Urteil des LSG Hamburg vom 29.05.2006

LSG Ham: aufschiebende wirkung, öffentliches interesse, vorläufiger rechtsschutz, sozialhilfe, niedersachsen, vollziehung, ausnahme, anfechtungsklage, verwaltungsakt, bedürftigkeit

Landessozialgericht Hamburg
Beschluss vom 29.05.2006 (rechtskräftig)
Sozialgericht Hamburg L 5 B 77/06 ER AS
Landessozialgericht Hamburg S 62 AS 394/06 ER
Die Beschwerde der Antragsgegnerin gegen den Beschluss des Sozialgerichts Hamburg vom 1. März 2006 wird
zurückgewiesen. Die Antragsgegnerin trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Antragstellerin.
Gründe:
Die am 6. März 2006 durch die Antragsgegnerin gegen den Beschluss des Sozialgerichts Hamburg (SG) vom 1. März
2006 eingelegte Beschwerde, der das Sozialgericht nicht abgeholfen und die es dem Senat zur Entscheidung
vorgelegt hat (§ 174 Sozialgerichtsgesetz - SGG), ist statthaft und zulässig (§§ 172, 173 SGG). Der Senat sieht das
erforderliche Rechtsschutzinteresse für die Durchführung des Beschwerdeverfahrens als gegeben an (zweifelnd LSG
Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 23.3.2006, L 9 AS 127/06 ER, Juris). Dies folgt schon daraus, dass die
Antragsgegnerin, auch wenn sie die sofortige Vollziehung ihres Bescheides anordnen könnte, eine günstigere
Rechtsposition hätte, falls der Klage keine aufschiebende Wirkung beizumessen wäre. Denn eine solche Anordnung
setzt immer ein besonderes öffentliches Interesse an der sofortigen Vollziehung voraus, welches über jenes
hinausgeht, das den Verwaltungsakt selbst rechtfertigt (vgl. BVerfG, Beschluss vom 18.7.1973, 1 BvR 23, 155/73,
BVerfGE 35, S. 268 ff., 284 f. m.w.N.).
Sie ist jedoch nicht begründet. Das Sozialgericht hat zu Recht festgestellt, dass die Klage der Antragstellerin gegen
den Aufhebungs- und Erstattungsbescheid der Antragsgegnerin vom 17. August 2005 in der Fassung des
Widerspruchsbescheides vom 8. Februar 2006 aufschiebende Wirkung hat, soweit es – allein streitgegenständlich –
um die Erstattung von Leistungen geht.
Nach § 86a Abs.1 Satz 1 SGG haben Widerspruch und Anfechtungsklage (grundsätzlich) aufschiebende Wirkung.
Diese ist nicht nach § 86a Abs. 2 SGG entfallen. Die in § 86a Abs. 2 Nr. 1 bis 5 SGG geregelten Tatbestände sind
nicht einschlägig. Insbesondere greift nicht § 86a Abs. 2 Nr. 4 SGG i.V.m. § 39 Sozialgesetzbuch – Zweites Buch –
Grundsicherung für Arbeitsuchende – SGB II. Nach letztgenannter Vorschrift haben Widerspruch und
Anfechtungsklage gegen einen Verwaltungsakt, der 1. über Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende
entscheidet oder 2. den Übergang eines Anspruchs bewirkt, keine aufschiebende Wirkung.
Bei einem Verwaltungsakt, der die Erstattung zu Unrecht erbrachter Leistungen gemäß § 50 SGB – Zehntes Buch –
Verwaltungsverfahren zum Gegenstand hat, handelt es sich jedoch um keinen solchen, der über Leistungen
entscheidet. Dazu gehören lediglich Verwaltungsakte, die über die Bewilligung von Leistungen entscheiden, sowie –
spiegelbildlich dazu – solche, die diese Bewilligung wieder aufheben (ebenso LSG Niedersachsen-Bremen m.w.N.;
LSG Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 17.1.2006, L 3 ER 128/05 AS, Juris; Conradis in LPK-SGB II, § 39 SGB 2
RdNr. 7; Kossens in Jahn, § 39 SGB 2 RdNr. 3; Pilz in Gagel, § 39 SGB II RdNr. 9; Berlit, Vorläufiger gerichtlicher
Rechtsschutz im Leistungsrecht der Grundsicherung für Arbeitsuchende – ein Überblick, info also 2005, S. 3 ff., 5;
Grieger, Vorläufiger Rechtsschutz in Angelegenheiten der Sozialhilfe und der Grundsicherung für Arbeitsuchende
durch Verwaltungs- und Sozialgerichte, ZFSH/SGB 2004, S. 579 ff., 580). Ein Erstattungsbescheid stellt hingegen ein
aliud dar (ebenso – unter Hinweis auf die Zweistufigkeit der Rückabwicklung – LSG Niedersachsen-Bremen a.a.O.).
Der Gegenansicht (Hengelhaupt in Hauck/Noftz, § 39 SGB 2 RdNr. 44 f.; Seegmüller in Estelmann, § 39 SGB 2 RdNr.
6; Eicher in Eicher/Spellbrink (wenngleich kritisch), § 39 SGB II RdNr. 3 und 12; ebenso wohl Gröschel-Gundermann
in Linhart/Adolph, § 39 SGB 2 RdNr. 2 und im Ergebnis – jedoch ohne Begründung – auch Bayerisches LSG,
Beschluss vom 31.8.2005, L 7 B 389/05 AS ER und LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 12.5.2005, L 9 B
12/05 AS ER – Juris) ist zwar zuzugestehen, dass der Wortlaut des § 39 Nr. 1 SGB II auslegungsfähig ist. Die Norm
schließt eine dahingehende Auslegung, dass jede Entscheidung gemeint sei, die einen wie auch immer gearteten
Einfluss auf Leistungen nach dem SGB II hat, jedenfalls nicht eindeutig aus. Allerdings spricht bereits im Rahmen der
Wortlautauslegung mehr dafür, als Entscheidung über Leistungen nur die Bewilligung sowie als deren Kehrseite die
Aufhebung derselben anzusehen (vgl. LSG Niedersachsen-Bremen a.a.O.), zumal bei weiter Auslegung des § 39 Nr. 1
SGB II die nachfolgende Regelung (Nr. 2) überflüssig wäre, da auch Verwaltungsakte, die den Übergang eines
Anspruchs bewirken, im weiteren Sinne über Leistungen entscheiden (ebenso Conradis a.a.O, RdNr. 7).
Insbesondere sprechen jedoch systematische Gründe gegen eine weite Auslegung des § 39 SGB II. Der Gesetzgeber
hätte es deutlicher zum Ausdruck bringen müssen, wenn er – abweichend von dem im Sozialrecht geltenden
Grundsatz des § 86a Abs. 1 Satz 1 SGG – auch Rechtsbehelfe gegen Erstattungsforderungen von der
aufschiebenden Wirkung hätte ausnehmen wollen (so auch Conradis a.a.O., RdNr. 7). Ein entsprechender Wille des
Gesetzgebers lässt sich jedoch den Gesetzesmaterialien nicht entnehmen, da die Gesetzesbegründung nur den
Gesetzestext wiederholt. Hierbei ist auch zu berücksichtigen, dass die aufschiebende Wirkung einen ´fundamentalen
Grundsatz des öffentlich-rechtlichen Prozesses´ darstellt, welcher nur ausnahmsweise zurückstehen darf (vgl.
BVerfG, Beschluss vom 13.6.1979, 1 BvR 699/77, BverfGE 51, S. 268 ff., 284 f. m.w.N.).
§ 39 SGB II würde, wenn er auch Erstattungsbescheide erfassen würde, eine Besonderheit im Sozialrecht darstellen.
Zwar gibt es insbesondere im Bereich des Kranken- und Pflegeversicherungsrechts eine Reihe von Regelungen,
welche die aufschiebende Wirkung einschränken, doch sind hiervon ausschließlich Leistungserbringer bzw.
Körperschaften betroffen. Im Bereich des Leistungsrechts sind entsprechende Regelungen im Sozialgesetzbuch
hingegen die absolute Ausnahme.
Im Krankenversicherungs- und Unfallversicherungsrecht bestehen derartige Regelungen ebenso wenig wie im
Rentenversicherungsrecht (mit Ausnahme von § 255c SGB – Sechstes Buch – Gesetzliche Rentenversicherung) und
im Sozialhilferecht (mit Ausnahme von § 93 Abs. 3 SGB – Zwölftes Buch – Sozialhilfe – SGB XII). Auch das
Arbeitsförderungsrecht sieht einen Ausschluss der aufschiebenden Wirkung im Wesentlichen nur bei der Erstattung
von Arbeitslosengeld durch Arbeitgeber vor (§ 336a Satz 1 SGB – Drittes Buch – Arbeitsförderung – SGB III). Bei
Herabsetzung und Entziehung laufender Leistungen gilt § 86a Abs. 2 Nr. 2 SGG (§ 336a Satz 2 SGB III), während
Rechtsbehelfe gegen Erstattungsbescheide weiterhin aufschiebende Wirkung haben (vgl. hierzu LSG Baden-
Württemberg, Beschlüsse vom 25.8.2003, L 13 AL 2374/03 – Juris, und vom 9.1.2003, L 13 AL 4260/02 ER-B; Hess.
LSG, Beschluss vom 11.8.2005, L 9 AL 234/04 ER – Juris).
Daher ist es systematisch nicht nachvollziehbar, dass ausgerechnet im Bereich der Grundsicherung für
Arbeitsuchende eine gravierende Einschränkung des Rechtsschutzes gegeben sein soll.
Schon im Verhältnis zu den beitragsfinanzierten Leistungen des Sozialgesetzbuches ist nicht schlüssig, wieso bei
einem derartige Leistungen beziehenden Personenkreis, bei dem - insbesondere wegen regelmäßig höherer
Leistungen, zusätzlichen Einkommens oder Vermögens - unterstellt werden kann, dass er finanziell (eher) in der Lage
sein dürfte, zu Unrecht erlangte Leistungen sofort zu erstatten, die aufschiebende Wirkung von Widerspruch und
Anfechtungsklage unangetastet bleibt, nicht aber bei Personen, bei denen Bedürftigkeit vorliegen muss, damit sie
überhaupt Zugang zu Leistungen erhalten. Vorrangig in den Blick zu nehmen sind dabei nicht die Leistungsbezieher,
die Leistungen erstatten sollen, weil sie in Wirklichkeit überhaupt nicht bedürftig sind. Vielmehr dürfte die Mehrzahl der
Erstattungsforderungen Fälle betreffen, in denen Leistungen - bei grundsätzlich fortbestehendem Bezug von
Leistungen nach dem Bedürfnisprinzip - lediglich teilweise zurückgefordert werden, etwa weil ein Anspruch nur in
geringerer Höhe bestand.
Erst recht gilt dies im Verhältnis zur Sozialhilfe nach dem SGB XII. Leistungen der Sozialhilfe und der
Grundsicherung für Arbeitsuchende unterscheiden sich im Prinzip nur dadurch, dass der eine Hilfebedürftige
arbeitsfähig ist und der andere nicht. Beiden Personenkreisen dürfte es aufgrund ihrer Bedürftigkeit gleichermaßen
schwer fallen, Leistungen zu erstatten. Aus welchem sachlichen Grund dann bei Rechtsbehelfen gegen – Leistungen
nach dem SGB II betreffende – Erstattungsforderungen die aufschiebende Wirkung entfallen soll, nicht aber bei
solchen nach dem SGB XII, ist nicht erkennbar.
Eine weite Auslegung lässt sich auch nicht mit dem Gesetzeszweck rechtfertigen. Die im ´Vierten Gesetz für
moderne Dienstleistungen am Arbeitsplatz` ausdrücklich genannten Ziele (schnelle und passgenaue Vermittlung,
ausreichende materielle Sicherung, Vermeidung einseitiger Lastenverschiebungen, effiziente und bürgerfreundliche
Verwaltung und breite Zustimmungsfähigkeit – siehe Begründung des Gesetzesentwurfs unter ´A. Allg. Teil II (´Ziele `)
Nr. 1`, abgedruckt bei Hauck/Noftz, SGB II-Kommentar, M 010 S. 81) lassen nicht erkennen, dass das Gesetz
vorrangig – ja nicht einmal als Unterziel - auf die Bekämpfung des Leistungsmissbrauchs ausgerichtet ist. Für die
Ausfassung von Hengelhaupt (a.a.O. RdNr. 45), dass § 39 SGB II eine abschreckende Wirkung zukommen solle,
findet sich daher kein Anhalt.
Schließlich rechtfertigen auch die sich aus einer einschränkenden Auslegung ergebenden Konsequenzen keine andere
Betrachtung. Zum einen dürfte in den Fällen, in denen es um lediglich um die Erstattung überhöhter Leistungen geht,
die Erstattungsforderung auch bei sofortigem Zugriff angesichts der fortbestehenden Bedürftigkeit – außer im Wege
der Aufrechnung – nicht erfolgreich durchgesetzt werden können. Zum anderen steht es der Antragsgegnerin frei, die
sofortige Vollziehung ihres Bescheides anordnen. Das hierfür erforderliche besondere öffentliche Interesse an der
sofortigen Vollziehung ist bei gravierenden Fälle des Leistungsmissbrauchs ohne weiteres zu bejahen.
Die Entscheidung über die Kosten beruht auf der entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.
Dieser Beschluss ist gemäß § 177 SGG nicht anfechtbar.