Urteil des LSG Hamburg vom 07.07.2004

LSG Ham: berufsunfähigkeit, maurer, rente, bezahlung, firma, kreis, erwerbsfähigkeit, beendigung, leitbild, slowenien

Landessozialgericht Hamburg
Urteil vom 07.07.2004 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Hamburg S 15 RJ 556/99
Landessozialgericht Hamburg L 1 RJ 13/03
1. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 2. Juli 2002 wird zurückgewiesen. 2.
Die Beklagte hat dem Kläger auch die notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten. 3. Die Revision wird nicht
zugelassen.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten über die Gewährung einer Rente wegen Berufsunfähigkeit ab 1. November 1998.
Hinsichtlich des Sachverhalts bis zum Abschluss des erstinstanzlichen Verfahrens wird auf den Tatbestand des
Urteils des Sozialgerichts Hamburg vom 2. Juli 2002 verwiesen. Das Sozialgericht hat die Beklagte zur Gewährung
einer Rente wegen Berufsunfähigkeit verurteilt.
Gegen diese Entscheidung hat die Beklagte Berufung eingelegt. Zu Unrecht gestehe das erstinstanzliche Gericht dem
Kläger den Berufsschutz eines Facharbeiters zu. Die allein vorliegenden beiden Gehaltsmitteilungen der Monate Juli
und Dezember 1994 reichten als Nachweis einer Facharbeitertätigkeit nicht aus. Sie belegten bereits nicht die
durchgehende Bezahlung auf Facharbeiterniveau. Aber selbst wenn eine entsprechende Bezahlung angenommen
würde, könne beim Kläger, der eine Ausbildung als Maurer nicht nachweisen könne, allein aus der Bezahlung nicht auf
eine Tätigkeit auf Facharbeiterniveau geschlossen werden. Vielmehr müsse er nachweisen, dass er berufliche
Kenntnisse und Fertigkeiten besitze wie ein gelernter Maurer. Eine Tätigkeit in einem Teilbereich des Lehrberufs führe
auch dann nicht zum Berufsschutz, wenn die Bezahlung der eines Facharbeiters entspreche. Am Vorliegen
ausreichender theoretischer Kenntnisse bestünden schon deswegen Zweifel, weil der Kläger eines Dolmetschers
bedürfe, also der deutschen Sprache nicht vollen Umfangs mächtig sei, und im Übrigen auch in der Türkei lediglich 4
½ Jahre eine Schule besucht habe. Hinsichtlich der klägerseitig genannten Zeugen sei nicht auszuschließen, dass es
sich bei ihren Bestätigungen um vom Kläger vorgefertigte Gefälligkeitsbescheinigungen handele. Außerdem sei zu
berücksichtigen, dass sie nur Aussagen zur vorletzten Beschäftigung machen könnten, für die im Übrigen keinerlei
Unterlagen vorlägen, und nicht zur zuletzt ausgeübten Tätigkeit.
Die Beklagte beantragt, das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 2. Juli 2002 aufzuheben und die Klage gegen den
Bescheid der Beklagten vom 20. November 1998 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 18. Mai 1999
abzuweisen.
Der Kläger beantragt, die Berufung zurückzuweisen.
Er ist der Auffassung, die erstinstanzliche Entscheidung sei zutreffend. Nicht nur die beiden Gehaltsbescheinigungen,
sondern bereits die insgesamt 27-jährige Tätigkeit als Maurer zeigten, dass er auf Facharbeiterniveau gearbeitet habe.
Die Vernehmung der beiden ehemaligen Arbeitskollegen H. R. und L. M. werde dies bestätigen. Er habe auch
ausreichende Deutschkenntnisse. Inzwischen aufgetretene Sprachschwierigkeiten seien allein Folge seiner
Krankheiten.
In der mündlichen Verhandlung vom 7. Juli 2004 hat der Senat den Kläger zu seiner bisherigen beruflichen Tätigkeit
befragt und Beweis erhoben durch Vernehmung der Zeugen R. und M. sowie des berufskundigen Sachverständigen
S., der zuvor eine schriftliche Stellungnahme abgegeben hat. Hinsichtlich ihrer Aussagen wird auf die
Sitzungsniederschrift verwiesen.
Auch wegen des Sachverhalts im Einzelnen wird auf die in der Sitzungsniederschrift vom 7. Juli 2004 aufgeführten
Akten und Unterlagen verwiesen. Sie sind Gegenstand der mündlichen Verhandlung und Beratung des Senats
gewesen.
Entscheidungsgründe:
Die statthafte, form- und fristgerecht eingelegte und auch im Übrigen zulässige Berufung der Beklagten (vgl. §§ 143,
144, 151 Sozialgerichtsgesetz (SGG)) ist nicht begründet. Im Ergebnis zu Recht hat das Sozialgericht sie zur
Gewährung einer Rente wegen Berufsunfähigkeit verurteilt.
Auf den Rechtsstreit sind die Vorschriften des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch (SGB VI) anzuwenden (§ 300
Abs. 1 SGB VI).
Gemäß § 43 Abs. 1 SGB VI in der bis zum 31. Dezember 2000 geltenden Fassung haben Versicherte bis zur
Vollendung des 65. Lebensjahres Anspruch auf eine Rente wegen Berufsunfähigkeit, wenn sie - berufsunfähig sind, -
in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der Berufsunfähigkeit drei Jahre Pflichtbeitragszeiten haben und - vor Eintritt der
Berufsunfähigkeit die allgemeine Wartezeit erfüllt haben.
Versicherte sind berufsunfähig, deren Erwerbsfähigkeit wegen Krankheit oder Behinderung auf weniger als die Hälfte
derjenigen von körperlich, geistig und seelisch gesunden Versicherten mit ähnlicher Ausbildung und gleichwertigen
Kenntnissen und Fähigkeiten gesunken ist. Der Kreis der Tätigkeiten, nach denen die Erwerbsfähigkeit von
Versicherten zu beurteilen ist, umfasst alle Tätigkeiten, die ihren Kräften und Fähigkeiten entsprechen und ihnen unter
Berücksichtigung der Dauer und des Umfangs ihrer Ausbildung sowie ihres bisherigen Berufes und der besonderen
Anforderungen ihrer Berufstätigkeit zugemutet werden können (§ 43 Abs. 2 Satz 1 SGB VI). Bisheriger Beruf als
Ausgangspunkt der Beurteilung nach dieser Vorschrift ist in der Regel die letzte, nicht nur vorübergehend vollwertig
ausgeübte versicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit. Dies ist jedenfalls dann der Fall, wenn diese die
qualitativ Höchste ist (ständige Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG), z. B. Urteil vom 9.12.97 - 8 RKn
26/96, SozR3-2960 § 46 Nr. 4 m.w.N.).
Der bisherige Beruf des Klägers ist der des Maurers. Diesen Beruf konnte er ab Rentenantragstellung wegen der bei
ihm vorliegenden Leistungseinschränkungen nicht mehr ausüben. Der Senat folgt hierbei den überzeugenden
Ausführungen im Gutachten des Internisten Dr. W., der im wesentlichen übereinstimmend mit dem im
Verwaltungsverfahren eingeholten Gutachten zu dem Ergebnis kommt, dass der Kläger bei erhaltener Wegefähigkeit
nur noch leichte bis gelegentlich mittelschwere körperliche Arbeiten vollschichtig verrichten kann und ihm Arbeiten
unter erhöhtem Zeitdruck, Nacht- und Schichtarbeit, Arbeiten an gefährdenden Arbeitsplätzen, insbesondere auf
Leitern und Gerüsten, nicht mehr möglich sind. Mit diesem Restleistungsvermögen kann der Kläger nicht nur seine
bisherige Tätigkeit nicht mehr ausüben, sondern auch keine andere Arbeit auf Facharbeiter- oder Anlernebene mehr
verrichten. Lediglich ungelernte Tätigkeiten bzw. solche mit einer Anlernzeit von unter drei Monaten stehen dem
Kläger auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt noch offen.
Auf diese Tätigkeiten kann der Kläger jedoch nicht zumutbar verwiesen werden. Der Kreis der Tätigkeiten, auf die
jemand im Sinne des § 43 Abs. 2 Satz 2 SGB VI zumutbar verwiesen werden kann, beurteilt sich nach der Wertigkeit
seines bisherigen Berufes. Für die Beantwortung der Frage, wie einerseits die bisherige Berufstätigkeit des
Versicherten qualitativ zu bewerten ist, und andererseits Berufstätigkeiten, die der Versicherte nach seinem
gesundheitlichen Leistungsvermögen noch ausüben kann, zu beurteilen sind, hat das BSG aufgrund seiner
Beobachtungen der tatsächlichen Gegebenheiten der Arbeits- und Berufswelt ein Mehrstufenschema entwickelt, das
auch der erkennende Senat seiner Einschätzung zugrunde legt. Dieses gliedert die Arbeiterberufe in verschiedene
Leitberufe, nämlich in denjenigen des Vorarbeiters mit Vorgesetztenfunktion bzw. des besonders hoch qualifizierten
Facharbeiters, des Facharbeiters (anerkannter Ausbildungsberuf mit einer Ausbildungszeit von mehr als zwei Jahren),
des angelernten Arbeiters (sonstiger Ausbildungsberuf mit einer Regelausbildungszeit von bis zu zwei Jahren) und
des ungelernten Arbeiters (vgl. z. B. BSG 9.12.97, a.a.O.). Zumutbar im Sinne von § 43 Abs. 2 SGG VI sind
Versicherten, die ihren bisherigen Beruf nicht mehr ausüben können, alle Tätigkeiten, die zur Gruppe mit einem
Leitberuf gehören, der höchstens eine Stufe niedriger einzuordnen ist als der von ihnen bisher ausgeübte Beruf.
Ausschlaggebend für die Einordnung eines bestimmten Berufes in dieses Schema sind die
Qualifikationsanforderungen der verrichteten Arbeit, d. h. der aus einer Mehrzahl von Faktoren zu ermittelnde Wert der
Arbeit für den Betrieb. Es kommt nicht allein auf die absolvierte förmliche Berufsausbildung an, sondern auf das
Gesamtbild, wie es durch die in § 43 Abs. 2 Satz 2 SGB VI am Ende genannten Merkmale umschrieben wird (BSG
8.10.92 - 13 RJ 49/91, SozR3-2200 § 1246 Nr. 27).
Im Falle des Klägers kommt eine Zuordnung zur Gruppe mit dem Leitbild des Facharbeiters zwar nicht auf Grund
einer zurückgelegten Ausbildung - denn diese kann der Kläger nicht nachweisen - wohl aber wegen der
wettbewerbsfähig ausgeübten Tätigkeit in einem anerkannten Ausbildungsberuf bei entsprechender Entlohnung in
Betracht.
Die beiden vorhandenen Gehaltsbescheinigungen zeigen, dass der Kläger für seine Tätigkeit als Maurer den Tariflohn
eines Spezialbaufacharbeiters erhalten hat, was bedeutet, dass er wie ein Arbeitnehmer nach Abschluss der zweiten
Stufe der Stufenausbildung, also wie ein Facharbeiter, behandelt wurde. Im Gegensatz zur Auffassung der Beklagten
ist davon auszugehen, dass zumindest dieser Lohn auch bis zur Beendigung der Tätigkeit für die Firma K. gezahlt
wurde. Dieses starke Indiz für die Beschäftigung als Facharbeiter (vgl. BSG 12.9.91 – 5 RJ 60/90, SozR 3-2200 §
1246 Nr. 18) reicht jedoch allein nicht aus. Gerichtlicherseits ist auch zu prüfen, ob die vom Arbeitgeber
vorgenommene Zuordnung zu dieser Facharbeitergruppe zutreffend war, weil gerade in der Baubranche wegen
zeitweise erhöhten Arbeitskräftebedarfs den zuverlässigen Mitarbeitern auch Löhne gezahlt wurden, die durch die
ausgeübte Tätigkeit nicht gerechtfertigt waren. Zutreffend ist die Zuordnung in die Facharbeitergruppeaber nicht nur
dann, wenn der Arbeitgeber das Vorliegen aller theoretischen und praktischen Kenntnisse der Facharbeitertätigkeit
geprüft hat, sondern bereits, wenn er den Arbeitnehmer überwiegend mit Tätigkeiten aus dem Facharbeiterbereich
beschäftigt hat und der Arbeitnehmer zum Ausführen der Arbeiten in der Lage war (vgl. BSG 25.8.93 – 13 RJ 21/92,
nicht veröffentlicht).
Zur Überzeugung des Senats war der Kläger mit den Tätigkeiten eines Facharbeiters betraut. Der Senat folgt dabei
den Aussagen der vernommenen Zeugen, den Darlegungen des berufskundigen Sachverständigen sowie den
Beschreibungen des Klägers selbst.
Zwar konnten die Zeugen nur etwas über die vorletzte Beschäftigung aussagen. Da diese Tätigkeit bis 1993 dauerte
und sich die letzte versicherungspflichtige Beschäftigung von 1994 bis 1996 direkt anschloss, nach Aussage der
Zeugen und des Klägers auch in der vorletzten Beschäftigung als Maurer Facharbeiterlohn bezogen wurde und sich
sowohl Beschäftigungsinhalt (nach der Darlegung des Klägers) als auch das Leistungsspektrum der beiden Firmen
(bestätigt durch die Ausführungen des berufskundigen Sachverständigen) nicht unterschieden haben, ist der Senat
davon überzeugt, dass der Kläger in beiden Arbeitsverhältnissen mit Facharbeitertätigkeiten beschäftigt war.
Die Zeugenvernehmung hat ergeben, dass die Firma O. als Allroundbetrieb im Baugewerbe ihre Mitarbeiter mit den
unterschiedlichsten Tätigkeiten betraute, welche diese größtenteils (innerhalb eines Teams von in der Regel zwei
Kollegen) auf sich selbst gestellt zu erledigen hatten. Darunter waren auch die verschiedensten Tätigkeiten im
Rahmen von Neubauten. Obwohl bei Neubauten der Sohn des Firmeninhabers als Meister die Gesamttätigkeiten
leitete und überwachte, hatten die Beschäftigten alle anfallenden Maurerarbeiten auszuführen. Beide Zeugen erhielten
– wie der Kläger – Facharbeiterlohn. Der Zeuge R. hat selbst in der Bundesrepublik Deutschland eine dreijährige
Maurerausbildung mit Prüfung, der Zeuge M. in Slowenien eine Maurerausbildung (deren Vergleichbarkeit mit einer
deutschen Ausbildung hier unentschieden bleiben kann) abgeschlossen. Beide führten Tätigkeiten aus, die sich nicht
von denen des Klägers unterschieden. Der Kläger konnte dem Senat anschaulich beschreiben, wie er schwierige
Maurerarbeiten – z. B. das Mauern einer Treppe und eines Rundbogens – ausführte, die nach der Aussage des
berufskundigen Sachverständigen S. nur von einem Maurer mit dreijähriger Ausbildung bewältigt werden können.
Der berufskundige Sachverständige S. hat überzeugend dargelegt, dass es keine Verweisungstätigkeit für den Kläger
auf Facharbeiter- oder Anlernniveau gibt. Auch die von der Beklagten im Berufungsverfahren genannten Arbeiten
eines Auslieferungsfahrers für Arzneimittel und eines Kassierers an einer Selbstbedienungstankstelle können vom
Kläger wegen seines eingeschränkten Leistungsvermögens nicht mehr ausgeübt werden, weil sie auch schwere
Arbeiten beinhalten.
Die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen für den Bezug der Rente liegen im Falle des Klägers ebenfalls vor.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und entspricht dem Ausgang des Rechtsstreits in der Hauptsache.
Der Senat hat die Revision nicht zugelassen, weil die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 Nr. 1 oder Nr. 2 SGG nicht
vorliegen.