Urteil des LSG Hessen vom 07.11.1996

LSG Hes: entziehung, wohnung, rücknahme, heimatstaat, kriegsopfer, kroatien, versorgung, verwaltungsverfahren, ermessensprüfung, weltkrieg

Hessisches Landessozialgericht
Urteil vom 07.11.1996 (rechtskräftig)
Sozialgericht Frankfurt S 11 V 2568/93
Hessisches Landessozialgericht L 5 V 1191/94
I. Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 7. Oktober 1994 wird
zurückgewiesen.
II. Der Beklagte hat dem Kläger die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen Aufwendungen beider
Instanzen zu erstatten.
III. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten über die Rechtmäßigkeit der Entziehung von Versorgungsleistungen nach dem
Bundesversorgungsgesetz (BVG).
Der 1934 geborene Kläger hat als ausländischer Staatsangehöriger seinen Wohnsitz in der Republik Kroatien.
Erstmals am 23. September 1988 beantragte er bei dem Beklagten die Gewährung von Beschädigtenversorgung und
trug vor, am 4. Dezember 1943 durch liegengebliebenes Kriegsmaterial verletzt worden zu sein. Er sei erblindet und
zu 100 % als ziviles Kriegsopfer in seinem Heimatland anerkannt. Er legte einen entsprechenden
Anerkennungsbescheid und Zahlungsbelege vor. Nach weiteren Ermittlungen erkannte der Beklagte mit Bescheid vom
29. Januar 1991 die Blindheit als Schädigungsfolge an und gewährte Beschädigtenrente nach einer Minderung der
Erwerbsfähigkeit (MdE) von 100 v.H. ab September 1988. Zur Begründung führte er u.a. aus, daß die Leistung als
sogenannte "Kannleistung” gemäß § 64 e Abs. 1 bzw. § 64 Abs. 2 BVG bewilligt werde.
Diesen Bescheid nahm der Beklagte ohne vorherige Anhörung des Klägers mit Aufhebungsbescheid vom 11. Januar
1993 mit Wirkung ab 1. Februar 1993 zurück und führte zur Begründung aus, daß der Bewilligungsbescheid
rechtswidrig sei, da eine Doppelversorgung gemäß § 7 Abs. 2 BVG unzulässig sei. Der Kläger erhalte bereits Rente
als Zivilkriegsopfer von seinem Heimatstaat und habe deshalb keinen weiteren Anspruch nach dem BVG. Die
Aufhebung der Rentenbewilligung sei aus öffentlichem Interesse geboten. Zugunsten der Interessen des Klägers sei
berücksichtigt worden, daß der Grund für das Zustandekommen des rechtswidrigen Bescheides allein in der
Verantwortung der deutschen Verwaltung liege. Im Rahmen der Ermessensprüfung sei die persönliche Lage des
Klägers berücksichtigt worden. Die niedrige Höhe der Versorgung des Heimatstaates könne nicht zugunsten des
Klägers berücksichtigt werden, da auf diese wirtschaftlichen Verhältnisse deutsche Verwaltungsentscheidungen
keinen Einfluß hätten.
Hiergegen legte der Kläger Widerspruch ein und trug vor, daß die Entziehung der Versorgungsleistungen rechtswidrig
sei. Er erhalte von seinem Heimatstaat nur ein symbolisches Blindengeld von rund 40,00 DM. Im Vertrauen auf die
Versorgungsleistungen habe er eine angemessene Wohnung gemietet und sei nunmehr auf diese Zahlungen
angewiesen. Durch Widerspruchsbescheid vom 20. September 1993 wies der Beklagte den Widerspruch zurück; da
den Kläger kein Verschulden an der Rechtswidrigkeit des Bescheides treffe, brauche er die gezahlten Leistungen
nicht zurückzuerstatten. Für die Zukunft überwiege jedoch das öffentliche Interesse an der Rücknahme. Es sei
bekannt, daß der Kläger schon in jungen Jahren schwer geschädigt worden sei und in schwierigen wirtschaftlichen
Verhältnissen lebe. Diese Umstände würden bei Sozialleistungen vielfach zutreffen und könnten bei allem Verständnis
nicht dazu führen, daß lebenslang fortgesetzt werde, was nach dem Gesetz nicht hätte sein dürfen.
Am 20. Oktober 1993 hat der Kläger vor dem Sozialgericht Frankfurt am Main Klage erhoben und die Ansicht
vertreten, daß die Entziehung der Versorgungsleistungen rechtswidrig sei und deshalb nicht hätte erfolgen dürfen.
Mit Urteil vom 7. Oktober 1994 hat das Sozialgericht den angegriffenen Bescheid und den Widerspruchsbescheid
aufgehoben. In den Entscheidungsgründen hat es im wesentlichen ausgeführt, eine Aufhebung hätte nur unter der
Voraussetzung des § 45 Sozialgesetzbuch – Verwaltungsverfahren – (SGB X) erfolgen können. Entscheidend sei,
daß der Beklagte von der ihm nach § 45 Abs. 1 SGB X obliegenden Pflicht zur Ausübung sachgerechten Ermessens
keinen Gebrauch gemacht habe. Der Beklagte habe in seiner Entscheidung nicht auf den individuellen Einzelfall des
Klägers abgestellt. Vielmehr weise die Formulierung darauf hin, daß der Beklagte bei seiner Entscheidung gerade
nicht die individuellen Verhältnisse des vorliegenden Falles im Auge gehabt habe, sondern nur solche Aspekte, die für
sämtliche Fälle der Gewährung von Versorgungsleistungen an Zivilkriegsopfer im ehemaligen Jugoslawien zutreffen
würden. Das Fehlen jeglicher Einzelfallbezogenheit werde insbesondere dadurch deutlich, daß in einer Vielzahl von
Fällen die gleiche Formulierung benutzt worden sei. Es sei gerichtsbekannt, daß der Beklagte nach Bekanntwerden
der Urteile des Bundessozialgerichts (BSG) vom 20. Mai 1992 zahlreiche Verwaltungsverfahren zur Rückforderung
eingeleitet und in ca. 300 gleichgelagerten Fällen praktisch wortgleiche Rücknahme- und Widerspruchsbescheide
erlassen habe. Der Bescheid und der Widerspruchsbescheid seien deshalb wegen der nicht ordnungsgemäßen
Ausübung des Ermessens aufzuheben gewesen.
Gegen das am 25. November 1994 zugestellter Urteil hat der Beklagte am 12. Dezember 1994 beim Hessischen
Landessozialgericht Berufung eingelegt. Er ist der Ansicht, bei Rücknahmeentscheidungen nach § 45 SGB X sei im
sozialen Entschädigungsrecht wenigstens im Regelfall überhaupt kein Ermessen auszuüben. Dies habe der 9/9 a-
Senat des BSG in ständiger Rechtsprechung festgestellt. Der vorliegende Fall sei ein klassischer Regelfall. Es habe
deshalb kein Ermessen ausgeübt werden müssen. Außerdem ergäbe sich aus den Texten des angefochtenen
Bescheides und Widerspruchsbescheides, daß sowohl die Höhe der ausländischen Zivilopferrente als auch das
Lebensalter, die Schädigung und das relativ geringe Gesamteinkommen in die Überlegung einbezogen worden seien.
Schließlich könnten die derzeitigen Auswirkungen des Bürgerkrieges im ehemaligen Jugoslawien nicht berücksichtigt
werden. Denn für die Folgen des Bürgerkrieges, der ein halbes Jahrhundert nach dem Zweiten Weltkrieg entbrannt sei,
könne die Bundesrepublik Deutschland nicht verantwortlich gemacht werden.
Der Beklagte beantragt, das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 7. Oktober 1994 aufzuheben und die
Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt, die Berufung zurückzuweisen.
Der Kläger ist der Ansicht, seine besondere Lage hätte bei der Entziehung der Versorgung berücksichtigt werden
müssen. Insbesondere sei auch zu berücksichtigen gewesen, daß der Kläger in dem Staat Kroatien lebe. Hierbei
handele es sich um einen neu gegründeten Staat, der noch nicht in der Lage gewesen sei, mit der Bundesrepublik
Deutschland ein Sozialabkommen zu schließen; dies dürfe nicht zu Lasten des Klägers gehen.
Der Senat hat mit gerichtlichem Schreiben vom 24. September 1996 die Urteile des Senates vom 14. Dezember 1995
in vergleichbaren Fällen in das Verfahren eingeführt und Kopien der Urteile an die Beteiligten gesandt.
Beide Beteiligte haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung nach Lage der Akten einverstanden
erklärt.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichts- und Verwaltungsakte Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Der Senat konnte den vorliegenden Rechtsstreit nach Lage der Akten ohne mündliche Verhandlung entscheiden, da
beide Beteiligten sich mit dieser Vorgehensweise einverstanden erklärt haben (§ 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz –
SGG –).
Die Berufung ist zulässig, denn sie ist form- und fristgerecht eingelegt sowie an sich statthaft (§ 151 i.V.m. §§ 143,
144 Abs. 1 Satz 1 SGG).
Die Berufung ist jedoch sachlich unbegründet. Zu Recht hat das Sozialgericht Frankfurt am Main mit Urteil vom 7.
Oktober 1994 den Bescheid vom 11. Januar 1993 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20. September 1993
aufgehoben, denn diese Verwaltungsentscheidungen sind rechtswidrig.
Die Rücknahme eines rechtswidrig begünstigenden Verwaltungsaktes gemäß § 45 Abs. 1 SGB X unterliegt
bestimmten Voraussetzungen und Einschränkungen (§ 45 Abs. 2–4 SGB X). Der Senat hat bereits in zwei
gleichgelagerten Fällen (vgl. Hess. Landessozialgericht, Urteile vom 14. Dezember 1995 – L-5/V – 1221/94 und L-5/V-
345/95) entschieden, daß die Rücknahmebescheide rechtswidrig sind. Diese Urteile sind bereits in das Verfahren
eingeführt und den Beteiligten in Kopie zur Kenntnisnahme übersandt worden. Der Senat nimmt vollinhaltlich hierauf
Bezug.
Entscheidend ist hiernach zunächst, daß die – rechtswidrige – Entscheidung und die Bewilligung von
Versorgungsleistungen allein in den Verantwortungsbereich der Versorgungsverwaltung fallen. Eine Doppelversorgung
ist gemäß § 7 Abs. 2 BVG grundsätzlich ausgeschlossen. Das Bundessozialgericht (BSG) hat in ständiger
Rechtsprechung (BSG, Urteil vom 25. November 1976 – 8 RV 188/75, Urteile vom 20. Mai 1992 – 9a RV 11/91 und 9a
RV 12/91, zuletzt Urteil vom 10. August 1993 – 9/9a RV 39/92) entschieden, daß Kriegsopfer, die von ihrem
Heimatstaat Versorgungsleistungen erhalten, keinen weiteren Anspruch nach dem BVG haben. Entscheidend ist
grundsätzlich nur der Anspruch. Unerheblich ist, ob und inwieweit die Geldleistung letztlich erbracht wird. Der Kläger
ist als ziviles Kriegsopfer anerkannt. Der ehemalige Staat Jugoslawien gewährte auch Versorgungsleistungen. Die
selbständigen Staaten Bosnien-Herzegowina, Slowenien und Kroatien haben insoweit die früheren jugoslawischen
Rechtsnormen auch übernommen.
Entscheidend ist ferner auch im vorliegenden Fall, daß ein Ermessensfehler vorliegt, so daß die angefochtenen
Entscheidungen rechtswidrig sind (vgl. § 54 Abs. 2 SGG). Der Senat sieht im vorliegenden Fall keinen Regelfall, der
jegliche Ermessenserwägung der Verwaltung verzichtbar macht. Vielmehr fehlt die notwendige pflichtgemäße
Ermessensentscheidung. Es liegt eine sogenannte Ermessensunterschreitung vor. Denn es wurde dieselbe
Formulierung für eine Vielzahl von Fällen benutzt und damit Verhältnisse nur pauschal berücksichtigt, aber nicht alle
wesentlichen Umstände des Einzelfalles berücksichtigt. Auch im vorliegenden Fall waren weitere Umstände bekannt,
jedenfalls hätten sie von dem Beklagten ermittelt werden können und müssen. Der Kläger hat selbst vorgetragen, daß
er im Vertrauen auf die Versorgungsleistungen eine Wohnung gemietet hat. Er erhält nur rund 40,00 DM Blindengeld
und kann sich dadurch ohne die Gewährung von Versorgungsleistungen keine Wohnung leisten. Der Beklagte hat von
dem ihm eingeräumten Ermessen nicht ordnungsgemäß Gebrauch gemacht, denn er hat insoweit zu diesem
Vorbringen des Klägers keine individuelle Ermessensprüfung vorgenommen. Die Berufung war deshalb – wie bereits in
vergleichbaren Fällen – zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 193 SGG.
Die Revision war zuzulassen, da das BSG in vergleichbaren Fällen auf die Nichtzulassungsbeschwerde des
Beklagten die Revision bereits zugelassen hat.