Urteil des LSG Hamburg vom 19.01.2005

LSG Ham: familie, medizinische rehabilitation, behinderung, integration, rollstuhl, versorgung, fahren, wohnung, wetter, krankenversicherung

Landessozialgericht Hamburg
Urteil vom 19.01.2005 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Hamburg S 23 KR 1339/02
Landessozialgericht Hamburg L 1 KR 117/04
1. Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 4. August 2004 aufgehoben und
die Klage abgewiesen. 2. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten. 3. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Zwischen den Beteiligten ist die Gewährung eines Therapie-Dreirad-Tandems als Hilfsmittel streitig. Dabei handelt es
sich um ein dreirädriges Tandem, dass allein von der hinten sitzenden Begleitperson bewegt und gelenkt wird. Die
Klägerin kann dabei vorne sitzend mitbefördert werden.
Hinsichtlich des Sachverhalts bis zum Abschluss des erstinstanzlichen Verfahrens wird auf den Tatbestand des
Urteils des Sozialgerichts Hamburg vom 4. August 2004 verwiesen. Das Sozialgericht hat der Klage stattgegeben.
Das Hilfsmittel diene der Teilnahme an der üblichen Lebensgestaltung Gleichaltriger sowie der Integration in die
Familie und des aktiven Erlebens von Geschwindigkeit.
Gegen diese Entscheidung hat die Beklagte Berufung eingelegt. Die Verurteilung durch das Sozialgericht sei zu
Unrecht erfolgt. Das Dreiradtandem sei weder erforderlich, um den Erfolg der Krankenbehandlung zu sichern, denn
dazu erhalte die Klägerin Krankengymnastik, noch diene es dem Ausgleich einer Behinderung. Die Gewährung eines
Dreiradtandems gehe über die nur im Sinne eines Basisausgleichs der Krankenversicherung obliegende Erfüllung des
Grundbedürfnisses "Erschließen eines gewissen körperlichen Freiraums" hinaus. Dieser Basisausgleich sei bereits
durch den der Klägerin gewährten Rollstuhl, mit dem sie sich in der Wohnung und über kurze Strecken im näheren
Umfeld bewegen könne, erfolgt. Zu eigenständigen Aktivitäten außerhalb des Wohnumfeldes sei die Klägerin
behinderungsbedingt nicht in der Lage. Die Teilnahme an Aktivitäten anderen Jugendlicher oder die Integration in
Gruppen Gleichaltriger könne mit Hilfe des Dreiradtandems schon deswegen nicht erfolgen, weil diese durch die
erforderliche Begleitung durch die Mutter verhindert würden, da Jugendliche die Anwesenheit von Erwachsenen nicht
akzeptierten. In ihre eigene Familie sei die Klägerin integriert. Gemeinsame Fahrradausflüge seien schon wegen der
durch Jahreszeit und Wetter begrenzten Nutzbarkeit des Fahrrads kein wesentlicher Faktor für die Integration. Selbst
wenn mit dem Tandem regelmäßig derartige Ausflüge stattfinden würden, könne nicht angenommen werden, ohne
diese sei ein Defizit bei der Integration der Klägerin in die Familie zu befürchten. Im Übrigen gehe eine Teilnahme an
jeglichen Freizeitaktivitäten der Familie über die Befriedigung eines Grundbedürfnisses hinaus. Diese
Rechtsauffassung entspreche der des Bundessozialgerichts (BSG).
Die Beklagte beantragt, das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 4. August 2004 aufzuheben und die Klage gegen
den Bescheid vom 20. November 2001 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 20. Juni 2002 abzuweisen.
Die Klägerin beantragt, die Berufung zurückzuweisen.
Sie vertritt die Auffassung, die erstinstanzliche Entscheidung sei zutreffend. Da sie ungleich mehr als andere
behinderte Kinder auf den sozialen Kontakt innerhalb der Familie angewiesen sei, komme der Teilnahme an den
Fahrradfahrten der Familie ein hoher Stellenwert zu. Es hätte Auswirkungen auf ihre Integration in der Familie, würde
sie bei Fahrradausflügen, die oft und auch bei schlechtem Wetter unternommen würden, zurückgelassen. Auch würde
ihr ein Dreiradtandem die Teilnahme an den täglichen Einkäufen der Mutter erlauben. Da sie aufgrund ihrer
Behinderung in eine Gruppe Gleichaltriger nicht integriert werden könne, würde ihr durch die Ausflüge zumindest der
ansatzweise Kontakt zu gleichaltrigen Kindern ermöglicht. Dabei störe eine erwachsene Begleitperson nicht. Der
vorhandene Rollstuhl sei nicht ausreichend, um ihr Bedürfnis an einer gewissen Bewegungsfreiheit zu erfüllen. Mit ihm
könne sie nicht den Bewegungsradius erreichen, den ein gesunder Versicherter üblicherweise zu Fuß zurücklege.
Bereits dafür benötige sie das Dreiradtandem. Darüber hinaus trage das beantragte Hilfsmittel auch zur Stützung der
psychischen Stabilität und des Selbstwertgefühles bei, da sie das Fahren mit dem Dreiradtandem als eigenes Fahren
begreife.
Die Familiensituation der Klägerin hat sich zwischenzeitlich geändert. Zusätzlich zu ihr und ihrem älteren Bruder (geb:
XX.XX.90) gehören noch zwei weitere Geschwister (geb: XX.XX.02 und X.X.04) zur Familie. Seit X.XXXXX 2004 ist
die Mutter verheiratet.
Wegen des Sachverhalts im Einzelnen wird auf die in der Sitzungsniederschrift vom 19. Januar 2005 aufgeführten
Akten und Unterlagen verwiesen. Sie sind Gegenstand der mündlichen Verhandlung und Beratung des Senats
gewesen.
Entscheidungsgründe:
Die statthafte, form- und fristgerecht eingelegte und auch im Übrigen zulässige Berufung der Beklagten (vgl. §§ 143,
144, 151 Sozialgerichtsgesetz (SGG)) ist begründet. Die Beklagte ist zur Gewährung eines Dreiradtandems als
Hilfsmittel nicht verpflichtet.
Nach § 33 Abs. 1 Satz 1 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) haben Versicherte einen Anspruch gegen ihre
Krankenkasse auf Versorgung mit Hilfsmitteln, die im Einzelfall erforderlich sind, um den Erfolg einer
Krankenbehandlung zu sichern, einer Behinderung vorzubeugen oder eine Behinderung auszugleichen, soweit die
Hilfsmittel nicht als allgemeine Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens anzusehen oder nach § 34 Abs. 4 SGB
V durch Rechtsverordnung ausgeschlossen sind. Zwar ist das Dreiradtandem kein allgemeiner Gebrauchsgegenstand
des täglichen Lebens und auch nicht durch Rechtsverordnung von der Versorgung ausgeschlossen, jedoch ist dieses
Hilfsmittel für die Klägerin nicht erforderlich.
Das Dreiradtandem dient vorliegend nicht der Sicherung des Erfolges der Krankenbehandlung. Hierzu ist die gewährte
Krankengymnastik besser in der Lage.
Das Dreiradtandem ist auch nicht erforderlich, um die Behinderung der Klägerin auszugleichen. Aufgabe der
Krankenversicherung ist insoweit allein die medizinische Rehabilitation. Ein Hilfsmittel ist daher nur zu gewähren,
wenn es die Auswirkungen der Behinderung im gesamten täglichen Leben beseitigt oder mildert und damit ein
Grundbedürfnis des täglichen Lebens betrifft. Das hier in Betracht kommende Grundbedürfnis des "Erschließens eines
gewissen körperlichen Freiraums" hat die Rechtsprechung nur im Sinne eines Basisausgleichs der Behinderung selbst
und nicht im Sinne eines vollständigen Gleichziehens mit den letztlich unbegrenzten Möglichkeiten des Gesunden
verstanden. Abzustellen ist hierbei auf diejenigen Entfernungen, die ein Gesunder zu Fuß zurücklegt (vgl. zum
Vorstehenden BSG 16.9.99 - B 3 KR 9/98 R, SozR 3-2500 § 33 Nr. 32; 21.11.02 – B 3 KR 8/02 R, SGb 2003, 94 und
26.3.03 – B 3 KR 26/02 R, SozR 4-2500 § 33 Nr. 2). Der vorhandene Rollstuhl ist vorliegend ausreichend, denn mit
ihm erschließt sich die Klägerin einen gewissen körperlichen Freiraum im Sinne eines Basisausgleichs. Sie kann zwar
behinderungsbedingt nur in der Wohnung und kurze Strecken außerhalb dieser selbst bewältigen, jedoch ist der
Rollstuhl ausreichend, um z. B. die Mutter bei Besorgungen zu begleiten, denn bei längeren Strecken wird er durch die
Begleitperson geschoben. Hierbei bleibt die Klägerin zwar unselbständig, aber diesen Nachteil hebt das Dreiradtandem
nicht auf. Bereits der Rollstuhl ermöglicht der Klägerin zusammen mit ihrer Mutter den ansatzweisen Kontakt zu
Gleichaltrigen, denn mit ihm kann jeder Ausflug zu Fuß unternommen werden, z.B. Bummel durch eine
Fußgängerzone, Besuch von Cafes, Restaurants oder Sportveranstaltungen, Abholen des Bruders von
Spielkameraden. Demgegenüber eröffnet das Dreiradtandem lediglich einen räumlich weiteren Radius, zu dem sonst
nur motorisierte Verkehrsmittel verhelfen würden. Nach der Rechtsprechung des BSG, der sich der Senat anschließt,
gehören Radfahren und andere Freizeitaktivitäten, wie Ausflüge, nicht zu den Grundbedürfnissen des täglichen
Lebens (BSG 21.11.02, aaO). Ebenso zählt nicht zu den Grundbedürfnissen der Wunsch, sich mit Hilfe des Tandems
wie ein Radfahrer zu bewegen und z.B. Ausflüge in die Umgebung zu unternehmen, sowie die damit verbundene
Raumerfahrung, das Umwelterlebnis, Geschwindigkeitsempfinden, Gleichgewichtsgefühl oder sonstiges positives
Erleben, wenn die Fortbewegung im Nahbereich anderweitig sichergestellt ist (BSG 21.11.02, 16.9.99 und 26.3.03,
aaO). Zwar hat das BSG im Urteil vom 13. Mai 1998 (B 8 KN 13/97 R, SozR 3-2500 § 33 Nr. 28) einen Anspruch auf
Versorgung mit einem Therapietandem bejaht. Dabei handelte es sich um einen Fall, in dem aufgrund einer plötzlich
einsetzenden Halbseitenlähmung jede Eigenbewegung im Straßenverkehr zu gefährlich gewesen wäre und mangels
anderer Integrationsmöglichkeiten für den dortigen Kläger die möglichst vollständige Einbindung in das familiäre Leben
im Vordergrund stand, so dass in der konkreten Familiensituation, die in der Entscheidung allerdings nicht näher
beschrieben wird, den gemeinsamen Fahrradausflügen eine große Bedeutung zukam. Eine damit vergleichbare
Situation liegt hier jedoch nicht vor. Auch ist nicht ersichtlich, dass die Durchführung von Fahrradausflügen eine
besondere Bedeutung für die soziale Integration der Klägerin in die Familie, in ihr sonstiges Umfeld oder für die
Kommunikation haben könnte. Entgegen der Auffassung des Sozialgerichts kann das Dreiradtandem nur der
zielgerichteten Bewegung im Rahmen von Ausfahrten dienen, versetzt die Klägerin jedoch nicht in die Lage, ihrem
älteren Bruder in dessen Bewegungsdrang bei einem Spiel mit Gleichaltrigen auch nur ansatzweise zu folgen. Es
reicht nicht, wenn lediglich der Wunsch nach Eröffnung einer weiteren gemeinsamen Freizeitaktivität der Familie
besteht.
Ebenso kann nicht darauf abgestellt werden, dass die Nutzung des Dreiradtandems das Selbstbewusstsein der
Klägerin stärke, weil diese behinderungsbedingt glaube, sie bewege sich selbst fort. Hierzu sind andere Maßnahmen
(wie z. B. das Erreichen eines Lernerfolges in der Sonderschule) eher geeignet, die zudem weniger auf einer
Täuschung der Wahrnehmung beruhen und deswegen für die Persönlichkeitsentwicklung von größerem Wert sein
dürften.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und entspricht dem Ausgang des Rechtsstreits in der Hauptsache.
Der Senat hat die Revision nicht zugelassen, weil die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 Nr. 1 oder Nr. 2 SGG nicht
vorliegen.