Urteil des LSG Hamburg vom 05.12.2005

LSG Ham: schutz der menschenwürde, vorläufiger rechtsschutz, ermessen, miete, bezahlung, notlage, behandlung, zahlungseinstellung, verwaltungsakt, zukunft

Landessozialgericht Hamburg
Beschluss vom 05.12.2005 (rechtskräftig)
Sozialgericht Hamburg S 62 AS 1332/05 ER
Landessozialgericht Hamburg L 5 B 374/05 ER AS
Der Antragstellerin wird auch für das Beschwerdeverfahren Prozesskostenhilfe bewilligt und Rechtsanwalt S.
beigeordnet. Die Beschwerde der Antragsgegnerin gegen den Beschluss des Sozialgerichts vom 14. November 2005
wird zurückgewiesen. Die Beschwerdeführerin hat der Antragstellerin die Kosten ihrer Rechtsverfolgung zu erstat¬ten.
Gründe:
Die Beschwerde der Antragsgegnerin vom 22. November 2005 gegen den Beschluss des Sozialge¬richts Hamburg
(SG) vom 14. November 2005, der das SG nicht abgeholfen und die es dem Landessozialge¬richt (LSG) zur
Ent¬schei¬dung vorge¬legt hat, ist statthaft (§ 172 Sozial¬ge¬richts¬gesetz - SGG -), form- und fristge¬recht
ein¬gelegt worden (§ 173 SGG) und auch sonst zuläs¬sig. Sie ist jedoch unbegründet. Zu Recht hat das SG die
Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, der Antragstellerin ab dem 14. November 2005
vorläufig Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts in Höhe von 543,23 EUR monat¬lich zu zahlen. Der Senat
hält die diesbezüglichen Ausführungen des SG für überzeugend und nimmt auf sie Bezug.
Mit dem SG sieht der Senat die gesetzliche Grundlage für den begehrten vorläufigen Rechts¬schutz in § 86 b Abs. 2
SGG, denn ein belastender Verwaltungsakt der Antragsgegnerin, gegen den vorläufiger Rechtsschutz nach § 86 b
Abs. 1 SGG zu gewähren wäre, ist nicht doku¬mentiert und auch sonst nicht ersichtlich. Abgesehen davon ist auch
zweifelhaft, ob die verfahrensrechtlichen Voraussetzungen für eine Aufhebung der Bewilligung der Leistungen zur
Sicherung des Lebensunterhalts der Antragsstellerin – mit Wirkung für die Zukunft – vorlagen. Da diese Bewilligung –
die Richtigkeit des Rechtsstandpunkts der Antragsgegnerin unterstellt - von Beginn an rechtswidrig war, kommt als
gesetzliche Grundlage für ihre Auf¬hebung allein § 45 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch, Sozialverwaltungsverfahren
und Sozialdatenschutz (SGB X) in Betracht, der die Aufhe¬bung in das Ermessen des Leistungsträ¬gers stellt. Dass
sie im Falle der Antragstellerin Ermessen ausgeübt hat, ist nicht ersichtlich. Von der Ausübung des Ermes¬sens ist
die Antragsgegnerin durch § 40 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 Sozialgesetzbuch Zweites Buch, Grundsicherung für
Arbeitsuchende (SGB II) in Verbindung mit § 330 Abs. 2 Sozialgesetzbuch Drittes Buch, Arbeitsförderung (SGB III),
was § 45 SGB X angeht, nur befreit, soweit die Vor¬aussetzungen des § 45 Abs. 2 Satz 3 SGB X für die
Rück¬nahme eines rechtswidrigen begüns¬tigenden Verwaltungs¬aktes gegeben sind, d. h. soweit der Empfänger der
Leistung bösgläubig war. Dies kann für die Antragstellerin ausgeschlossen werden. Entsprechendes würde für eine
vorläufige Zahlungseinstellung gemäß § 40 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II in Verbindung mit § 331 SGB III gelten.
Ebenso wie das SG hält der Senat die Gewährung des begehrten vorläufigen Rechtsschutzes für geboten. Da eine
vollständige Aufklärung der von europarechtlichen Bezügen geprägten Rechtslage im Eilverfahren nicht möglich
erscheint, ist eine Abwägung der öffentlichen und privaten Interessen vorzunehmen. Dabei sind, worauf das SG
zutreffend hingewiesen hat, die grundrechtlichen Belange der Antragstellerin einzubeziehen. Durch die Maßnahme der
Antragsgegne¬rin wird die Antragstellerin völlig mittellos. Ihr werden die zur Sicherung des Lebensunter¬halts
not¬wendigen Mittel - das soziokulturelle Existenzminimum – vollständig vorenthalten, was mit der Pflicht des
Staates zum Schutz der Menschenwürde nicht zu vereinbaren ist. Demgegenüber werden die öffentlichen Interessen
durch Weiterzahlung der Leistun¬gen an die Antragstellerin, die die Antragsgegnerin wegen der Regelungen der VO
EG 881/2002 unter¬binden will, so gut wie nicht berührt. Eine indirekte Unterstützung des Ehemanns der
Antragstellerin durch die Leistungen der Antragsgegnerin ist angesichts der knap¬pen Kalkulation des Betrages der
monatlichen Regelleistung und der Begrenzung der antragsgemäß zuer¬kannten Kosten der Unterkunft auf die Hälfte
der Miete marginal, noch dazu als die Antragstellerin die Miete allein aufzubringen hat. Im Übrigen besteht der Sinn
der Sanktionen nicht darin, dem der Unterstützung von Terrororganisatio¬nen Verdächtigen – oder gar einem
Ehegatten oder sonstigen Verwandten - das Existenz¬minimum zu ent¬ziehen, ihn gleichsam auszuhungern. Dies
macht die Bestimmung des Art. 2a Abs. 1 Buchst. a Ziff. i VO (EG) 881/2002 deutlich, der zufolge Art. 2 nicht für
Gelder gilt, die Grundausgaben, namentlich für die Bezahlung von Nahrungs¬mitteln, Mieten, Hypotheken,
Medikamenten oder medizinischer Behandlung sind, wenn eine der in Anhang II der VO aufgeführten Behörden der
Mitgliedstaaten – dies ist in Deutschland die Bundesbank - dies auf Antrag einer betrof¬fenen natürlichen oder
juristi¬schen Person entscheidet und der hier¬von in Kenntnis zu setzende Sanktionsausschuss der Vereinten
Nationen dem ausdrücklich zustimmt oder nicht widerspricht.
Unter diesen Umständen kann die Notwendigkeit des von der Antragstellerin beantragten vorläufigen Rechtsschutzes
auch nicht mit der Begründung verneint werden, ihre durch Mit¬tellosigkeit bedingten Notlage sei durch eine von ihr zu
beantragenden Entscheidung der Deutschen Bundesbank nach Art. 2a Abs. 1 Buchst. a Ziff. i, Abs. 2 VO (EG)
881/2002 – ggf. unter Beantragung vorläufigen Rechtsschutzes - zu beenden.
Dieser Beschluss ist nicht anfechtbar.