Urteil des LSG Hessen vom 26.09.2007

LSG Hes: versorgung, behandlung, bereitschaftsdienst, gesundheitszustand, ehepartner, befragung, widerspruchsverfahren, sozialversicherungsrecht, abgeltung, daten

Hessisches Landessozialgericht
Urteil vom 26.09.2007 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Frankfurt S 5/28 KA 2240/04
Hessisches Landessozialgericht L 4 KA 65/06
Bundessozialgericht B 6 KA 51/07 R
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 28. Juni 2006 wird
zurückgewiesen.
Der Kläger hat die Kosten des Rechtsstreits auch im zweiten Rechtszug zu tragen.
Die Revision wird zugelassen.
Der Streitwert wird auf 3.100 EUR festgesetzt.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten um die Abrechenbarkeit von Leistungen nach Nr. 19 des Einheitlichen Bewertungsmaßstabs
für ärztliche Leistungen (EBM-Ä; Erhebung der Fremdanamnese) im organisierten ärztlichen Notdienst in den
Quartalen II und III/2003.
Der Kläger nimmt als Facharzt für Allgemeinmedizin an der vertragsärztlichen Versorgung und am organisierten
ärztlichen Notdienst im Zuständigkeitsbereich der Beklagten teil.
Für das Quartal II/2003 berechnete er in 95 Fällen im Rahmen des organisierten Notdienstes Leistungen nach Nr. 19
EBM-Ä. Mit Bescheid vom 12. Januar 2004 strich die Beklagte im Rahmen der sachlich-rechnerischen Berichtigung
diese Leistungen, weil sie im organisierten Notdienst nicht abrechenbar seien. In dem sich anschließenden
Widerspruchsverfahren forderte die Beklagte den Kläger mit Schreiben vom 24. März 2004 auf, sich in jedem
Einzelfall dazu zu äußern, ob die Erhebung der Fremdanamnese tatsächlichen durch krankheitsbedingte
Kommunikationsstörungen oder durch sprachliche oder altersbedingte Verständigungsschwierigkeiten erforderlich
gewesen sei. Im Quartal III/2003 berechnete der Kläger im organisierten Notdienst in 60 Fällen Leistungen nach Nr. 19
EBM-Ä, die die Beklagte mit Bescheid vom 24. März 2004 ebenfalls strich. Die Widersprüche gegen beide Bescheide
wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 27. September 2004 zurück.
Gegen den ihm am 1. Oktober 2004 zugestellten Widerspruchsbescheid hat der Kläger am 28. Oktober 2004 Klage
beim Sozialgericht (SG) A-Stadt erhoben und u. a. vorgetragen, er habe Leistungen nach Nr. 19 EBM-Ä nur in Fällen
krankheitsbedingter Kommunikationsstörung abgerechnet, wie den Diagnosen auf den einzelnen Notfallscheinen zu
entnehmen sei. Notärztlichen Maßnahmen erforderten gegebenenfalls die Erhebung einer Fremdanamnese und seien
mit dem Notarztwagen Dienst nicht vergleichbar, der auf medizinische Erstversorgung und Herstellung der
Transportfähigkeit beschränkt sei. Auch werde die Fremdanamnese im ärztlichen Notdienst nur von Personen mit
einem besonderen Vertrauensverhältnis zum Patienten erhoben und nicht von zufällig anwesenden Passanten, wie
beim Notarztwagen Dienst. Mit Urteil vom 28. Juni 2006 hat das SG die Klage als unbegründet abgewiesen und sich
hierbei im wesentlichen auf das Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom 5. Februar 2003 (B 6 KA 11/02 R)
gestützt, wonach die systematische Interpretation der Nr. 19 EBM-Ä ergäbe, dass damit der Mehraufwand abgegolten
werden solle, der dem Arzt entstehe, der einen Patienten kontinuierlich begleite und betreue, der wegen einer -
regelmäßig dauerhaften - erheblichen Kommunikationsstörung über sein Befinden und eventuelle Veränderungen in
seinem Gesundheitszustand selbst keine Angaben machen könne. Im ärztlichen Notfall- und Bereitschaftsdienst fehle
es aber typischerweise an der kontinuierlichen Begleitung und Betreuung des Patienten. Im Rahmen dieses Dienstes
könne keine "normale" ärztliche Versorgung erwartet werden. In der Regel sei lediglich eine vorläufige Versorgung bis
zum Einsetzen der normalen ärztlichen Versorgung zu gewährleisten.
Gegen das ihm am 27. September 2006 zugestellte Urteil hat der Kläger am 29. September 2006 Berufung zum
Hessischen Landessozialgericht in Darmstadt eingelegt. Das als zusätzliche Leistungsvoraussetzung aufgestellte
Merkmal der "kontinuierlichen Begleitung und Betreuung" unterlaufe die Regelungen in der Präambel des EBM-Ä,
wonach nur in die Leistungen nach Nr. 12, 14,15, 16 und 20 im Rahmen des ärztlichen Notfalldienstes nicht
berechnungsfähig seien (Abschnitt B. II. vor Ziff. 1.). Die Entscheidung des BSG vom 5. Februar 2003 sei auf den
ärztlichen Notdienst nicht übertragbar, weil im Gegensatz zum Notwagen Dienst die volle ärztliche Versorgung zu
gewährleisten sei, was eine optimale Information über den Zustand des kommunikationsgestörten Patienten
voraussetzte. Insoweit sei die Situation eher mit der der Anästhesisten vergleichbar, die nach dem Urteil des
Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 11. Juli 2006 (L 4 KA 24/05) ebenfalls berechtigt seien, die
Erhebung der Fremdanamnese nach Nr. 19 EBM-Ä abzurechnen.
Der Kläger beantragt, das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 28. Juni 2006 und die Bescheide der
Beklagten vom 12. Januar 2004 und 24. März 2004 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 27. September 2004
aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, seine Leistungen nach Nr. 19 EBM-Ä zu vergüten, soweit die Ursachen
der Kommunikationsstörungen nach Nr. 19 EBM-Ä gegeben sind.
Der Beklagte beantragt, die Berufung zurückzuweisen.
Er hält daran fest, dass im organisierten ärztlichen Notdienst regelmäßig keine kontinuierliche Begleitung und
Betreuung des Patienten stattfinde, was aber nach der Rechtsprechung des BSG Voraussetzung für die
Abrechenbarkeit der Nr. 19 EBM-Ä sei. Im ärztlichen Notdienst sei keine optimale Versorgung zu erbringen sondern
dieser habe nur die Zeit bis zum Einsetzen der Normalversorgung zu überbrücken.
Wegen weiterer Einzelheiten und des Vorbringens der Beteiligten im Übrigen wird auf den Inhalt der Gerichts- und
Verwaltungsakten, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind, ergänzend Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Berufung ist sachlich unbegründet.
Das angegriffene Urteil des Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 28. Juni 2006 ist rechtlich nicht zu beanstanden.
Dem Kläger steht kein Anspruch auf Vergütung für die von ihm erbrachten Leistungen nach Nr. 19 EBM-Ä im
ärztlichen Notdienst in den streitigen Quartalen gegen die Beklagte zu. Dies hat das SG in den Entscheidungsgründen
des angefochtenen Urteils, auf die gemäß § 153 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) Bezug genommen wird, bereits
zutreffend, gestützt auf die Rechtsprechung des Bundessozialgerichtes (BSG, Urteil vom 5. Februar 2003, B 6 KA
11/02 R), der sich auch der erkennende Senat anschließt, ausgeführt.
Insbesondere ist der ärztliche Notdienst mit dem Notarztwagen-Dienst, zu dem die zuvor genannte Entscheidung des
BSG ergangen ist, in den hier maßgeblichen Gesichtspunkten durchaus vergleichbar. Die Erhebung der
Fremdanamnese im Sinne der Nr. 19 EBM-Ä umfasst die Erhebung der lebensgeschichtlichen und sozialen Daten des
betroffenen Patienten durch Befragung anderer Personen aus seinem Interaktionsfeld unter Einbeziehung der
Erfahrungen und den Beobachtungen, die die Befragten mit dem Kranken gemacht haben (so: BSG, a.a.O., Juris
Rdnr. 14). Zwar mögen im ärztlichen Notdienst im Gegensatz zum Notarztwagen-Dienst durchaus Personen aus dem
Interaktionsfeld des Patienten, wie z. B. Ehepartner, Angehörige etc., zur Erhebung der Fremdanamnese in Betracht
kommen, gleichwohl erfolgt im ärztlichen Notdienst keine umfassende Datenerhebung über eine
kommunikationsgestörten Person, wie sie in Nr. 19 EBM-Ä angesprochen ist. Wie das SG bereits richtig ausgeführt
hat, ist im ärztlichen Not- und Bereitschaftsdienst nicht die volle ärztliche Versorgung wie während der üblichen
Sprechstundenzeiten zu erbringen. Vielmehr ist in dringenden Fällen die Behandlung nur zur Überbrückung bis zu den
üblichen Sprechstundenzeiten des behandelnden Arztes oder auch bis zur Überweisung in ein Krankenhaus zu
erbringen, die die umfassende Behandlung des Patienten übernehmen und durchführen und ohnehin entsprechend
umfassende Informationen bei den Angehörigen oder anderen Bezugspersonen des betroffenen Patienten beschaffen
müssen, soweit die krankheits- oder unfallbedingte Kommunikationsstörung längere Zeit andauert. Dementsprechend
wird in der Rechtsprechung des BSG als geeignet für den ärztlichen Notdienst angesehen, wer mit praxisbezogener
Sachkunde den typischen Notfallsituation eines ärztlichen Not- und Bereitschaftsdienstes in der Regel wenigstens mit
Sofortmaßnahmen bis zum Einsetzen der normalen ärztlichen Versorgung gerecht zu werden vermag (so zutreffend:
Hess in Kasseler Kommentar, Sozialversicherungsrecht, Stand 1. September 2006, Band 1, § 75 SGB V, Rdnr. 26,
m.w.N.). Auch die Empfehlungen für Richtlinien für den ärztlichen Notfalldienst der Bundesärztekammer und der
kassenärztlichen Bundesvereinigung weisen ausdrücklich darauf hin (unter Nr. I. 3.), dass der Notfalldienst den
behandelnden Arzt nicht von seiner Verpflichtung, den Patienten entsprechend den medizinischen Erfordernissen zu
versorgen, entbindet und daher erst bei Nichterreichbarkeit des behandelnden Arztes eintritt. Dies bestätigt die nur
vorläufige und Überbrückungsfunktion des ärztlichen Not- und Bereitschaftsdienstes, die typischerweise keine
umfassende Erhebung einer Fremdanamnese bei kommunikationsgestörten Patienten erfordert, die im allgemeinen
der behandelnde Arzt bereits vorgenommen hat oder vornehmen wird. Der erkennende Senat folgt darüber hinaus der
systematischen Auslegung von Nr. 19 EBM-Ä in der zuvor zitierten Entscheidung des BSG, die auch nach dessen
bisheriger Rechtsprechung ergänzend zu einer Klarstellung des Wortlauts einer Leistungslegende im EBM statthaft
ist. Danach soll mit Nr. 19 EBM-Ä der Mehraufwand abgegolten werden, der dem Arzt entsteht, der einen Patienten
kontinuierlich begleitet und betreut, der wegen einer - regelmäßig dauerhaften - erheblichen Kommunikationsstörung
über sein Befinden und eventuelle Veränderungen in seinem Gesundheitszustand selbst keine Angaben machen
kann. Diese Zielsetzung der Leistung, die auf Abgeltung eines erhöhten Betreuungsaufwands typischerweise im
Rahmen einer kontinuierlichen Behandlung gerichtet ist, wird dadurch verdeutlicht, dass die Leistung nur einmal im
Behandlungsfall (also einmal je Quartal) abrechenbar ist. Die Behandlung im ärztlichen Notdienst ist ihrer Natur nach
nicht auf Kontinuität ausgerichtet sondern soll nur zeitliche Lücken in der üblichen ärztlichen Behandlung überbrücken
und erfüllt schon deshalb nicht den zuvor beschriebenen Zweck der Nr. 19 EBM-Ä. Unabhängig davon, ob die hier
streitigen Abrechnungen der Nr. 19 EBM-Ä überhaupt in jedem Einzelfall ihre Ursache in psychischen,
hirnorganischen oder krankheitsbedingten Veränderungen finden, steht dem Kläger hierfür im von der Beklagten
organisierten ärztlichen Not- und Bereitschaftsdienst kein Vergütungsanspruch zu. Die Kostenentscheidung beruht auf
§ 197a Abs. 1 SGG in Verbindung mit § 154 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO).
Der Senat hat die Revision zugelassen, weil er der Rechtssache im Hinblick auf die Auslegung der Nr. 19 EBM-Ä für
den ärztlichen Notfalldienst grundsätzliche Bedeutung beimisst (§ 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG).
Die endgültige Streitwertfestsetzung beruht auf § 197a Abs. 1 SGG in Verbindung mit §§ 63 Abs. 2 S. 1,47, 52 Abs. 1
Gerichtskostengesetz (GKG). Hierbei geht der Senat im Rahmen des ihm insoweit eingeräumten Ermessens von der
Berechnung im klägerischen Schriftsatz vom 1. Februar 2005 aus. Eine mögliche Folgewirkung der Entscheidung für
spätere Quartale ist nicht streitgegenständlich und kann daher bei Festsetzung des Streitwerts nicht berücksichtigt
werden.