Urteil des LSG Hamburg vom 17.12.2010

LSG Ham: therapie, behandlung, krankenversicherung, kroatien, heilmittel, krankenkasse, anerkennung, form, sachleistung, verbreitung

Landessozialgericht Hamburg
Urteil vom 17.12.2010 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Hamburg S 23 KR 40/08
Landessozialgericht Hamburg L 1 KR 11/09
Die Berufung wird zurückgewiesen. Außergerichtliche Kosten sind im Berufungsverfahren nicht zu erstatten. Die
Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Im Streit ist der Anspruch des Klägers auf Kostenerstattung für ambulante neuropsychologische Behandlung.
Der 1948 geborene Kläger erlitt am 4. Oktober 2005 in Kroatien eine spontane intracerebrale Blutung mit der Folge
organisch bedingter Störung der kognitiven Leistungsfähigkeit und organisch bedingter Persönlichkeitsveränderung.
Zunächst in Kroatien und anschließend in Deutschland fanden mehrere stationäre Behandlungen und Rehabilitationen
statt. Vom 30. Oktober 2006 bis 17. November 2006 nahm der Kläger an einer teilstationären Rehabilitation teil und
wurde hierbei unter anderem mit Maßnahmen der Neuropsychologie behandelt.
Mit Schreiben vom 12. Februar 2007 des behandelnden Arztes Dr. B. stellte der Kläger bei der Beklagten den Antrag
auf Kostenübernahme für ambulante neuropsychologische Therapie (voraussichtlich 40 Einheiten zu je 50 Minuten;
56,25 EUR je Einheit = 2.250 EUR). Gestützt auf ein sozialmedizinisches Gutachten des Medizinischen Dienstes der
Krankenversicherung vom 1. März 2007 lehnte die Beklagte den Antrag des Klägers durch Bescheid vom 15. März
2007 ab. Auf seinen Widerspruch gegen den Ablehnungsbescheid vom 15. März 2007 beteiligte die Beklagte erneut
den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung, der unter dem 30. Mai 2007, 31. Oktober 2007 und 15. November
2007 weitere sozialmedizinische Gutachten vorlegte. Gestützt auf diese wies die Beklagte den Widerspruch des
Klägers durch Widerspruchsbescheid vom 11. Dezember 2007 zurück.
Mit seiner am 9. Januar 2008 erhobenen Klage verfolgte der Kläger sein Kostenerstattungsbegehren weiter. Zur
Begründung der Notwendigkeit der Behandlung mit ambulanter neuropsychologischer Therapie bezog er sich auf die
Ausführungen von Dr. B ... Nach einem gerichtlichen Hinweis auf die fehlende Methodenanerkennung durch den
Gemeinsamen Bundesausschuss und auf Rechtsprechung des Bundessozialgerichts machte er geltend, inzwischen
liege ein Fall des Systemversagens vor und könne er deshalb auch ohne eine die Methode anerkennende
Entscheidung die Kostenerstattung für Leistungen der ambulanten neuropsychologischen Therapie beanspruchen. Der
Kläger wies zudem auf die Gutachtenlage zur neuropsychologischen Therapie und auf die der
Verfahrensbeschleunigung dienenden Vorschriften in § 135 Abs. 1 Satz 4 und 5 des Fünften Buches
Sozialgesetzbuch (SGB V) hin.
Das Sozialgericht holte eine Auskunft des Gemeinsamen Bundesausschusses vom 12. Dezember 2008 ein. In ihr
wurden der bisherige Verfahrensgang und der Stand der Beratungen dargestellt.
Das Sozialgericht hat die Klage durch Gerichtsbescheid vom 18. Februar 2009 abgewiesen. Voraussetzung der allein
in Betracht kommenden Anspruchsgrundlage des § 13 Abs. 3 SGB V sei, dass der Kläger einen Primäranspruch auf
die Dienstleistung gehabt habe, den die Beklagte nicht erfüllt habe. Einen solchen Primäranspruch aber habe der
Kläger schon deshalb nicht gehabt, weil die neuropsychologische Behandlung – noch – nicht zu den im Rahmen des
Leistungssystems der gesetzlichen Krankenversicherung durch zugelassene Leistungserbringer ambulant
erbringbaren Leistungen gehöre. Denn bei der neuropsychologischen Therapie handele es sich um eine neue
Untersuchungs- und Behandlungsmethode bzw. ein neues Heilmittel im Sinne des Krankenversicherungsrechts, weil
und solange sie zum Zeitpunkt der Behandlung nicht als abrechnungsfähige Leistung im Einheitlichen
Bewertungsmaßstab für vertragsärztliche Leistungen aufgeführt werde. Für derartige neue Methoden sei eine
befürwortende Entscheidung des Gemeinsamen Bundesausschusses erforderlich, bevor sie in der vertragsärztlichen
bzw. vertragspsychotherapeutischen Versorgung auf Kosten der Krankenkassen erbracht werden könne. Auch bleibe
die fehlende positive Entscheidung zum Zeitpunkt der Behandlung unabhängig vom Ausgang des Verfahrens beim
Gemeinsamen Bundesausschuss maßgebend, denn Verwaltung und Gerichte seien an dessen Entscheidungen über
bestimmte Methoden im Grundsatz gebunden. Ein Anspruch auf Kostenübernahme lasse sich angesichts der
Entscheidung des Bundessozialgerichts vom 26. September 2006 (B 1 KR 3/06 R) auch nicht aus den Grundsätzen
des sog. Systemversagens entwickeln. Und es fehlten auch Anhaltspunkte für eine sachwidrige Dauer des durch die
Anträge auf Bewertung der neuropsychologischen Therapie vom 8. Juli 2003 beim – damaligen – Bundesausschuss
anhängig gemachten Anerkennungsverfahrens. Neuropsychologische Therapie sei damit derzeit keine vertragsärztlich
mögliche Behandlung. Ein Beschluss des Gemeinsamen Bundesausschusses sei vor einer gerichtlichen
Entscheidung nicht abzuwarten, denn einer etwa positiven Entscheidung käme keine Rückwirkung zu.
Gegen den am 24. Februar 2009 zugestellten Gerichtsbescheid hat der Kläger am 24. März 2009 Berufung eingelegt.
Mit dieser trägt er unter anderem vor, die Heranziehung der Entscheidung des Bundessozialgerichts vom 26.
September 2006 (B 1 KR 3/06 R), die Leistungsansprüche in den Jahren 2003 und 2004 betroffen habe, sei nicht
tauglich, dem Kläger Leistungsansprüche für die Jahre 2007 und 2008 zu versagen. Der Gemeinsame
Bundesausschuss habe nunmehr fast sechs Jahre Zeit gehabt, die Anträge auf Prüfung der Therapie zu bearbeiten.
Der Kläger beantragt,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Hamburg vom 18. Februar 2009 und den Bescheid der Beklagten vom 15.
März 2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11. Dezember 2007 aufzuheben und die Beklagte zu
verurteilen, ihm die Kosten für eine ambulante neuropsychologische Therapie im Umfang von 40 Einheiten zu je 50
Minuten zu erstatten.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Die Beklagte hat sich auf die aus ihrer Sicht zutreffenden Gründe des Gerichtsbescheides bezogen.
Auf gerichtliche Anfragen vom 1. Juli 2009 und 17. November 2010 hat der Gemeinsame Bundessausschuss mit
Schreiben vom 19. Oktober 2009 und 13. Dezember 2010 seinen Verfahrensgang dargestellt und den Stand der
Beratungen zur Methodenbewertung der ambulanten neuropsychologischen Therapie mitgeteilt.
Durch Beschluss vom 28. September 2010 hat der Senat die Berufung nach § 153 Abs. 5 des Sozialgerichtsgesetzes
(SGG) dem Berichterstatter zur Entscheidung mit den ehrenamtlichen Richtern übertragen.
Zur Ergänzung des Sachverhalts wird auf den Inhalt der Prozessakte, der Verwaltungsakte der Beklagten, der
Prozessakte des Landessozialgerichts Hamburg L 1 KR 12/09 sowie der zu diesem Verfahren gehörenden
Verwaltungsakte der Beklagten Bezug genommen. Diese Unterlagen haben vorgelegen und sind Gegenstand der
mündlichen Verhandlung und Beratung des Senats gewesen.
Entscheidungsgründe:
Der Senat konnte in der Besetzung mit dem Berichterstatter und zwei ehrenamtlichen Richtern verhandeln und
entscheiden, weil das Sozialgericht durch Gerichtsbescheid entschieden hat und der Senat durch Beschluss vom 28.
September 2010 die Berufung dem Berichterstatter übertragen hat, der nach § 153 Abs. 5 SGG zusammen mit den
ehrenamtlichen Richtern entscheidet. Der Beschluss ist den Beteiligten am 1. bzw. 4. Oktober 2010 zugestellt
worden.
Die Berufung ist statthaft (§§ 143, 144 SGG) und auch im Übrigen zulässig, insbesondere form- und fristgerecht (§
151 SGG) erhoben.
Sie ist jedoch unbegründet. Das Sozialgericht hat die Klage zu Recht abgewiesen. Der Kläger hat keinen Anspruch
auf die begehrte Kostenerstattung für ambulante neuropsychologische Behandlung.
Eine Kostenerstattung nach § 13 Abs. 3 Satz 1 SGB V scheitert neben dem fehlenden Nachweis der genuin
kostenerstattungsrechtlichen Voraussetzungen – dem Kläger in Rechnung gestellte und durch ihn erfüllte rechtmäßige
Forderungen des Leistungserbringers – auch am fehlenden Anspruch auf die Sachleistung. Denn im Zeitpunkt der
Leistungsinanspruchnahme durch den Kläger fehlte es für die bislang im Einheitlichen Bewertungsmaßstab nicht
ausgewiesene, neue Behandlungsmethode der ambulanten neuropsychologischen Therapie an der nach § 135 Abs. 1
Satz 1 SGB V bzw. als neues Heilmittel an der nach § 138 SGB V erforderlichen Methodenanerkennung durch den
Gemeinsamen Bundesausschuss.
Es lag auch im Zeitpunkt der Leistungsinanspruchnahme durch den Kläger kein Fall des Systemversagens vor, bei
dessen Vorliegen ein Anspruch auf die Behandlung zulasten der gesetzlichen Krankenversicherung trotz fehlender
Methodenanerkennung in Betracht kommen könnte (dazu Flint, in: Hauck/Noftz, SGB V, § 135 Rn. 95 ff., insbes. Rn.
101).
Ungeachtet des in § 135 Abs. 1 SGB V und § 138 SGB V aufgestellten Verbots mit Erlaubnisvorbehalt kann nach der
Rechtsprechung des Bundessozialgerichts eine Leistungspflicht der Krankenkasse ausnahmsweise dann bestehen,
wenn die fehlende Anerkennung einer neuen Untersuchungs- oder Behandlungsmethode oder eines neues Heilmittels
darauf zurückzuführen ist, dass das Verfahren vor dem Gemeinsamen Bundesausschuss trotz Erfüllung der für eine
Überprüfung notwendigen formalen und inhaltlichen Voraussetzungen nicht oder nicht zeitgerecht durchgeführt wurde
(sog. Systemversagen). Ein solcher Systemmangel kann vorliegen, wenn das Verfahren vor dem Gemeinsamen
Bundesausschuss von den antragsberechtigten Stellen bzw. dem Gemeinsamen Bundesausschuss selbst überhaupt
nicht, nicht zeitgerecht oder nicht ordnungsgemäß betrieben wurde und dies auf eine willkürliche oder sachfremde
Untätigkeit bzw. Verfahrensverzögerung zurückzuführen ist. Diese Durchbrechung beruht darauf, dass in solchen
Fällen die in § 135 Abs. 1 SGB V und § 138 SGB V vorausgesetzte Aktualisierung der Richtlinien rechtswidrig
unterblieben ist und deshalb die Möglichkeit bestehen muss, das Anwendungsverbot erforderlichenfalls auf andere
Weise zu überwinden. Für den Fall einer derart unterbliebenen Aktualisierung erkennt die Rechtsprechung
Lockerungen hinsichtlich des Wirksamkeitsnachweises eine neuen Methode in dem Sinne an, dass dann ggf. die
bloße Verbreitung einer Methode für die Pflicht zur Leistungsgewährung ausreichen kann (vgl. BSG 16.9.1997 - 1 RK
28/95, SozR 3-2500 § 135 Nr. 4; BSG 19.2.2002 - B 1 KR 16/00 R, SozR 3-2500 § 92 Nr. 12: "rechtswidrige
Untätigkeit des Bundesausschusses"; BSG 26.9.2006 - B 1 KR 3/06 R, SozR 4-2500 § 27 Nr. 10; BSG 7.11.2006 - B
1 KR 24/06 R, SozR 4-2500 § 27 Nr. 12).
Doch dass dies in den hier streitbefangenen Jahren 2007 und 2008 bereits der Fall gewesen sein könnte, ist für den
Senat nicht ersichtlich. Denn mit der Bekanntmachung des Gemeinsamen Bundesausschusses vom 1. Februar 2005
wurde entsprechend der Festsetzung des zuständigen Unterausschusses vom selben Tag als neues
Beratungsthema, das aktuell zur Überprüfung anstehe, die "Ambulante Neuropsychologie" veröffentlicht. In seinem
Newsletter Februar 2007 informierte der Gemeinsame Bundesausschuss über die geplanten weiteren Arbeitsschritte
für das Jahr 2007 und teilte mit, eine Themengruppe bewerte auf den 2003 gestellten und 2004 aktualisierten Antrag
auf der Grundlage der internationalen Literatur den Nutzen der ambulanten Neuropsychologie. Und in seinem
Newsletter August 2007 informierte der Gemeinsame Bundesausschuss über die weiteren Arbeitsschritte für das Jahr
2007 und teilte mit, die Themengruppe Ambulante Neuropsychologie (Nutzenbewertung) bewerte auf Grundlage der
internationalen Literatur den Nutzen der ambulanten neuropsychologischen Therapie (Ambulante Neuropsychologie).
Diese Nutzenbewertung werde voraussichtlich Anfang kommenden Jahres abgeschlossen werden können.
Dass und warum es dazu nicht gekommen ist, ist durch die Stellungnahmen des Gemeinsamen Bundesausschusses
vom 12. Dezember 2008, 19. Oktober 2009 und 13. Dezember 2010 ausführlich und nachvollziehbar dargelegt worden.
Plausibilisiert worden ist insbesondere, warum es bis zum 23. April 2008 gedauert hat, dass der Entwurf eines
Abschlussberichts der Themengruppe vorlag, und warum noch einmal bis zum 2. April 2009, als der Unterausschuss
den Bericht der Themengruppe zustimmend zur Kenntnis nahm. Nach diesen Darlegungen und aus den bekannten
Arbeitsabläufen des Gemeinsamen Bundesausschusses lassen sich für den Senat keine durchgreifenden
Anhaltspunkte dafür gewinnen, zu der Überzeugung zu gelangen, es habe zur Zeit der Leistungsinanspruchnahme
durch den Kläger eine rechtswidrige, d. h. willkürliche oder sachfremde Untätigkeit bzw. Verfahrensverzögerung des
Gemeinsamen Bundesausschusses vorgelegen. Vielmehr ist festzustellen, dass der Gemeinsame Bundesausschuss
in den streitbefangenen Jahren 2007 und 2008 an der Methodenbewertung der ambulanten neuropsychologischen
Therapie arbeitete. Die Mühlen mahlten, wenn auch langsam. Dass es entgegen den zwischenzeitlichen Planungen
des Gemeinsamen Bundesausschusses noch nicht zum Abschluss des Verfahrens gekommen ist, ist ein Problem
und wird vom Senat nicht verkannt. Dies begründet für den Kläger jedoch keinen Anspruch auf die hier
streitbefangene Kostenerstattung für in den Jahren 2007 und 2008 in Anspruch genommene Leistungen der
ambulanten neuropsychologischen Therapie.
Von vornherein nichts für sich herleiten kann der Kläger aus der Regelung in § 135 Abs. 1 Satz 4 und 5 SGB V. Denn
mit der Fristbestimmung des Satzes 4 – ebenso wie mit der in Satz 5 geregelten Folge des Nichtzustandekommens
eines Beschlusses innerhalb der Frist – zielt der Gesetzgeber auf eine zügigere Prüfung und Entscheidung zu neuen
Untersuchungs- und Behandlungsmethoden durch den Gemeinsamen Bundesausschuss ab. Die Frist von sechs
Monaten, bevor ein Verlangen nach Satz 4 gestellt werden kann, beginnt dabei erst zu laufen, wenn dem
Gemeinsamen Bundessausschuss die für die Entscheidung erforderlichen Auswertungen der wissenschaftlichen
Erkenntnisse vorliegen. Dies aber war im streitbefangenen Zeitraum noch nicht der Fall. Ein Verlangen nach Satz 4
nach einer Beschlussfassung innerhalb der nächsten sechs Monate ist zudem auch zu keinem Zeitpunkt gestellt
worden.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und folgt dem Ausgang in der Hauptsache.
Die Revision ist nicht zuzulassen, weil die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 Nr. 1 oder 2 SGG nicht vorliegen.