Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend und macht darüber hinaus geltend, daß es, nachdem die Beckenprellung
folgenlos ausgeheilt sei, dem Kläger an einem berechtigten Feststellungsinteresse fehle.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Unfall- und Streitakten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die statthafte Berufung ist frist- und formgerecht eingelegt und daher zulässig.
Sie ist auch begründet.
Die vom Kläger erhobene Feststellungsklage ist zulässig (§ 55 Abs. 1 Nr. 3 Sozialgerichtsgesetz – SGG –). Mit dem
formlosen Bescheid vom 1. April 1974 und dem nach § 96 SGG zum Gegenstand des sozialgerichtlichen Verfahrens
gewordenen förmlichen Bescheid vom 26. Juni 1974 hat der Beklagte die Anerkennung eines Arbeitsunfalls dem
Grunde nach abgelehnt. Außerdem meint er, daß wegen einer folgenlosen Ausheilung der erlittenen Beckenprellung
kein berechtigtes Feststellungsinteresse mehr bestehe. Dem folgt der Senat nicht. Der Kläger hat unter Vorlage der
ärztlichen Bescheinigung des Dr. vom 11. Oktober 1974 schlüssig dargetan, daß wegen dieser Verletzung Spätfolgen
nicht auszuschließen sind. Er hat daher ein berechtigtes Interesse an einer baldigen Feststellung. Die
Feststellungsklage ist auch begründet. Das sozialgerichtliche Urteil und die angefochtene Bescheide mußten
aufgehoben werden, da der Kläger die beiderseitigen Beckenprellungen bei einem Arbeitsunfall erlitten hat (§ 548
RVO).
Zunächst ist aufgrund der glaubhaften Angaben des Klägers, der vom Senat vor seiner Anhörung auf die Folgen eines
Prozeßbetrugs ausdrücklich hingewiesen worden ist, festzustellen, daß er am Freitag, dem 26. Januar 1973, mittags
nach Rückkehr von einer Urlaubsreise durch seinen früheren Zustellungs- und jetzigen Prozeßbevollmächtigten von
der Kündigung seines Dienstverhältnisses zum 31. Januar 1973 erfuhr. Zunächst wollte er sogleich seine Dienststelle
zu einer Rücksprache aufsuchen. Sein Vorgesetzter, Kriminaloberkommissar , hatte ihm noch Anfang Januar 1973
bei Erstellung einer dienstlichen Beurteilung erklärt, daß eine Kündigung nicht erfolgen werde. Von ihm wollte er nun
am 26. Januar 1973 die Kündigungsgründe erfahren und eventuell eine Rücknahme derselben erreichen. Außerdem
beabsichtigte er, für den Fall des Scheiterns der Wiedereinstellung seine persönlichen Sachen abzuholen und auf eine
beschleunigte Aushändigung der Arbeitspapiere und eines Zeugnisses zu drängen. Weiterhin sieht der Senat als
erwiesen an, daß dem Kläger, als er vor seiner Dienststelle angelangt war, einfiel, noch nicht im Besitz des an seinen
damaligen Zustellungsbevollmächtigten übergebenen Kündigungsschreibens zu sein. Er änderte daher seinen
Entschluß und wollte sich zunächst dieses Schreiben in dem auf der anderen Straßenseite etwas versetzt
befindlichen Büro seines Zustellungsbevollmächtigten holen und gegebenenfalls von ihm beraten lassen. Zu diesem
Zweck mußte er die Frankfurter Straße unter Abwendung von seiner Dienststelle überschreiten. Kurz nach dem
Betreten der Straße erlitt er die Beckenprellungen beiderseits.
Der Kläger befand sich am Unfalltag zunächst auf einem versicherten Weg zur Arbeitsstätte, und zwar bis zu dem
Zeitpunkt, als er sich in der Nähe seiner Dienststelle entschloß, zunächst zur Kanzlei seines damaligen
Zustellungsbevollmächtigten zu gehen (§ 550 Abs. 1 RVO). Dem steht nicht entgegen, daß er an diesem Tag wegen
Urlaubs keinen Dienst zu tun hatte. Er wollte nämlich seine Dienststelle in erster Linie aufsuchen, um zu versuchen,
die erfolgte Kündigung rückgängig zu machen. Damit war aber der aus dem noch bestehenden Dienstverhältnis
folgende enge innere Zusammenhang mit seiner dienstlichen Tätigkeit gegeben. Wie das Bundessozialgericht – BSG
– zutreffend entschieden hat, muß das Bestreben eines Arbeitnehmers, mit geeigneten Mitteln ein grundsätzlich
anerkanntes Recht auf Beibehaltung seines Arbeitsplatzes geltend zu machen, im allgemeinen als mit der
versicherten Tätigkeit zusammenhängend anerkannt werden. Die der Abwendung einer Kündigung dienende
Besprechung des Arbeitnehmers mit einem Vorgesetzten kann deshalb z.B. ebensowenig als eine rein private
Verrichtung angesehen werden, wie etwa eine Vorsprache beim Betriebsrat zwecks Einlegung des Einspruchs gegen
die Kündigung (vgl. BSG, Urt. v. 23.10.1970 – 2 RU 162/68 – in SGb 1972, 218 mit zust. Anm. von Neumann).
Der nach § 550 Abs. 1 RVO versicherte Weg des Klägers zur Arbeitsstätte war zwar beendet, als er sich vor dem
Erreichen seiner Dienststelle zur Straße wandte, um diese zu überschreiten und das Büro seines damaligen
Zustellungsempfängers aufzusuchen. Auch dieser Weg, auf dem er verunglückte, stand aber in einem inneren
Zusammenhang mit seiner versicherten Tätigkeit, weil er sich in den Besitz des Kündigungsschreibens seines
Arbeitgebers setzen wollte, der ein wesentliches Interesse an einer ordnungsgemäßen Kündigung hatte. Zwar war
diese durch die Übergabe des Kündigungsschreibens an den Zustellungsbevollmächtigten des Klägers rechtswirksam
zugestellt worden.
Jedoch kann die Inbesitznahme dieses Schreibens durch den Kläger nicht getrennt hiervon betrachtet werden,
sondern stellt einen einheitlichen Lebensvorgang dar mit der Rechtsfolge, daß hierfür erforderliche Maßnahmen
ebenfalls im betrieblichen Interesse liegen und daher gemäß § 548 RVO versichert sind. Die gleiche Rechtslage würde
z.B. auch bestehen, wenn ein Versicherter ein vom Briefzusteller beim Postamt niedergelegtes Kündigungsschreiben
dort abholen will und dabei verunglückt. Der Kläger stand somit bereits deshalb unter Versicherungsschutz, weil er
das Kündigungsschreiben in seinen Besitz bringen wollte, um dann mit seinem Vorgesetzten wegen der Kündigung
Rücksprache zu nehmen.
Der Kläger hat weiter glaubhaft angegeben, wenn sein zustellungsbevollmächtigter Rechtsanwalt anwesend gewesen
wäre, hätte er wohl auch mit ihm über die Kündigung gesprochen. Es kann die Auffassung vertreten werden, daß der
Kläger auch im Hinblick hierauf nicht eigenwirtschaftlich tätig gewesen war, sondern dieses Handeln sich allein aus
dem gekündigten Beschäftigungsverhältnis ergab und dem Gang eines gekündigten Arbeitnehmers zum Betriebs-
oder Personalrat gleichzusetzen ist, den das BSG für versichert angesehen hat (vgl. BSG a.a.O.). Allerdings ist auch
nicht zu verkennen, daß auf Wegen, die nicht zur Arbeitsstätte oder z.B. zum Aufenthaltsort des Betriebsleiters
zurückgelegt werden, und daher nach § 550 Abs. 1 RVO versichert sind (vgl. Urteil des BSG vom 21. Oktober 1958, 2
RU 135/57), sondern nach anderen Orten, z.B. zum Rechtsanwalt oder Arbeitsgericht, das Vorliegen des
Versicherungsschutzes zweifelhaft werden kann.
Geht man davon aus, daß der Kläger beabsichtigte, sich gegebenenfalls von seinem Zustellungsbevollmächtigten
beraten zu lassen, und sieht man dies als eigenwirtschaftliche Verrichtung an, so läge eine sog. gemischte Tätigkeit
vor. Bei dieser ist der Versicherungsschutz zu bejahen, wenn sie dem Unternehmen wesentlich dient; sie braucht ihm
aber nicht überwiegend zu dienen. Das hängt vielmehr davon ab, ob die vorgesehene betriebliche Verrichtung nicht
nur gelegentlich eines nicht versicherten Abweges stattfinden soll, sondern nach Art und Dauer für das Unternehmen
bedeutsam ist (BSG, Urt. v. 21.8.1956 – 2 RU 129/54). Nach den Feststellungen des Senats befand sich der Kläger
auf dem Weg in das Büro seines Zustellungsbevollmächtigten, um von dort das Kündigungsschreiben, dessen
genauen Inhalt er nicht kannte, abzuholen. Nur gelegentlich dieses Weges hätte er mit ihm, von dem er nicht wußte,
ob er ihn antreffen würde, wegen des weiteren Vorgehens nach der Kündigung gesprochen. Im Vordergrund stand
demgegenüber das Bestreben, das Kündigungsschreiben zu erlangen.
Die Nebenentscheidungen beruhen auf §§ 193, 180 Abs. 1 und 2 Nr. 1 SGG.