Urteil des LSG Hamburg vom 22.08.2002

LSG Ham: zuschuss, steuerberater, arbeitslosigkeit, neugründung, einkünfte, unternehmen, kapitalgesellschaft, materialien, arbeitsentgelt, geschäftstätigkeit

Landessozialgericht Hamburg
Urteil vom 22.08.2002 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Hamburg S 6 AL 791/98
Landessozialgericht Hamburg L 5 AL 31/00
Auf die Berufung der Beklagten wird der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Hamburg vom 25. Januar 2000
aufgehoben. Die Klage wird abgewiesen. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten. Die Revision wird
zugelassen.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten um einen Einstellungszuschuss.
Der Kläger ist selbstständiger Steuerberater. Bis zum 31. Juli 1997 war er bei den Steuerberatern T. und Partner
angestellt.
Am 21. Oktober 1997 beantragte der Kläger bei der Beklagten die Gewährung eines "Einstellungszuschusses bei
Neugründungen". Der Antrag bezog sich auf die Beigeladene, die er auf einem neu geschaffenen Arbeitsplatz
einstellen und mit der er einen unbefristeten Arbeitsvertrag abschließen werde. Er machte einen Zuschuss für die
Dauer von zwölf Monaten in Höhe von 50 vH des für die Bemessung maßgeblichen Arbeitsentgelts geltend. Die
Aufnahme seiner selbstständigen Tätigkeit sei am 1. August 1997 erfolgt. Am 28. Oktober 1997 schloss der Kläger
einen Arbeitsvertrag mit der Beigeladenen, wonach diese ab 1. November 1997 als Angestellte in seiner Praxis mit
einer regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit von 25 Stunden bei einem monatlichen Gehalt von 2150 DM beschäftigt
wurde; sie war bis ins Frühjahr 2000 für ihn tätig. Im übrigen legte der Kläger der Beklagten eine fachliche
Stellungnahme der Steuerberaterkammer Hamburg vom 14. November 1997 zur Tragfähigkeit seiner
Existenzgründung vor. Weiter teilte er mit, dass er seit 1994 nebenberufliche Einkünfte aus selbstständiger Tätigkeit
als Steuerberater bei einem Zeitaufwand von durchschnittlich vier Wochenstunden erzielt habe. Bis einschließlich
1996 sei er hauptberuflich als angestellter Steuerberater tätig gewesen. In der Zeit vom 1. Januar bis 31. Juli 1997
habe er eine Vier-Tage-Woche bei seinem bisherigen Arbeitgeber gehabt. Ab 1. August 1997 sei er hauptberuflich
selbstständig tätig. Seit dem 1. April 1997 beschäftige er eine Teilzeitmitarbeiterin an drei Tagen in der Woche. Ab 15.
April 1997 habe er eigene Büroräume angemietet gehabt. Das Verhältnis seiner nicht- selbstständigen Einkünfte zu
den Einkünften aus selbstständiger Steuerberatung habe von 1994 bis 1996 betragen: 96.224 DM zu 2321 DM (1994),
159.122 DM zu 1025 DM (1995) und 137.043 DM zu 5245 DM (1996, vorläufig). Die Beklagte lehnte den Antrag des
Klägers auf Gewährung eines Einstellungszuschusses durch Bescheid vom 11. Dezember 1997 ab: Gemäß § 55 des
Arbeitsförderungsgesetzes (AFG) könne sie Arbeitgebern, die vor nicht mehr als zwei Jahren eine selbstständige
Tätigkeit aufgenommen hätten, einen Zuschuss zum Arbeitsentgelt gewähren. Da der Kläger bereits seit 1994
selbstständig sei, gehöre er jedoch nicht zum förderungsfähigen Personenkreis. Der Kläger erhob Widerspruch, den
die Beklagte als unbegründet zurückwies (Widerspruchsbescheid vom 5. Mai 1998, abgesandt am 8. Mai 1998).
Der Kläger hat am 8. Juni 1998 vor dem Sozialgericht Hamburg Klage erhoben. Das Sozialgericht hat die aus dem
Rubrum ersichtliche Beiladung beschlossen und nach einer Anhörung der Beteiligten durch Gerichtsbescheid vom 25.
Januar 2000 die Beklagte verurteilt, den Antrag vom 21. Oktober 1997 über die Gewährung eines
Einstellungszuschusses neu zu bescheiden. Die Beklagte habe die nach § 55 b AFG erforderliche
Ermessensentscheidung über den Einstellungszuschuss nicht getroffen. Sie sei bei ihrer Entscheidung von der
falschen Annahme ausgegangen, dass der Kläger bereits mehr als zwei Jahre vor seiner Antragstellung seine
selbstständige Tätigkeit aufgenommen habe. Wäre dem so, so lägen die Voraussetzungen für die Gewährung eines
Einstellungszuschusses nach § 55 b AFG allerdings nicht vor. Doch sei der Kläger zunächst weniger als 18 Stunden
wöchentlich selbstständig tätig gewesen. Diese Tätigkeit sei wegen ihres geringen Umfanges nicht zu
berücksichtigen, wie ein Vergleich mit § 55 a AFG zeige, der eine ent- sprechende Regelung enthalte. Bei der zu
treffenden Ermessensentscheidung habe die Be- klagte davon auszugehen, dass der Kläger seine selbstständige
Tätigkeit innerhalb des gesetzlichen Zwei-Jahres-Zeitraums aufgenommen habe.
Die Beklagte hat gegen den ihr am 14. Februar 2000 zugestellten Gerichtsbescheid am 14. März 2000 Berufung
eingelegt, zu deren Begründung sie vorträgt: Zu Unrecht vertrete das Sozialgericht im Rahmen des § 55 b AFG die
Auffassung, dass man von der Aufnahme einer selbstständigen Tätigkeit grundsätzlich erst dann sprechen könne,
wenn diese mindestens 18 Stunden wöchentlich ausgeübt werde. Damit interpretiere es etwas in den Gesetzestext
hinein, was dort nicht nachzulesen sei, sondern vom Gesetzgeber bewusst nicht aufgenommen worden sei. Das
Sozialgericht habe § 55 a AFG (heute § 57 des Dritten Buches Sozialgesetzbuch - SGB 111 -) und § 55 b AFG (heute
§ 225 SGB 111) miteinander verglichen. Diese Vorschriften hätten zwar kurzzeitig (vom 1. April bis 31. Dezember
1997) hintereinander im AFG unter der gemeinsamen Überschrift "Förderung der Arbeitsaufnahme und der Aufnahme
einer selbstständigen Tätigkeit" gestanden, sie be- träfen aber dennoch zwei unterschiedliche Leistungen
(Überbrückungsgeld/Einstellungszuschüsse), sodass auch unterschiedliche Anspruchsvoraussetzungen erfüllt sein
müssten. Während § 55 a Abs. 1 Satz 1 AFG die Aufnahme einer selbstständigen Tätigkeit mit einer wöchentlichen
Arbeitszeit von mindestens 18 Stunden fordere, finde sich diese zeitliche Einschränkung in § 55 b Abs. 1 AFG/§ 225
SGB m ausdrücklich nicht. Der Unterschied im Wortlaut der §§ 55 a und 55 b AFG sei vom Gesetzgeber so gewollt.
Denn § 55 a AFG/§ 57 SGB m fördere die Beendigung der Arbeitslosigkeit durch die Aufnahme einer selbstständigen
Tätigkeit. Letztere müsse mehr als kurzzeitig sein, ansonsten entfiele die Arbeitslosigkeit nicht. § 55 b AFG/§ 225
SGB m fördere hingegen die Einstellung von Arbeitslosen durch Existenzgründer. Hier sei eine Mindestarbeitszeit des
Arbeitgebers nicht erforderlich. Außerdem seien Existenzgründer gerade in der Anfangsphase oft nicht mit Aufträgen
ausgelastet; wären sie es, so bedürften sie keiner Förderung. Auch der Name der Leistung nach § 55 b AFG besage,
dass Neugründungen bezuschusst werden sollten. Der Zuschuss solle dem Umstand Rechnung tragen, dass
Existenzgründer für Löhne kaum Kredite erhalten könnten (so die Materialien). Für die Förderung sei es auch
unerheblich, ob es sich um ein Unternehmen eines Einzelnen bzw. einer Personen- oder Kapitalgesellschaft handele;
auch hieraus folge, dass eine Mindestarbeitszeit im Rahmen der §§ 55 b AFG/225 SGB unsinnig wäre.
Die Beklagte beantragt,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Hamburg vom 25. Januar 2000 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er führt aus: Im Rahmen des § 55 b AFG sei bei der Prüfung des Zeitpunktes der Aufnahme der selbstständigen
Tätigkeit darauf abzustellen, wann die selbstständige Tätigkeit des Arbeitgebers mindestens 18 Wochenstunden
umfasse. Diese Ansicht werde durch die Systematik des AFG und die Einordnung der Vorschrift über den
Einstellungszuschuss - § 5 55 b AFG - direkt hinter der Vorschrift über das Überbrückungsgeld - § 55 a AFG -
gestützt. Beide Vorschriften verfolgten dieselben Zwecke, nämlich durch Erleichterung von Existenzgründungen die
Arbeitslosigkeit abzubauen. Daran ändere auch die unterschiedliche Einordnung beider Vorschriften im SGB m nichts.
Zwar habe der Gesetzgeber nicht konkretisiert, ab wann eine Neugründung vorliege, die eine echte Existenzgründung
sein müsse, also nicht eine bloße Umgründung eines bereits bestehenden Betriebes. Doch habe das Sozialgericht
zutreffend ausgelegt, wann eine Existenzgründung vorliege. Nicht zu folgen sei der Auffassung der Beklagten, dass
der Gesetzgeber absichtlich keine Mindestarbeitszeit für die Aufnahme der selbstständigen Tätigkeit bestimmt habe,
da diese in An- betracht der Tatsache, dass sowohl Personen- als auch Kapitalgesellschaften den Zuschuss erhalten
könnten, unsinnig wäre. Bei Kapitalgesellschaften stelle sich die Frage nach dem Zeitpunkt der Neugründung in der
Regel nicht, da sich dieser durch die Eintragung in das Handelsregister verbindlich feststellen lasse. Im Gegensatz
dazu müsse bei der Ausübung der selbstständigen Tätigkeit eines freien Berufes wie des Steuerberaters darauf
abgestellt werden, ab wann eine mehr als geringfügige Tätigkeit ausgeübt werde. Dafür genüge eine Arbeitsbelastung
von 18 Stunden wöchentlich, was einer täglichen Arbeitszeit von 3,6 Stunden bei einer Fünf-Tage-Woche entspreche.
Diese durch Auslegung ermittelte Mindestarbeitszeit für die Bestimmung des Zeitpunktes einer Neugründung könne
wohl kaum geeignet sein, die befürchteten Mitnahmeeffekte entstehen zulassen.
Die Beigeladene hat nicht Stellung genommen.
Hinsichtlich weiterer Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird Bezug genommen auf den Inhalt der
Prozessakten und der anderen Akten und Unterlagen, die in der Sitzungsniederschrift vom 22. August 2002 aufgeführt
und Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung der Beklagten ist zulässig und begründet. Der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Hamburg vom 25.
Januar 2000 ist aufzuheben und die Klage abzuweisen. Der Bescheid der Beklagten vom 11. Dezember 1997 in der
Gestalt des Widerspruchsbescheid des vom 5. Mai 1998 ist rechtmäßig. Der Kläger kann nicht verlangen, dass die
Beklagte seinen Antrag auf Gewährung eines Einstellungszuschusses neu bescheidet.
Maßstab für das Begehren des Klägers ist § 55 b AFG in der vom 1. April bis 31. Dezember 1997 gültigen Fassung.
Nach seinem Abs. 1 kann die Beklagte Arbeitgebern, die vor nicht mehr als zwei Jahren eine selbstständige Tätigkeit
aufgenommen haben, für die un- befristete Beschäftigung eines zuvor arbeitslosen förderungsbedürftigen
Arbeitnehmers auf einem neu geschaffenen Arbeitsplatz einen Zuschuss zum Arbeitsentgelt (Einstellungszuschuss
bei Neugründungen) gewähren. Diese Vorschrift verpflichtet die Beklagte zu einer Ermessensentscheidung über den
Einstellungszuschuss ("kann ... gewähren"), wenn ihre Tatbestandsmerkmale erfüllt sind. Letzteres ist jedoch nicht
der Fall. Es mangelt daran, dass der Kläger seine selbstständige Tätigkeit als Steuerberater schon mehr als zwei
Jahre vor dem zu bezuschussenden Arbeitsverhältnis der Beigeladenen (das am 1. November 1997 begann) und auch
vor seiner Antragsteilung (vom 21. Oktober 1997) auf- genommen hatte, und zwar im Jahre 1994. Bei der Ermittlung
des Aufnahmezeitpunktes genügen zwar Vorbereitungshandlungen noch nicht, doch liegt der Beginn der selbst-
ständigen Tätigkeit vor, wenn die eigentliche Geschäftstätigkeit tatsächlich aufgenommen ist (vgl. zu der am 1.
Januar 1998 in Kraft getretenen, insoweit inhaltsgleichen Nachfolgevorschrift des § 225 SGB 1lI Winkler in Gagei,
SGB 1lI, § 225 Rn. 6, EL 14). Im Jahre 1994 hat der Kläger aus selbstständiger Steuerberatung nach seiner
Darlegung bei einem geschätzten durchschnittlichen Zeitaufwand von wöchentlich vier Stunden bereits Einkünfte von
2321 DM erzielt. Folglich hat er schon 1994 die selbständige Tätigkeit im Kernbereich ausgeübt und sie damit
aufgenommen, wenn auch zunächst nur in geringem Umfang.
Eine Festlegung des Aufnahmezeitpunktes auf ein späteres Jahr als 1994 käme nur in Be- tracht, wenn die
"Aufnahme" der selbstständigen Tätigkeit ein quantitatives, damals noch nicht erreichtes Tätigkeitsminimum erfordern
würde, insbesondere die vom Kläger zu Grunde gelegte wöchentliche Arbeitszeit von mindestens 18 Stunden erreicht
sein müsste. Ein derartiger zeitlicher Mindestumfang lässt sich dem Wortlaut des § 55 b AFG jedoch nicht
entnehmen. Dass der Gesetzgeber eine entsprechende Regelung in dieser Vorschrift lediglich "vergessen" hätte,
erscheint zweifelhaft, da er eine Regelung zur wöchentlichen Arbeitszeit in der vorstehenden Bestimmung des § 55 a
AFG (Überbrückungsgeld) vor Augen hatte. Wenn er eine derartige Regelung weder in § 55 b AFG noch im späteren §
225 SGB m getroffen hat, spricht dies eher dafür, dass er sie nicht wollte. Dies steht auch mit der unterschiedlichen
Funktion der §§ 55 a und 55 b AFG, die die Beklagte in ihrer Berufungsbegründung zutreffend dargestellt hat, in
Einklang. Wenn der Gesetzgeber "Neugründungen" (so ausdrücklich in § 55 b AFG und in der Überschrift vor § 225
SGB m sowie in den §§ 226 und 227 SGB m) begünstigen wollte, so war es nicht sachwidrig, nur echte
Neugründungen (Anfang "bei Null") zu fördern und nicht auch Altgründungen, die zunächst nur eine geringe und erst in
den letzten zwei Jahren eine stärkere Tätigkeit entfaltet hatten. Solche Altgründungen hatten auch bei zunächst nur
geringem Tätigkeitsumfang eine viel längere Zeit, sich zu etablieren, sodass der Förderungsbedarf durchaus
unterschiedlich eingeschätzt werden kann. Von der Sache her ist es deshalb nicht geboten, für den Beginn der
selbstständigen Tätigkeit im Sinne des § 55 b Abs. 1 AFG über den Wortlaut hinaus einen gesteigerten
Tätigkeitsumfang - zum Beispiel von 18 Wochenstunden - zu verlangen. Es ist nicht ersichtlich, dass eine solche
Auffassung (außer im angefochtenen Gerichtsbescheid) in der Rechtsprechung oder der Literatur zu § 55 b AFG oder
§ 225 SGB m vertreten würde. Anhaltspunkte für eine solche Ansicht sind auch nicht den Materialien des
Gesetzgebungsverfahrens zu entnehmen. Aus diesen ergibt sich auf der anderen Seite, dass es für die Gewährung
von Einstellungszuschüssen bei Neugründungen unerheblich sein soll, ob es sich um ein Unternehmen eines
Einzelnen, um eine Personen- oder eine Kapitalgesellschaft handelt (Bundestags-Drucksache 13/4941 vom 18. Juni
1996, S. 193); bei Kapitalgesellschaften wäre eine präzise Festlegung des für die Tätigkeitsaufnahme erforderlichen
Tätigkeitsminimums noch problematischer.
Nach allem ist der Senat zu dem Ergebnis gelangt, dass die Aufnahme der selbstständigen Tätigkeit im Sinne des §
55 b AFG schon durch einen geringen Tätigkeitsumfang ver- wirklicht wird und beim Kläger bereits im Jahre 1994
erfolgt ist. Damit ist der Tatbestand der genannten Vorschrift nicht erfüllt und die Beklagte hat keine
Ermessensentscheidung über die Gewährung eines Einstellungszuschusses zu treffen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG).
Der Senat hat die Revision nach § 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG zugelassen wegen grundsätzlicher Bedeutung der hier
verneinten Rechtsfrage, ob eine selbstständige Tätigkeit erst dann im Sinne des § 55 b Abs. 1 AFG aufgenommen
ist, wenn sie einen geringen Umfang überschreitet, und wo ggf. die Grenze zu ziehen ist. Diese Frage hat ihre
Bedeutung durch das Außerkrafttreten des AFG am 31. Dezember 1997 nicht verloren; sie stellt sich ab 1. Januar
1998 in gleicher Weise im Rahmen des § 225 SGB 111.