Urteil des LSG Hamburg vom 19.07.2006

LSG Ham: wartezeit, unterhalt, anerkennung, schnee, rentenanspruch, beweismittel, sozialversicherung, glaubhaftmachung, berufsausbildung, lebensmittel

Landessozialgericht Hamburg
Urteil vom 19.07.2006 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Hamburg S 26 RJ 739/03
Landessozialgericht Hamburg L 1 R 68/05
1. Die Berufung wird zurückgewiesen. 2. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten. 3. Die Revision wird nicht
zugelassen.
Tatbestand:
Zwischen den Beteiligten ist die Gewährung von Regelaltersrente unter Berücksichtigung so genannter Ghetto-
Beitragszeiten im Streit.
Die heute 86-jährige Klägerin wurde im ostoberschlesischen I. (Olkusz) unter dem Namen S. F. (in anderer
Schreibweise F1) geboren. Ihr Geburtsort wurde am 5. September 1939 von der deutschen Wehrmacht besetzt.
Wenige Tage später wurde die Reichsmark dort in Umlauf gesetzt, gleichzeitig begannen die ersten Restriktionen
gegenüber der dort lebenden jüdischen Bevölkerung, deren Anzahl etwa 4000 Personen, das sind etwa 7,8 % der
Gesamtbevölkerung des Distrikts Olkusz betrug. Die Klägerin lebt seit dem Jahre 1959 in Kanada und besitzt die
kanadische Staatsangehörigkeit.
Mit am 30. Juli 2002 bei der Beklagten eingegangenem Antrag begehrte sie die Zahlung eines Altersruhegeldes nach
dem Gesetz zur Zahlbarmachung von Renten aus Beschäftigung in einem Ghetto (ZRBG) und gab hierzu an, von
1933 bis September1939 in ihrem Geburtsort als Stickerin gearbeitet zu haben. Von 1940 bis 1942 habe sie sich im
Ghetto Sikorka aufgehalten und dort die Straßen reinigen und Schnee schippen müssen. Anschließend sei sie in den
Lagern Klettendorf, Tarnow und Peiskretscham (Pyskowice) gewesen, wo sie in der Küche und in der Spinnerei und
als sonstige Dienstleistungskraft habe arbeiten müssen. Daran anschließend sei sie in verschiedenen
Konzentrationslagern, zuletzt in Mauthausen gewesen. Mit eidesstattlicher Versicherung vom 27. Januar 2003 erklärte
die Klägerin, von Juni 1940 bis März 1942 im Ghetto Sikorka gewesen zu sein. Die deutsche Besatzungsmacht habe
angeordnet, dass alle arbeitsfähigen Ghettobewohner zu arbeiten hätten. Auch der Judenrat habe die Bewohner des
Ghettos angewiesen, jede Arbeit anzunehmen, weil allein dies vor Deportation und Vernichtung geschützt habe. Sie
habe 8 bis 10 Stunden täglich arbeiten müssen. Sie habe Straßen gereinigt und Schnee geschippt. Hierfür hätten sie
Essengutscheine vom Judenrat erhalten, die gerade zum Überleben gereicht hätten.
Eine von der Beklagten an die Conference on Jewish Material Claims against Germany (Claims Conference)
gerichtete Anfrage erbrachte, dass die Klägerin von dort Leistungen erhalten hat. In dem von der Klägerin bei der
Claims Conference eingereichten Fragebogen heißt es, sie seien 1940 von Olkusz in ein kleines Dorf mit dem Namen
Sikorka verbracht worden. Dort hätten sie mit 10 Personen in einem Raum leben müssen. Man habe ihnen alles
genommen außer ein paar Kleidungsstücken. Sie habe auch Leistungen nach dem Bundesentschädigungsgesetz
(BEG) erhalten, könne sich aber an kein Aktenzeichen mehr erinnern, weil alle Leistungen über einen deutschen
Anwalt erbracht worden seien, dem alle Bescheide vorlägen.
Mit Bescheid vom 3. April 2003 lehnte die Beklagte den Antrag der Klägerin ab. Eine Anrechnung der geltend
gemachten Zeiten nach den Vorschriften des ZRBG sei nicht möglich. Für einen Ort mit dem Namen Sikorka sei in
den verfügbaren Unterlagen kein Ghetto nachgewiesen. Die von der Klägerin weiter angegebenen Zeiten der
Inhaftierung und Arbeitsleistung in Zwangsarbeits- und Konzentrationslagern könne schon deswegen keine
Berücksichtigung finden, weil hier die Voraussetzungen nach dem ZRBG von vornherein nicht erfüllt seien. Den
daraufhin fristgerecht erhobenen Widerspruch, mit dem die Klägerin darauf hingewiesen hatte, dass das Ghetto
Sikorska identisch sei mit dem Ghetto Olkusz, wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 28. Juli 2003
zurück. Die Einbeziehung in den Anwendungsbereich des ZRBG scheitere schon daran, dass am bzw. im Ort Sikorka
weder ein Ghetto noch ein Zwangsarbeitslager bestanden habe. Ein solches sei weder in der Schrift "Die
nationalsozialistischen Lager" von Schwarz noch in der Dokumentation des Simon Wiesenthal Centers verzeichnet.
Auch sei nicht glaubhaft gemacht, dass ein frei zustande gekommenes Beschäftigungsverhältnis und eine
Entgeltzahlung stattgefunden habe. Hiergegen sprächen schon die Angaben, die Klägerin gegenüber der Claims
Conference gemacht habe. Die beschriebenen Arbeiten in Gestalt von Reinigungsarbeiten und Schnee räumen seien
üblicherweise als Zwangsarbeiten verrichtet worden.
Die Klägerin hat daraufhin fristgerecht Klage erhoben, mit der sie ihr Rentenbegehren unter Wiederholung ihres
bisherigen Vorbringens weiter verfolgt hat. Ergänzend hat sie vorgetragen, dass es sich bei der Ortschaft Sikorka um
einen Stadtteil von Olkusz gehandelt habe. Jener habe Ghettocharakter gehabt. Das Sozialgericht hat die Unterlagen
der Claims Conference beigezogen und die Klage durch Urteil vom 21. Februar 2005 abgewiesen. Die Klägerin habe
keinen Anspruch auf die begehrte Regelaltersrente, weil sie die allgemeine Wartezeit nicht erfülle. Selbst wenn
unterstellt werde, dass ihre Angaben zu dem Aufenthalt im Ghetto Olkusz/Sikorka und zu den verrichteten Arbeiten
der Wahrheit entspreche, komme eine Anerkennung dieser Zeiten als Beitragszeiten in der gesetzlichen
Rentenversicherung im Sinne von § 51 Abs. 1 Sozialgesetzbuch VI. Buch - Gesetzliche Rentenversicherung – (SGB
VI) nicht in Betracht. Beiträge seien für die angegebene Beschäftigung offenkundig nicht entrichtet worden. Sie
könnten auch nicht nach § 1 Abs. 1 ZRBG fingiert werden, weil die Klägerin diese Tätigkeit weder aus freiem
Willensentschluss aufgenommen habe, noch die Tätigkeit gegen Entgelt im Sinne des ZRBG ausgeübt worden sei.
Vielmehr habe es sich nach allen vorliegenden Erkenntnissen um eher sporadisch anfallende und von der
Besatzungsverwaltung kurzfristig angeordnete und nicht um eine solche vom Judenrat organisierte Tätigkeit
gehandelt. Hierfür sei auch kein Entgelt geleistet worden. Dies setze ein angemessenes Verhältnis zwischen
Arbeitsleistung und Entlohnung voraus. Ausreichend sei nicht, wenn die erhaltene Entlohnung zu einer minimalen
Überlebenssicherung geeignet war. Dies aber habe die Klägerin selbst angegeben. Auf das Urteil des Sozialgerichts
wird ergänzend Bezug genommen. Es ist dem Prozessbevollmächtigten der Klägerin am 10. März 2005 zugestellt
worden.
Die Klägerin hat am 11. April 2005, einem Montag, Berufung eingelegt und zur Begründung vorgetragen, es sei
aufgrund von Auskünften des Jüdischen historischen Instituts in Warschau nachgewiesen, dass Reinigungsarbeiten
innerhalb des Ghettos der Selbstverwaltung des Judenrats oblegen hätten. Darüber hinaus habe nicht nur in dem
Ghetto Lodz ein so genannter "freier Arbeitsmarkt" existiert. Vielmehr sei inzwischen durch sachkundige Äußerungen
belegt, dass dies auch in anderen Ghettos der Fall gewesen sei.
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 21. Februar 2005 aufzuheben und die Beklagte unter Aufhebung ihres
Bescheides vom 3. April 2003 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 28. Juli 2003 zu verurteilen, ihr
Regelaltersrente ab 1. Juli 1997 zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Das Sozialgericht habe in seiner Entscheidung überzeugend dargestellt, dass eine Beschäftigung aus eigenem
Entschluss aufgrund der Verhältnisse im Ghetto Olkusz bzw. Sikorka nicht vorgelegen habe.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten im Übrigen wird auf die
ausweislich der Niederschrift über die öffentliche Senatssitzung am 19. Juli 2006 zum Gegenstand der mündlichen
Verhandlung gemachten Akten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die statthafte und zulässige, insbesondere fristgerecht eingelegte Berufung (§§ 143, 144, 151 Sozialgerichtsgesetz -
SGG -) der Klägerin ist unbegründet. Das Sozialgericht hat die Klage zu Recht abgewiesen. Die angefochtenen
Bescheide sind rechtlich nicht zu beanstanden. Die Klägerin kann die begehrte Rente nicht beanspruchen.
Auf den Rechtsstreit finden die am 1. Januar 1992 in Kraft getretenen Vorschriften des SGB VI über die
Regelaltersrente und nicht diejenigen der Reichsversicherungsordnung (RVO) über das Altersruhegeld Anwendung,
weil der Anspruch erst nach Ablauf von mehr als drei Monaten nach Aufhebung der für das Altersruhegeld geltenden
Vorschriften der RVO bei der Beklagten geltend gemacht wurde (§ 300 Abs. 1 i.V.m. Abs. 2 SGB VI).
Nach § 35 SGB VI haben Versicherte Anspruch auf Regelaltersrente wenn sie das 65. Lebensjahr vollendet und die
allgemeine Wartezeit von 5 Jahren rentenrechtlicher Zeiten (§ 50 Abs. 1 Nr. 1 SGB VI) erfüllt haben. Auf diese
allgemeine Wartezeit werden Beitragszeiten und Ersatzzeiten angerechnet (§ 51 Abs. 1 und Abs. 4 SGB VI).
Beitragszeiten sind Zeiten, für die nach Bundesrecht Pflichtbeiträge (Pflichtbeitragszeiten) oder freiwillige Beiträge
gezahlt worden sind. Pflichtbeitragszeiten sind auch Zeiten, für die Pflichtbeiträge nach besonderen Vorschriften als
gezahlt gelten (§ 55 Abs. 1 SGB VI).
Hiernach hat die Klägerin keinen Rentenanspruch. Sie hat Pflichtbeitragszeiten in der deutschen gesetzlichen
Rentenversicherung nicht zurückgelegt. Sie mag Ersatzzeiten zurückgelegt haben. Nur mit Ersatzzeiten besteht
jedoch kein Rentenanspruch, weil nach § 250 Abs. 1 SGB VI nur Versicherte rentenrechtliche Zeiten als Ersatzzeiten
haben können. Versichert im Sinne dieser Vorschrift ist aber nur derjenige, für den wenigstens ein Beitrag vor Beginn
der Rente wirksam gezahlt worden ist oder als entrichtet gilt. Hieran fehlt es.
Allerdings können nach § 2 Abs. 1 i.V.m. § 1 Abs. 1 ZRBG Beitragszeiten zur gesetzlichen Rentenversicherung
ausnahmsweise dann fingiert werden, wenn ein Verfolgter sich zwangsweise in einem Ghetto aufgehalten hat, dort
aus eigenem Willensentschluss eine Beschäftigung aufgenommen hat und diese Beschäftigung gegen Entgelt
ausgeübt wurde und das Ghetto sich in einem Gebiet befand, das vom Deutschen Reich besetzt oder in dieses
eingegliedert war. Diese Voraussetzungen für die Fiktion einer Beitragsentrichtung müssen lediglich glaubhaft
gemacht werden. Dies folgt aus § 1 Abs. 2 ZRBG, wonach die Vorschriften des ZRBG die rentenrechtlichen
Vorschriften des Gesetzes zur Regelung der Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in der
Sozialversicherung (Gesetz vom 22. Dezember 1970, BGBl. I, S. 1846, WGSVG) ergänzen. Sonach finden die
Vorschriften der Glaubhaftmachung des WGSVG im Rahmen der Anerkennung von Beitragszeiten nach dem ZRBG
unmittelbar Anwendung. Nach § 3 Abs. 2 WGSVG ist eine Tatsache glaubhaft gemacht, wenn ihr Vorliegen nach dem
Ergebnis der Ermittlungen, die sich auf sämtliche erreichbaren Beweismittel erstrecken sollen, überwiegend
wahrscheinlich ist.
Die Klägerin hat jedoch nicht in diesem Sinne glaubhaft gemacht, dass sie so genannte Ghetto-Beitragszeiten
zurückgelegt hat. Hierfür kann unterstellt werden, dass sie Verfolgte im Sinne des Bundesentschädigungsgesetzes
ist, ferner, dass in Sikorka bzw. Olkusz ein Ghetto im Sinne des ZRBG bestanden und schließlich, dass sie dort eine
Beschäftigung aus freiem Willensentschluss aufgenommen hat. Denn jedenfalls hat die Klägerin hierfür kein Entgelt
im Sinne des Rentenversicherungsrechts erhalten. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (7. Oktober
2004 - B 13 RJ 59/03 R, SozR 4-5050 § 15 Nr. 1) gelten für so genannte Ghetto-Beschäftigungszeiten hinsichtlich der
Beitragsentrichtung die allgemeinen rentenversicherungsrechtlichen Vorschriften. Nach den im Zeitpunkt der streitigen
Beschäftigung geltenden Vorschriften der Reichsversicherungsordnung (RVO) war aber versicherungsfrei, wer als
Entgelt für eine Beschäftigung, die nicht zur Berufsausbildung ausgeübt wurde, nur freien Unterhalt erhielt (vgl. §§
1226, 1227 RVO a.F.). Als freier Unterhalt ist danach dasjenige Maß an Wirtschaftsgütern anzusehen, das zur
unmittelbaren Befriedigung der Lebensbedürfnisse des Arbeitnehmers erforderlich ist. Sachbezüge zählen dann zum
freien Unterhalt, wenn sie gering sind und zur Befriedigung kleinerer Bedürfnisse und Lebensgewohnheiten dienen.
Gewährte Lebensmittel sind dann hierzu zu rechnen, wenn sie nach Umfang und Art des Bedarfs unmittelbar zum
Verbrauch oder Gebrauch bestimmt sind. Hiervon ist auch nicht unter den besonderen Voraussetzungen der
Ghettoarbeit eine Ausnahme zu machen. Eine teleologische Reduktion der genannten Vorschriften mit der Folge,
dass unter den Bedingungen im Ghetto auch geringe Entlohnungen, die lediglich zur minimalen Überlebenssicherung
geeignet waren, als Entgelt anzusehen sind, scheidet aus. Auch dies entspricht der Rechtsprechung des
Bundessozialgerichts (vgl. a.a.O. sowie bereits 18. Juni 1997 - 5 RJ 66/95, SozR 3-2200 § 1248 Nr. 15 – Ghetto
Lodz). Dieser Rechtsprechung folgt der erkennende Senat. Eine Anerkennung jedweder formal freiwillig und im
Austausch gegen dürftigste Leistungen verrichteten Tätigkeit als entgeltliche und damit versicherungspflichtige
Beschäftigung würde die Unterscheidung zwischen nichtversicherter Zwangsarbeit und versicherungspflichtiger
Beschäftigung unmöglich machen und sich vom Versicherungsprinzip lösen. Dies war erkennbar nicht die Intention
des Gesetzgebers des ZRBG.
Hiernach hat die Klägerin in Gestalt der von ihr verrichteten Tätigkeiten lediglich eine versicherungsfreie
Beschäftigung ausgeübt. Die gewährten Sachbezüge ermöglichten ihr – eigenem Vorbringen zufolge – nur die
Sicherung des Überlebens. Damit handelte es sich nicht um eine Beschäftigung gegen Entgelt. Ein Anspruch auf
Rente besteht schon aus diesem Grunde nicht und es kann offen bleiben, ob Beschäftigungszeiten in einem Ghetto
für Verfolgte des BEG grundsätzlich Beitragszeiten nach § 55 SGB VI gleichgestellt sind, und zwar unabhängig
davon, ob diese Verfolgten zu dem vom Fremdrentengesetz oder dem WGSVG erfassten Personenkreis gehören
(dies verneinend: LSG Nordrhein-Westfalen - 13. Januar 2006, L 4 RJ 113/04, Juris).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und entspricht dem Ausgang des Rechtsstreits in der Hauptsache.
Der Senat hat die Revision gegen dieses Urteil nicht zugelassen, weil die gesetzlichen Voraussetzungen des § 160
Abs. 2 Nr. 1 oder Nr. 2 SGG nicht vorliegen.