Urteil des LSG Hamburg vom 01.06.2005

LSG Ham: soziale sicherheit, krankenversicherung, herbst, behinderung, universität, unterbrechung, psychose, gleichstellung, versicherungsschutz, altersgrenze

Landessozialgericht Hamburg
Urteil vom 01.06.2005 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Hamburg S 28 KR 551/01
Landessozialgericht Hamburg L 1 KR 98/04
1. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 28. Juni 2004 wird zurückgewiesen.
2. Die Beklagte trägt auch die außergerichtlichen Kosten des Berufungsverfahrens. 3. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand:
Streitig ist, ob der Sohn des Klägers (M. Y.) bei ständigem Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland
familienversichert ist. Der Kläger ist türkischer Staatsangehöriger und als Rentner Mitglied der Beklagten. Er lebt seit
1981 in Deutschland. Sein am XX.XXXXXXX 1974 geborener Sohn M. Y. war von 1981 bis zur Vollendung seines 23.
Lebensjahres nach dem Abkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Türkei über Soziale
Sicherheit (SVA Türkei) in der Türkei nach türkischem Recht für Rechnung der Beklagten familienversichert. Zur Zeit
lebt er in Istanbul. Er leidet an einer chronisch-endogenen Psychose aus dem schizophrenen Formenkreis. Seit 1992
wurde er in der psychiatrischen Abteilung der Medizinischen Fakultät C. in Istanbul - zeitweise auch stationär -
behandelt. Nach seinem Schulbesuch von 1979 bis 1993 war er vom 7. Oktober 1994 bis 11. September 1995 an der
Universität A. in Istanbul (Fernstudium) sowie von 1995 bis 1996 und nach Unterbrechung wegen Krankheit wieder
vom 2. Oktober 1998 bis 30. Juni 1999 an der Nahöstlichen Universität Z. immatrikuliert. Er nahm sein Studium nach
der Unterbrechung aber nicht mehr auf. Am 13. Oktober 1998 unternahm er einen Suizidversuch durch einen Sturz
aus dem 4. Stock eines Hauses und wurde anschließend erneut stationär versorgt.
In der Zeit vom 20. Januar bis 13. Juni 1997 hielt sich M. Y. bei seinen Eltern in Hamburg auf und war ausweislich
einer Versicherungsbescheinigung der Beklagten vom 24. Juli 2000 gemäß § 10 Abs. 2 Nr. 3 Fünftes Buch
Sozialgesetzbuch (SGB V) familienversichert. Zum Nachweis der Voraussetzungen hatte der Kläger bei der Beklagten
ein Schreiben der Nahöstlichen Universität Z. vom 22. Oktober 1996 vorgelegt, in welchem abstrakt die Kosten für
das folgende Semester angegeben werden. Mit Urteil des türkischen Friedensrechtsgerichts vom 3. April 2000 wurde
der Kläger zum Vormund seines Sohnes bestellt.
Mit Schreiben vom 17. Juli 2000 beantragte der Kläger bei der Beklagten die Aufnahme seines Sohnes in die
Familienversicherung. M. habe sein Studium Anfang 2000 wegen seiner Geisteskrankheit aufgeben müssen. Nun
solle er bei ihm und seiner Frau in Deutschland leben. Für die Ausländerbehörde benötige er eine Bestätigung über die
Krankenversicherung.
Mit Bescheid vom 2. August 2000 lehnte die Beklagte den Antrag des Klägers ab. Eine Dauerbehinderung im Sinne
des § 10 Abs. 2 Nr. 4 SGB V sei erst durch das gerichtliche Urteil vom 3. April 2000 und damit nach Vollendung des
25. Lebensjahres des Kindes festgestellt worden. Gegen diesen Bescheid erhob der Kläger am 16. August 2000
Widerspruch. Mit weiteren Bescheiden vom 28. September 2000 und 16. März 2001 sowie Widerspruchsbescheid
vom 9. Mai 2001 hielt die Beklagte an ihrer Entscheidung fest.
Dagegen hat der Kläger am 26. Mai 2001 beim Sozialgericht Klage erhoben. Er hat diverse ärztliche Unterlagen über
seinen Sohn aus der Türkei beigebracht. Das Gericht hat Befundberichte der behandelnden Ärzte Dr. H. und Dr. J.
eingeholt. Der Arzt für Neurologie und Psychiatrie Dr. E. hat unter dem 1. März 2004 ein Gutachten nach Aktenlage
erstellt. Er ist zu dem Ergebnis gekommen, dass bei M. Y. seit 1992 eine "chronisch-endogene Psychose aus dem
schizophrenen Formenkreis" bestehe, die seit Herbst 1996 bedinge, dass M. Y. nicht in der Lage sei, Arbeiten von
wirtschaftlichem Wert zu verrichten.
Mit Urteil vom 28. Juni 2004 hat das Sozialgericht der Klage stattgegeben und die streitigen Bescheide aufgehoben.
Es hat festgestellt, dass M. Y. im Falle eines gewöhnlichen Aufenthaltes in Deutschland Krankenversicherungsschutz
im Rahmen der Familien-versicherung zu gewähren sei. Die Voraussetzungen des § 10 Abs. 2 Nr. 4 SGB V seien
erfüllt, da M. Y. in der Zeit vom 20. Januar bis 13. Juni 1997 familienversichert gewesen sei.
Gegen das Urteil hat die Beklagte am 30. Juli 2004 fristgerecht Berufung eingelegt. Sie macht geltend, dass M. Y.
seit Jahren bei dem türkischen Krankenversicherungsträger versichert gewesen sei. Dieser Versicherungsschutz finde
seine Grundlage im türkischen Recht. Dies reiche für § 10 Abs. 2 Nr. 4 SGB V nicht aus.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 28. Juni 2004 aufzuheben und die Klage abzuweisen, hilfsweise die
Revision zuzulassen.
Der Kläger beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er ist der Ansicht, der Anwendung des § 10 SGB V stehe nicht entgegen, dass für seinen Sohn ein
Versicherungsschutz in der Türkei bestehe.
Das Verwaltungsgericht Berlin hat die Klage um die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis für M. Y. mit Urteil vom 4.
März 2005 - VG 15 A 420.01 - abgewiesen und in seiner Begründung darauf abgestellt, dass die Sicherung des
Lebensunterhaltes in der Bundesrepublik nicht gewährleistet sei. Ob Krankenversicherungsschutz bestehe, sei
ungeklärt, da in dem Rechtsstreit über die Krankenversicherung Berufung eingelegt und noch nicht abschließend
entschieden worden sei. Unabhängig davon sei der Nachzug aber zur Vermeidung einer außergewöhnlichen Härte
nicht erforderlich, da eine Versorgung des Sohnes auch in der Türkei zumutbar sei. Der Kläger hat gegen dieses Urteil
Antrag auf Zulassung der Berufung gestellt.
Das Landessozialgericht hat die Verwaltungsakte der Beklagten beigezogen und zusammen mit den Prozessakten
zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemacht.
Entscheidungsgründe:
Die statthafte und form- und fristgerecht eingelegte Berufung ist zulässig, aber nicht begründet. Zu Recht hat das
Sozialgericht der Klage stattgegeben.
Die Klage ist als Anfechtungs- und Feststellungsklage zulässig. Der Kläger kann als Stammversicherter die
Feststellung der Familienversicherung seiner Angehörigen betreiben (BSG 29. 6. 1993 – 12 RK 48/91, SozR 3-2500 §
10 Nr. 2). Das erforderliche Feststellungsinteresse nach § 55 Abs. 1 Nr. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ergibt sich
daraus, dass mit der hier vorliegenden Klage eine sozialrechtliche Vorfrage (das Bestehen von
Krankenversicherungsschutz) zu entscheiden ist, die für den Ausgang des anhängigen Verwaltungsrechtsstreits
bedeutsam ist. Zwar hat das Verwaltungsgericht Berlin entschieden, dass auch unabhängig von der hier anhängigen
Feststellung der Familienversicherung ein Anspruch des Klägers auf Aufenthaltserlaubnis nicht bestehe. Jedoch hat
der Kläger beim Oberverwaltungsgericht Berlin einen Antrag auf Zulassung der Berufung gestellt und der Ausgang des
Rechtsstreits ist daher ungewiss. Deshalb ist die hier zu entscheidende Frage des Bestehens oder Nichtbestehens
der Familienversicherung weiterhin für den in der Verwaltungsgerichtsbarkeit geführten Rechtsstreit von Bedeutung.
M. Y. ist im Falle der Begründung seines gewöhnlichen Aufenthalts in Deutschland bei der Beklagten
familienversichert. Der Tenor der sozialgerichtlichen Entscheidung ist dahin gehend zu verstehen, dass
Familienversicherung für M. Y. nur zum gegenwärtigen Zeitpunkt unter den vom Sozialgericht in den
Entscheidungsgründen des Urteils genannten Voraussetzungen besteht. Die Voraussetzungen des § 10 SGB V liegen
zum jetzigen Zeitpunkt vor, wenn er seinen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt im Inland begründet. Gemäß § 10
Abs. 2 Nr. 4 SGB V sind Kinder ohne Altersgrenze in der Familienversicherung versichert, wenn sie als behinderte
Menschen außerstande sind, sich selbst zu unterhalten, und die Behinderung zu einem Zeitpunkt vorlag, in dem das
Kind nach § 10 Abs. 2 Nr. 1, 2 oder 3 SGB V versichert war.
M. Y. ist ein behinderter Mensch im Sinne von § 2 Abs. 1 Satz 1 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX). Nach
dem Ergebnis der sozialgerichtlichen Beweisaufnahme leidet er an einer "chronisch-endogenen Psychose aus dem
schizophrenen Formenkreis". Der Senat folgt den Ausführungen des Sachverständigen Dr. E., weil diese anhand der
vorliegenden ärztlichen Unterlagen nachvollziehbar sind. Die Funktionseinschränkungen sind erheblich. U. a. sind in
dem Beschluss der Gesundheitskommission der Medizinischen Fakultät C. vom 21. April 1998 Verfolgungswahn,
akustische Halluzinationen und soziale Isolation beschrieben worden. Er könne aufgrund der Krankheit seinen
Lebensunterhalt durch Arbeit nicht verdienen. Dr. E. hat dies in seinem Gutachten bestätigt. 2001 ist eine totale
Inkontinenz hinzugekommen, die den Einsatz eines Katheters erforderlich macht. Eine Besserung oder Heilung sei
nach der Einschätzung Dr. E. unwahrscheinlich, da sich aus den ärztlichen Berichten eine sehr ungünstige Prognose
ergebe. M. Y. ist aufgrund der beschriebenen Funktionsstörungen in seiner Teilhabe am Leben in der Gesellschaft
beeinträchtigt (§ 2 Abs. 1 Satz 1 SGB IX) und außerdem außerstande, sich selbst zu unterhalten.
Die Behinderung hat bereits zu einem Zeitpunkt vorgelegen, in dem M. Y. nach § 10 Abs. 2 Nr. 1, 2 oder 3 SGB V
familienversichert war (§ 10 Abs. 2 Nr. 4 Satz 2 SGB V). Voraussetzung ist, dass zwischen der Geburt und der
jeweiligen Altersgrenze zu einem beliebigen Zeitpunkt die Behinderung und eine Familienversicherung zeitgleich
nebeneinander bestanden haben (Gerlach in Hauck/Noftz, Gesetzliche Krankenversicherung Kommentar, K § 10
Rdnr. 55 a).
Die Behinderung des Sohnes des Klägers besteht seit Herbst 1996. Dr. E. ist in seinem Gutachten zu dem Ergebnis
gekommen, dass sich die Erkrankung im Herbst 1996 erheblich verschlechtert habe. Von diesem Zeitpunkt an sei der
Sohn des Klägers mit Sicherheit nicht mehr in der Lage gewesen, Arbeiten von wirtschaftlichem Wert zu verrichten.
Der Senat hält diese Ausführungen für überzeugend und schließt sich ihnen an. Dies deckt sich auch mit der Angabe
des Neurologen und Psychiaters Dr. H., der M. Y. 1997 in Deutschland behandelt hat. Er hat in seinem Befundbericht
vom 1. April 2003 angegeben, dass in der Behandlungszeit "aufgrund der akuten Symptomatik keinerlei Möglichkeit
der sozialen Integration" bestanden habe.
Zwar ist die Zeit des Deutschlandaufenthaltes vom 20. Januar bis 13. Juni 1997 keine insoweit zu berücksichtigende
Versicherungszeit. Die Voraussetzungen des § 10 Abs. 2 Nr. 1, 2 oder 3 SGB V lagen in dieser Zeit nicht vor, weil
sich M. Y. weder in Schul- noch in Berufsausbildung befunden hat. Ausweislich der Bescheinigung der Nahöstlichen
Universität in Z. vom 29. August 2002 ist er nur bis 1996 und dann erst wieder ab 2. Oktober 1998 als Studierender
immatrikuliert gewesen. In der Zwischenzeit hat keine (insoweit unschädliche) Unterbrechung des Studiums wegen
Krankheit vorgelegen. Es hat aufgrund der schwerwiegenden ärztlichen Befunde an einer realistischen und
berechtigten Erwartung gefehlt, das Studium bald fortsetzen zu können. Schließlich hat M. Y. sein Studium nie wieder
aufgenommen. Er ist zwar seit 2. Oktober 1998 wieder immatrikuliert gewesen, hat aber am 13. Oktober 1998 einen
Suizidversuch durch einen Sturz aus dem 4. Stock eines Hauses unternommen und ist danach so lange im
Krankenhaus gewesen, bis er wieder exmatrikuliert worden ist.
Als Versicherungszeit im Sinne des § 10 Abs. 2 Nr. 4, 2. Halbsatz SGB V ist jedoch die Versicherungszeit in der
Türkei von Herbst 1996 bis zur Vollendung des 23. Lebensjahres am 14. Januar 1997 zu berücksichtigen. In dieser
Zeit sind die Voraussetzungen des § 10 Abs. 2 Nr. 2 SGB V erfüllt, da M. Y. nicht erwerbstätig war. Auch die
allgemeinen Voraussetzungen nach § 10 Abs. 1 SGB V sind erfüllt mit Ausnahme von § 10 Abs. 1 Nr. 1 SGB V.
Danach ist nur versichert, wer seinen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt im Inland hat. Da M. Y. bis heute
seinen Wohnsitz in der Türkei hat, liegt diese Voraussetzung zwar nicht vor. Der o. g. Zeitraum ist jedoch nach dem
sich aus dem SVA Türkei ergebenden Grundsatz der Gebietsgleichstellung wie eine Zeit der Versicherung nach § 10
SGB V zu behandeln, da M. Y. nach türkischem Recht familienversichert war. Dass eine Gleichstellung von
Familienversicherungsschutz im Ausland mit dem Bestehen des deutschen Versicherungsschutzes grundsätzlich
möglich ist, hat das Bundessozialgericht für den Fall einer anerkannten Vertriebenen entschieden (BSG 29. 9 94 – 12
RK 67/93, SozR 3-7140 § 90 Nr.1). Im vorliegenden Fall erfolgt die Gleichstellung der türkischen Versicherungszeit
nach Art. 11 SVA Türkei. Dieser stellt im Abschnitt II des Abkommens eine Spezialvorschrift für das
Krankenversicherungsrecht dar. Danach sind für die Versicherungspflicht, das Recht zur freiwilligen Versicherung und
den Leistungsanspruch nach den Rechtsvorschriften der einen Vertragspartei (Deutschland) die nach den
Rechtsvorschriften der anderen Vertragspartei (Türkei) zurückgelegten Versicherungszeiten zu berücksichtigen,
soweit sie nicht auf dieselbe Zeit entfallen. Anerkannt ist, dass die Vorversicherungszeiten nach § 5 Abs. 1 Nr. 11
SGB V und § 9 Abs. 1 Nr. 1 und 4 SGB V über Art. 11 SVA Türkei erfüllt werden können (Frank in von
Maydell/Ruland, Sozialrechtshandbuch, 2. Aufl., 33, Rdnr. 94). Dies muss auch für die Familienversicherung im Sinne
des § 10 Abs. 2 Nr. 4, 2. Halbsatz SGB V gelten, da es sich dabei um einen Leistungsanspruch für den Fall der
Krankheit handelt (vgl. Baier in Krauskopf, Soz. Krankenversicherung Pflegeversicherung Kommentar, § 10 SGB V,
Rdnr. 4). Nach dem Grundsatz der Gebietsgleichstellung sollen nach dem SVA Türkei auch in der Türkei lebende
Angehörige von der Familienversicherung erfasst sein. Ihnen ist daher auch zuzubilligen, dass sie anrechenbare
Versicherungszeiten in der Türkei zurücklegen können, sofern bis auf den Inlandswohnsitz alle sonstigen
Voraussetzungen der Familienversicherung nach § 10 SGB V erfüllt sind. Mithin ist die o. g. Zeit, in der zwar für
Rechnung der Beklagten, aber nach den Rechtsvorschriften der Türkei Leistungen der Familienversicherung erbracht
wurden, als Vorversicherungszeit anzurechnen.
Die Zeit von Herbst 1996 bis 14. Januar 1997 reicht als anrechenbare Versicherungszeit aus. Denn nach dem
Wortlaut der Vorschrift wird keine Mindestdauer der Parallelität von Behinderung und Familienversicherung
vorausgesetzt (Gerlach in Hauck/Noftz, Ges. Krankenversicherung Kommentar, K § 10 Rdnr. 55 a).
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Der Senat hat die Revision gemäß § 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG zugelassen.