Urteil des LSG Hamburg vom 17.07.2006

LSG Ham: besondere härte, nachzahlung, leistungsbezug, gewährleistung, sozialhilfe, auszahlung, sicherstellung, existenzminimum, zivilprozessordnung, rechtsschutz

Landessozialgericht Hamburg
Beschluss vom 17.07.2006 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Hamburg S 55 AS 1404/05 ER
Landessozialgericht Hamburg L 5 B 71/06 ER AS
Auf die Beschwerde der Antragsgegnerin wird der Beschluss des Sozialgerichts vom 24. Januar 2006 aufgehoben.
Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung wird abgelehnt. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Gründe:
Die am 24. Februar 2006 eingelegte Beschwerde der Antragsgegnerin gegen den Beschluss des Sozialgerichts
Hamburg vom 24. Januar 2006, der das Sozialgericht nicht abgeholfen und die es dem Senat zur Entscheidung
vorgelegt hat (§ 174 Sozialgerichtsgesetz - SGG), ist statthaft und zulässig (§§ 172, 173 SGG) und auch begründet.
Zu Unrecht hat das Sozialgericht dem Antrag des Antragstellers teilweise entsprochen und eine einstweilige
Anordnung nach § 86 b Abs. 2 SGG erlassen.
Einstweilige Anordnungen sind zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis
zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile notwendig erscheint (§ 86 b Abs. 2 S. 2
SGG). Der durch den beantragten vorläufigen Rechtsschutz zu sichernde Anspruch (Anordnungsanspruch) und die
Notwendigkeit einer vorläufigen Sicherung (Anordnungsgrund) sind glaubhaft zu machen (§ 86 b Abs. 2 S. 4 SGG
i.V.m. §§ 920 Abs. 2, 294 Zivilprozessordnung).
Der Antragsteller hat einen Anordnungsgrund nicht glaubhaft gemacht. Eine besondere Eilbedürftigkeit für eine
gerichtliche Entscheidung zur Abwendung wesentlicher Nachteile liegt grundsätzlich nur dann vor, wenn der
Antragsteller eine existentielle Notlage glaubhaft macht, die ein sofortiges Handeln erfordert. Sie fehlt dagegen, wenn
eine Bedarfsdeckung nicht sofort erforderlich ist oder wenn der Antragsteller in zumutbarer Weise auf andere Mittel
zurückgreifen kann, mit deren Hilfe er seinen unabweisbaren Bedarf jedenfalls vorläufig decken kann. Das einstweilige
Rechtsschutzverfahren soll somit lediglich den existenziellen Bedarf sichern (Grieger in Rothkegel, Sozialhilferecht, 1.
Auflage, 2005, S. 708 Rn. 26).
Allein streitig ist, ob die Antragsgegnerin berechtigt ist, die von dem Antragsteller bezogene Verletztenrente aus der
gesetzlichen Unfallversicherung bei der Gewährung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem
Sozialgesetzbuch Zweites Buch - Grundsicherung für Arbeitsuchende - (SGB II) in voller Höhe als Einkommen zu
berücksichtigen oder ob sie einen Teil hiervon anrechnungsfrei zu stellen hat. Da der Antragsteller somit aber
jedenfalls über Einkünfte in Höhe der Regelleistungen nach dem SGB II verfügt, ist sein soziokulturelles
Existenzminimum sichergestellt (vgl. BT-Drucks. 15/1516 S. 45 unter II.1. lit. b und 56 zu § 20 Abs. 1).
Es ist ihm auch zumutbar, jedenfalls bis zur Entscheidung im Hauptsacheverfahren für die Sicherstellung seines
Lebensunterhalts auf die Verletztenrente zurückzugreifen, da ihm hierdurch keine nicht wieder gut zu machenden
Nachteile entstehen. Es ist seit jeher im Sozialhilferecht anerkannt, dass zwar grundsätzlich existenzsichernde
Fürsorgeleistungen nicht für die Vergangenheit gewährt werden können, diese aber im Hinblick auf die Gewährleistung
effektiven Rechtsschutzes dann nachträglich und rückwirkend zu zahlen sind, wenn sie in einem
Rechtsbehelfsverfahren erstritten werden. Dies gilt auch, wenn der Hilfebedürftige den Bedarf aus Einkommen oder
Vermögen gedeckt hat, zu deren Einsatz er nicht verpflichtet war (ständige Rechtsprechung des BVerwG, vgl. z.B.
Urt. v. 5.5.1994, - 5 C 43.91 -, BVerwGE 96, S. 18 ff., 19, 21 m.w.N.; Rothkegel in Rothkegel, a.a.O., S. 363 Rn. 3 f.).
Diese Grundsätze sind auf die Grundsicherung für Arbeitsuchende ohne weiteres übertragbar. Sofern sich der
Hilfebedürftige zum Zeitpunkt der Nachzahlung noch im Leistungsbezug befindet, bleibt diese bei der Prüfung der
Hilfebedürftigkeit außer Betracht. Dabei kann dahinstehen, ob eine Nachzahlung von Arbeitslosengeld II als
Einkommen oder Vermögen anzusehen ist. Als Einkommen wäre eine Anrechnung auf die laufenden Leistungen
bereits nach § 11 Abs. 1 S. 1 SGB II ausgeschlossen, da hiernach Leistungen nach dem SGB II nicht als
Einkommen zu berücksichtigen sind. Eine Berücksichtigung als Vermögen würde nach hier zulässiger summarischer
Prüfung eine besondere Härte darstellen und daher gemäß § 12 Abs. 3 S. 1 Nr. 6 SGB II ebenfalls ausscheiden. Es
würde dem Gedanken einer effektiven Rechtsschutzgewährung eklatant widersprechen, wenn man bei unrechtmäßiger
Vorenthaltung zwar die nachträgliche Gewährung von Leistungen zuließe, diese dann aber durch Anrechnung auf
laufende Leistungen nicht zur Auszahlung kämen (vgl. zur rechtsähnlichen Vorschrift des § 90 Abs. 3 S. 1 SGB
Zwölftes Buch – Sozialhilfe – Grube/Wahrendorf, SGB XII, § 90 Rn. 43).
Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.
Dieser Beschluss ist nicht anfechtbar (§ 177 SGG).