Urteil des LSG Hamburg vom 08.09.2004

LSG Ham: erwerbsfähigkeit, berufliche tätigkeit, medizinische rehabilitation, arbeitsmarkt, behinderung, krankheit, berufsunfähigkeit, begriff, heilbehandlung, avg

Landessozialgericht Hamburg
Urteil vom 08.09.2004 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Hamburg S 15 RJ 1082/01
Landessozialgericht Hamburg L 1 RJ 22/04
Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 21. Oktober 2003 wird
zurückgewiesen. Die Beklagte hat der Klägerin auch die außergerichtlichen Kosten des Berufungsverfahrens zu
erstatten. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand:
Zwischen den Beteiligten ist die Gewährung von berufsfördernden Leistungen zur Rehabilitation streitig.
Die 1963 geborene Klägerin ist gelernte Schuhfachverkäuferin. Nach Zeiten der Arbeitslosigkeit war sie in diesem
Beruf von 1984 bis 1886 auch versicherungspflichtig beschäftigt. Von 1987 bis 1993 arbeitete sie, unterbrochen durch
eine Zeit der Arbeitsunfähigkeit, als ungelernte Lager- und Versandarbeiterin am Band. Nach der Geburt ihres Kindes
im Februar 1993 war sie im Rahmen einer Arbeitsbeschaffungsmaßnahme von Dezember 1998 bis Dezember 2000
als Küchenhilfe beschäftigt. Ab April 2000 bezog die Klägerin Krankengeld. Zurzeit ist sie bei der Agentur für Arbeit
arbeitssuchend gemeldet.
In der Zeit vom 9. August bis 13. September 2000 gewährte die Beklagte der Klägerin eine stationäre Heilbehandlung
als medizinische Rehabilitation. Anlässlich der in der Einrichtung durchgeführten Arbeitsberatung beantragte die
Klägerin am 17. August 2000 die Gewährung berufsfördernder Leistungen zur Rehabilitation.
Die Beklagte lehnte den Antrag mit Bescheid vom 25. Januar 2001 ab. Den hiergegen von der Klägerin erhobenen
Widerspruch wies sie mit Widerspruchsbescheid vom 30. August 2001 zurück. Zur Begründung führte sie aus: Die
Klägerin habe seit 1987 Arbeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes ohne wesentliche Qualifikation ausgeübt und sei in
der Lage, derartige Tätigkeiten weiter zu verrichten. Nach Auswertung des Entlassungsberichts der
Rehabilitationseinrichtung sei ihre Erwerbsfähigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt weder erheblich gefährdet noch
gemindert.
Das Sozialgericht hat die Beklagte nach Einholung eines neurologisch-psychiatrischen Gutachtens durch Urteil vom
21. Oktober 2003 zur Neubescheidung unter Berücksichtigung der Rechtsauffassung des Gerichts verurteilt. Die
Klägerin habe dem Grunde nach Anspruch auf berufsfördernde Leistungen zur Rehabilitation. Ihre Erwerbsfähigkeit sei
krankheitsbedingt gemindert. Unter Erwerbsfähigkeit im Sinne von § 10 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VI) in
der bis zum 30. Juni 2001 geltenden Fassung sei die Fähigkeit des Versicherten zu verstehen, seine bisherige
berufliche Tätigkeit – ggf. auch noch nicht weit zurückliegende Tätigkeiten der letzten Jahre – weiter auszuüben.
Leistungen zur Rehabilitation könnten daher nicht mit der Begründung verweigert werden, die Erwerbsfähigkeit sei
zwar für die bisherige Tätigkeit, aber nicht für Verweisungstätigkeiten im Sinne der Bestimmungen über die
Berufsunfähigkeit gefährdet oder gemindert. Ihre letzte Tätigkeit könne die Klägerin auch nach Auffassung der
Beklagten nicht mehr ausüben. Durch berufsfördernde Maßnahmen werde ihre Erwerbsfähigkeit voraussichtlich auch
wesentlich gebessert oder wiederhergestellt. Wie der hierzu befragte Gutachter dargelegt habe, könne sich
insbesondere die psychische Situation der Klägerin durch Eröffnung neuer beruflicher Möglichkeiten festigen.
Gegen das ihr am 6. März 2004 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 1. April 2004 Berufung eingelegt. Zur
Begründung trägt sie vor:
Der Begriff der Erwerbsfähigkeit im Sinne des § 10 SGB VI beinhalte die Fähigkeit des Versicherten, sich unter
Ausnutzung der Arbeitsgelegenheiten, die sich ihm nach seinen Kenntnissen und körperlichen und geistigen
Fähigkeiten im ganzen Bereich des wirtschaftlichen Lebens bieten, einen Erwerb zu verschaffen. Da die Klägerin seit
1987 Arbeiten verrichtet habe, die keine Ausbildung oder Anlernung erforderten, sei eine Beschränkung des Begriffs
der Erwerbsfähigkeit auf die Ausübung der bisherigen Tätigkeiten als Küchenhilfe oder Lagerarbeiterin nicht
gerechtfertigt. Die Klägerin könne jede andere ungelernte Tätigkeit verrichten, die ihrem Leistungsvermögen
entspreche. Mit den vorhandenen Kenntnissen und Fähigkeiten sei sie geeignet, Tätigkeiten wie z.B. leichte Pack-,
Sortier-, Etikettier- und Montagearbeiten auszuüben. Es würde der Gleichheitsgrundsatz verletzt, wenn einerseits
einem ungelernten Versicherten, der noch leichtere ungelernte Tätigkeiten leisten könne, also auf der Ebene seiner
Fähigkeiten und Kenntnisse erwerbsfähig sei, Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben gewährt würden, andererseits
von einem gelernten Versicherten verlangt werde, in seinem Beruf in einem anderen Bereich mit leichteren Arbeiten
tätig zu werden.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 21. Oktober 2003 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Berufung der Beklagten zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend und betont nochmals die Notwendigkeit einer beruflichen
Rehabilitationsmaßnahme.
Wegen des Sachverhalts im Einzelnen wird auf die in der Sitzungsniederschrift vom 8. September 2004 aufgeführten
Akten verwiesen. Sie sind Gegenstand der mündlichen Verhandlung und Beratung des Senats gewesen.
Entscheidungsgründe:
Die statthafte, form- und fristgerecht eingelegte und auch im Übrigen zulässige Berufung der Beklagten (vgl. §§ 143,
144, 151 (SGG)) ist nicht begründet. Das Sozialgericht hat die Beklagte zu Recht zur Neubescheidung unter
Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts verurteilt. Ihr Bescheid vom 25. Januar 2001 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 30. August 2001 ist rechtswidrig.
Entgegen der Auffassung des Sozialgerichts richtet sich der Anspruch der Klägerin auf berufsfördernde Leistungen
allerdings nach den §§ 9 ff. Sechstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VI) in der aktuellen Fassung zum Zeitpunkt der
mündlichen Verhandlung. § 301 SGB VI regelt die Anwendung des zum Zeitpunkt der Antragstellung geltenden
Rechts für bereits gewährte Rehabilitationsverfahren. Für – wie hier - noch nicht abgeschlossene
Rehabilitationsverfahren gilt die allgemeine Regelung, dass bei Verpflichtungsklagen das zum Zeitpunkt der
Entscheidung geltende Recht anzuwenden ist (vgl. Landessozialgericht (LSG) Hamburg I JBf 14/96, 11. November
1997).
An der zutreffenden Beurteilung durch das Sozialgericht ändert dies aber nichts. Auf der Tatbestandsseite haben sich
gegenüber dem zum Zeitpunkt der Antragstellung geltenden Recht keine Änderungen ergeben.
Gemäß § 9 Abs. 1 Satz 1 SGB VI erbringt die Rentenversicherung Leistungen zur medizinischen Rehabilitation,
Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben sowie ergänzende Leistungen, um 1. den Auswirkungen einer Krankheit oder
einer körperlichen, geistigen oder seelischen Behinderung auf die Erwerbsfähigkeit der Versicherten entgegenzuwirken
oder sie zu überwinden und 2. dadurch Beeinträchtigungen der Erwerbsfähigkeit der Versicherten oder ihr vorzeitiges
Ausscheiden aus dem Erwerbsleben zu verhindern oder sie möglichst dauerhaft in das Erwerbsleben
wiedereinzugliedern. Die Leistungen zur Teilhabe haben Vorrang vor Rentenleistungen, die bei erfolgreichen
Leistungen zur Teilhabe nicht oder voraussichtlich erst zu einem späteren Zeitpunkt zu erbringen sind (Satz 2). Sie
können erbracht werden, wenn die persönlichen und versicherungsrechtlichen Voraussetzungen erfüllt sind (Abs. 2
Satz 1). Gemäß § 10 Abs. 1 SGB VI haben Versicherte die persönlichen Voraussetzungen für Leistungen zur
Teilhabe erfüllt, deren Erwerbsfähigkeit wegen Krankheit oder körperlicher, geistiger oder seelischer Behinderung
erheblich gefährdet oder gemindert ist und bei denen voraussichtlich bei geminderter Erwerbsfähigkeit diese
wesentlich gebessert oder wiederhergestellt werden kann.
Das Sozialgericht ist zu Recht davon ausgegangen, dass die Erwerbsfähigkeit der Klägerin im Sinne von § 10 SGB VI
gemindert ist.
Der Gesetzgeber hat den Begriff der "Erwerbsfähigkeit" im Rehabilitationsrecht zwar zu keiner Zeit definiert (vgl.
schon § 1236 Reichsversicherungsordnung (RVO) bzw. § 13 Angestelltenversicherungsgesetz (AVG), jeweils Abs. 1
Satz 1). Aus dem Zusammenhang von Rehabilitationsmaßnahmen und Renten wegen Erwerbsminderung ergibt sich
jedoch, dass von einer Gefährdung bzw. Minderung der Erwerbsfähigkeit im Sinne von § 10 SGB VI bereits dann
ausgegangen werden muss, wenn der Versicherte nicht mehr in der Lage ist, seiner bisherigen beruflichen Tätigkeit im
üblichen Umfang nachzugehen (so entschieden für § 1236 RVO, vgl. Bundessozialgericht (BSG) 22.9.1981 = 1 RJ
12/80, BSGE 52, 123 – 128 mit weiteren Nachweisen), und dass das vom BSG im Zusammenhang mit der
Feststellung von Berufsunfähigkeit (§ 43 Abs. 2 SGB VI a.F., § 240 SGB VI) entwickelte Mehrstufenschema bei der
Prüfung von Rehabilitationsmaßnahmen nicht anwendbar ist (vgl. beispielhaft Kasseler Kommentar – Niesel, § 10
Rdnr. 3 unter Hinweis auf BSG 29. Februar 1968 = 4 RJ 423/66, BSGE 28, 18, entschieden für § 1236 RVO). Die
Zulassung einer Verweisungspraxis liefe der unterschiedlichen Zielsetzung von Rehabilitationsmaßnahmen und
Rentengewährung zuwider, führte im Übrigen aber auch zu dem vom Gesetzgeber nicht gewollten Ergebnis, dass
einem Versicherten als Leistung zur Rehabilitation selbst eine Heilbehandlung nicht gewährt werden dürfte, solange er
nur an der Ausübung der bisherigen beruflichen Tätigkeit, aber noch nicht an einer zumutbaren Verweisungstätigkeit
gehindert ist.
Indem die Beklagte der Klägerin berufliche Rehabilitationsmaßnahmen mit der Begründung verwehrt, dass diese nach
wie vor ungelernte Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt ausüben könne, nimmt sie indes eine solche
unzulässige Verweisung vor. Sie beurteilt die Erwerbsfähigkeit der Klägerin nicht mehr anhand der letzten beruflichen
Tätigkeit, sondern prüft deren weitergehende Fähigkeit, überhaupt noch ungelernte Tätigkeiten auf dem allgemeinen
Arbeitsmarkt ausüben zu können. Das Sozialgericht ist dem zu Recht entgegengetreten. Soweit die Beklagte im
Berufungsverfahren ihre Entscheidung damit rechtfertigt, dass bei Anknüpfung an die letzte Tätigkeit auch bei
ungelernten Versicherten ein Gleichheitsverstoß gegenüber gelernten Versicherten vorläge, weil diese sich auf
leichtere Berufsfelder verweisen lassen müssten, vermag der Senat dem nicht zu folgen. Der Zugang zu
Rehabilitationsmaßnahmen ist für ungelernte bzw. zuletzt in ungelernten Tätigkeiten beschäftigte Versicherte
gegenüber gelernten Versicherten nicht erleichtert. Die Orientierung an der letzten Tätigkeit schließt auch für
ungelernte Versicherte nicht aus, dass ihrem Antrag auf Rehabilitationsleistungen wegen des noch vorhandenen
Leistungsvermögens gegebenenfalls entgegen gehalten werden muss, dass sie nach wie vor vergleichbare
Tätigkeiten ausüben können (vgl. LSG Hamburg 11. November 1997 – I JBf 14/96). Maßstab ist nicht der konkrete
letzte Arbeitsplatz, sondern die letzte Tätigkeit überhaupt. Dies gilt aber gleichermaßen für gelernte wie für ungelernte
Versicherte.
Die von Dezember 1998 bis April 2000 zuletzt ausgeübte Tätigkeit als Küchenhilfe kann die Klägerin - auch nach
Auffassung der Beklagten - nicht mehr verrichten. Das vom Sozialgericht eingeholte Gutachten kommt zu dem
überzeugenden Schluss, dass der Klägerin lediglich körperlich leichte, allenfalls in den mittelschweren Bereich
reichende Tätigkeiten in wechselnder Körperhaltung, ohne Zwangshaltungen zumutbar sind. Ob die über fünf Jahre
davor liegende Tätigkeit der Klägerin als Lager- und Versandarbeiterin noch in die Beurteilung ihrer Erwerbsfähigkeit
einzubeziehen ist – die Beklagte geht in ihrer Praxis lediglich von einem nicht mehr als fünf Jahre zurückliegenden
Zeitraum aus –, kann dahingestellt bleiben. Auch diese überwiegend stehende Tätigkeit am Band könnte die Klägerin
mit dem verbliebenen Leistungsvermögen heute nicht mehr ausüben. Dies ergibt sich für den Senat aus der
Arbeitsbeschreibung der Klägerin im Termin zur mündlichen Verhandlung vom 8. September 2004 und aus dem
Gutachten Dr. L. vom 25. Juni 2002.
Dass eine berufsfördernde Leistung die Erwerbsfähigkeit der Klägerin voraussichtlich bessern bzw. wiederherstellen
kann, steht mit der Stellungnahme Dr. L. vom 23. Mai 2003 fest. Dieser geht überzeugend davon aus, dass die
psychische Situation der Klägerin durch Eröffnung einer neuen beruflichen Perspektive gefestigt werden kann. Dies ist
ausreichend. Ob die Festigung tatsächlich eintritt, ist nicht maßgeblich.
Die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen für die Gewährung berufsfördernder Maßnahmen (§ 11 SGB VI) sind
gegeben. Ausschlussgründe (§ 12 SGB VI) liegen nicht vor. Die konkrete Auswahl der Maßnahme liegt im Ermessen
der Beklagten. Das Sozialgericht hat daher zu Recht die Beklagte nicht zur Gewährung einer bestimmten
Rehabilitationsleistung, sondern lediglich zur Neubescheidung unter Beachtung seiner Rechtsauffassung verurteilt.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und entspricht dem Ausgang des Rechtsstreits in der Hauptsache.
Der Senat hat die Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zugelassen (§ 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG).