Urteil des LSG Hamburg vom 11.01.2007
LSG Ham: wesentlicher nachteil, gefahr, anschlussbeschwerde, existenzminimum, erschwerung, aufrechnung, darlehen, belastung, kauf, zivilprozessordnung
Landessozialgericht Hamburg
Beschluss vom 11.01.2007 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Hamburg S 54 AS 2052/06 ER
Landessozialgericht Hamburg L 5 B 531/06 ER AS
Auf die Beschwerde der Antragsgegnerin wird der Beschluss des Sozialgerichts Hamburg vom 13. November 2006
aufgehoben und der Antrag abgelehnt. Die Anschlussbeschwerde wird zurückgewiesen. Außergerichtliche Kosten sind
nicht zu erstatten.
Gründe:
Die am 16. November 2006 durch die Antragsgegnerin gegen den Beschluss des Sozialgerichts Hamburg (SG) vom
13. November 2006 eingelegte Beschwerde, der das Sozialgericht nicht abgeholfen und die es dem Senat zur
Entscheidung vorgelegt hat (§ 174 Sozialgerichtsgesetz - SGG), ist statthaft und zulässig (§§ 172, 173 SGG).
Sie ist auch begründet. Das Sozialgericht hat die Antragsgegnerin zu Unrecht im Wege der einstweiligen Anordnung
verpflichtet, der Antragstellerin in den Monaten November und Dezember 2006 darlehensweise die Differenz zwischen
der Wassergeldpauschale in Höhe von 17.- Euro und der tatsächlich zu leistenden Abschlagzahlung in Höhe von 43.-
Euro zu bewilligen.
Nach § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG sind einstweilige Anordnungen zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug
auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile
notwendig erscheint. Die Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes setzt in diesem Zusammenhang einen
Anordnungsanspruch, also einen materiell-rechtlichen Anspruch auf die Leistung, zu dem die Antragsgegnerin im
Wege des einstweiligen Rechtsschutzes verpflichtet werden soll, sowie einen Anordnungsgrund, nämlich einen
Sachverhalt, der die Eilbedürftigkeit der Anordnung begründet, voraus. Sowohl Anordnungsanspruch und
Anordnungsgrund sind gem. § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung (ZPO) i. V. m. § 86b Abs. 2 Satz 4 SGG glaubhaft
zumachen.
Vorliegend fehlt es bereits an einem Anordnungsgrund. Der Senat ist nicht davon überzeugt, dass der Antragstellerin
wesentliche Nachteile drohen, wenn sie bis zur Entscheidung in der Hauptsache die Differenz zwischen der
Wassergeldpauschale und der tatsächlich zu leistenden monatlichen Abschlagzahlung vorläufig selbst zu tragen hat.
Es handelt sich hierbei um einen Betrag in Höhe von 26.- Euro monatlich. Das Vorliegen eines wesentlichen Nachteils
ist jedoch in Fällen, in denen Geldleistungen im Streit stehen, deren Höhe weniger als 10 vom Hundert der
monatlichen Regelleistung beträgt, generell zu verneinen.
Nach § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG muss eine Regelungsanordnung zur ´Abwendung wesentlicher Nachteile nötig`
erscheinen. Der unbestimmte, durch das Gesetz nicht näher umschriebene Rechtsbegriff des wesentlichen Nachteils
ist unter Berücksichtigung des Gesetzeszwecks da- hingehend zu konkretisieren, dass dieser nur dann vorliegt, wenn
entweder die Gefahr der Rechtsvereitelung oder jedenfalls die einer wesentlichen Erschwerung der
Rechtsverwirklichung droht (Peters-Sautter-Wolff, SGG-Kommentar, § 86b RdNr. 77; vgl. auch Keller in Meyer-
Ladewig/Keller/Leitherer, SGG-Kommentar 8. Aufl., § 86b RdNr. 28).
Die Gefahr einer Rechtsvereitelung ist, wenn – wie hier – lediglich Geldleistungen im Streit stehen, grundsätzlich nicht
relevant. Etwas anderes gilt nur dann, wenn es um die Sicherung des verfassungsrechtlich garantierten
Existenzminimums während des gerichtlichen Hauptsacheverfahrens geht, weil derartige Beeinträchtigungen nicht
mehr nachträglich ausgeglichen werden können, selbst wenn die im Rechtsbehelfsverfahren erstrittenen Leistungen
rückwirkend gewährt werden (vgl. BVerfG v. 12.5.2005, 1 BvR 569/05, Breith 2005, S. 803 ff., 805). Darum geht es
hier jedoch nicht, weil das Existenzminimum der Antragstellerin unberührt bleibt, wie noch ausgeführt wird.
Aber auch die Gefahr einer wesentlichen Erschwerung der Rechtsverwirklichung ist vorliegend nicht erkennbar. Diese
wird dann angenommen, wenn ein Antragsteller wegen der Langwierigkeit des Hauptsacheverfahrens bis zu seiner
Erledigung erhebliche rechtliche, wirtschaftliche oder auch ideelle Nachteile in Kauf nehmen müsste.
Derartige ´erhebliche` wirtschaftliche Nachteile drohen der Antragstellerin vorliegend nicht. Nach Auffassung des
Senats führt nicht jede – geringfügige – Unterschreitung des Regelsatzes dazu, dass ein Abwarten des
Hauptsacheverfahrens unzumutbar wäre (ebenso LSG Sachsen, Beschluss v. 24.10.2006, L 3 B 158/06 AS-ER,
m.w.N.; a.A. LSG Baden-Württemberg, Beschluss v. 6.9.2006, L 13 AS 3108/06 ER-B).
Zwar wird die Auffassung vertreten, dass beim Streit um Grundsicherungsleistungen ein Anordnungsgrund in aller
Regel anzunehmen sei, da diese Leistungen gerade dazu bestimmt seien, den Lebensunterhalt und damit ein
menschenwürdiges Dasein zu gewährleisten (Binder in Hk-SGG, 2. Aufl., § 86b RdNr. 36). Dabei wird jedoch außer
Betracht gelassen, dass die Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Sozialgesetzbuch – Zweites
Buch – Grundsicherung für Arbeitsuchende – SGB II nach der gesetzlichen Konzeption über die Sicherung des bloßen
existentiellen Bedarfs hinausgehen. Dies ergibt sich bereits daraus, dass der Gesetzgeber für einen begrenzten
Zeitraum sogar eine Absenkung der Regelleistung um 30 v.H. für zumutbar hält, wie sich aus § 31 Abs. 1 Satz 1 SGB
II ergibt. Es spricht daher einiges dafür, die Grenze des zum Lebensunterhalt Unerlässlichen bei 70 v.H. der
Regelleistung anzusetzen (so SG Dortmund, Beschluss v. 17.11.2005, S 22 AS 206/05 ER – Juris; vgl. auch LSG
Sachsen, Beschluss v. 24.10.2006, L 3 B 158/06 AS-ER). Um Bedenken Rechnung zu tragen, dass es sich hierbei
um eine – zudem zeitlich befristete – Sanktion handelt, hält es der Senat allerdings für sachgerechter, auf die
Regelung des § 23 Abs. 1 Satz 3 SGB II zurückzugreifen. Danach ist ein nach § 23 Abs. 1 Satz 1 SGB II im
Einzelfall zur Deckung eines unabweisbaren Bedarfes gewährtes Darlehen durch monatliche Aufrechnung in Höhe von
bis zu 10 vom Hundert der an den erwerbsfähigen Hilfebedürftigen zu zahlenden Regelleistung zu tilgen.
Wenn es der Gesetzgeber - außerhalb von Sanktionsmaßnahmen – somit für zumutbar hält, dass durch die
notwendige Darlehenstilgung der Regelsatz um bis zu 10 v.H. – bei Alleinstehenden also um maximal 34,50 Euro im
Monat – reduziert werden kann, ohne dass dies das Existenzminimum berührt, gibt dies zugleich einen Maßstab
dafür, wann ein ´wesentlicher` Nachteil im Sinne des § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG anzunehmen ist, und wann nicht. Da
der hier strittige Betrag diesen Wert unterschreitet, ist es der Antragstellerin somit zumutbar, den Ausgang des
Hauptsacheverfahrens abzuwarten.
Ergänzend verweist der Senat darauf, dass es die Antragstellerin selbst in der Hand hätte, die Belastung zu
verringern. Da der monatlichen Abschlagzahlung ein Wasserverbrauch im vorangegangenen Abrechnungszeitraum
zugrunde liegt, der den durchschnittlichen Wasserverbrauch von 116 Litern pro Kopf und Tag (vgl. ´Fachliche Vorgabe
zu § 22 SGB II`, Ziff. 2.2) mit 314 Litern fast um das Dreifache übersteigt, und keine nachvollziehbaren und
anerkennenswerten Gründe erkennbar sind, die diesen Mehrverbrauch rechtfertigen, ist davon auszugehen, dass die
Antragstellerin die Nachteile durch schlichte Verbrauchseinschränkung und nachfolgende Reduzierung der
Abschlagzahlungen vermeiden kann.
Die Anschlussbeschwerde der Antragstellerin muss bereits deswegen erfolglos bleiben, weil dieser – wie ausgeführt –
kein Anordnungsgrund zur Seite steht.
Die Entscheidung über die Kosten beruht auf der entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.
Dieser Beschluss ist gemäß § 177 SGG nicht anfechtbar.