Urteil des LSG Hamburg vom 01.12.2003

LSG Ham: aufschiebende wirkung, öffentliches interesse, vollziehung, krankenversicherung, anfechtungsklage, arzneimittel, handel, kauf, rechtswidrigkeit, gefährdung

Landessozialgericht Hamburg
Beschluss vom 01.12.2003 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Hamburg
Landessozialgericht Hamburg L 1 B 175/02 ER
Die Beschwerde der Antragstellerin gegen den Beschluss des Sozialgerichts Hamburg vom 7. Oktober 2002 wird
zurückgewiesen. Die Antragstellerin trägt auch die Gerichtskosten des Beschwerdeverfahrens. Der Streitwert wird auf
1.333 EUR festgesetzt.
Gründe:
Die Beschwerde der Antragstellerin gegen den Beschluss des Sozialgerichts vom 7. Oktober 2002, der das
Sozialgericht nicht abgeholfen und die es dem Senat zur Entscheidung vorgelegt hat (§ 174 Sozialgerichtsgesetz
(SGG)), ist zulässig (§§ 172, 173 SGG), aber nicht begründet. Das Sozialgericht hat den Antrag auf Herstellung der
aufschiebenden Wirkung der Klage zu Recht abgelehnt.
Auf den Rechtsstreit ist das Sozialgerichtsgesetz (SGG) in der ab 2. Januar 2002 geltenden Fassung anwendbar, weil
die Neufassung der verfahrensrechtlichen Regelungen zu diesem Zeitpunkt in Kraft getreten ist und die
Übergangsregelung nach Art. 17 Abs. 1 des Sechsten Gesetzes zur Änderung des Sozialgerichtsgesetzes (vom 7.
August 2001, BGBl. I S. 2144) nur Anwendung findet, wenn das Verfahren vor dem Inkrafttreten des Gesetzes
rechtshängig war.
Gemäß § 86b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGG kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag in den Fällen, in denen
Widerspruch oder Anfechtungsklage keine aufschiebende Wirkung haben, die aufschiebende Wirkung ganz oder
teilweise anordnen.
Die Anfechtungsklage in Fällen, in denen die sofortige Vollziehung im öffentlichen Interesse oder im überwiegenden
Interesse eines Beteiligten mit schriftlicher Begründung angeordnet ist, hat gemäß § 86a Abs. 2 Nr. 5 SGG keine
aufschiebende Wirkung. Ihre Anordnung setzt voraus, dass das Individualinteresse des belasteten Adressaten
gegenüber dem öffentlichen Interesse an der sofortigen Vollziehung überwiegt. Hierbei ist insbesondere von
Bedeutung, ob die Klage Aussicht auf Erfolg hat. An der Vollziehung offensichtlich rechtswidriger Verwaltungsakte
kann kein öffentliches Interesse bestehen. Bei der Abwägung sind auch die wirtschaftlichen Verhältnisse der
Beteiligten zu berücksichtigen. Überwiegende öffentliche Belange können es jedoch rechtfertigen, den
Rechtsschutzanspruch des Einzelnen zurückzustellen, um unaufschiebbare Maßnahmen im Interesse des
Allgemeinwohls ohne Verzögerung umzusetzen.
Wegen der mit schriftlicher Begründung angeordneten sofortigen Vollziehung hat die Klage im Verfahren S 32 KR
1524/02 keine aufschiebende Wirkung.
Die Antragstellerin hat keinen Anspruch auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage. Ihr Interesse, ihre
Versicherten über den Bezug von Arzneimitteln aus dem Ausland im Wege des Versandes zu informieren und diese
unter Erstattung der Kosten der bestellten Präparate insgesamt kostengünstiger als über den inländischen
Apothekenvertrieb mit den erforderlichen Arzneien zu versorgen, überwiegt nicht gegenüber dem öffentlichen
Interesse an der Unterbindung der Förderung des Versandhandels mit Arzneimitteln.
Zur Beurteilung des Interesses der Antragstellerin ist zu berücksichtigen, dass Wettbewerbsnachteile nicht ersichtlich
sind, denn die Vielzahl der bei den Sozialgerichten anhängigen Verfahren zeigt, dass die Antragsgegnerin bemüht ist,
flächendeckend gegen die Förderung des Versandhandels mit Arzneimitteln durch die Träger der gesetzlichen
Krankenversicherung vorzugehen. Sofern einzelne Verhaltensweisen unsanktioniert bleiben sollten, steht es der
Antragstellerin frei, zur Aufrechterhaltung eines fairen Wettbewerbs diese Fälle bei der Antragsgegnerin zur Anzeige
zu bringen. Unter diesen Voraussetzungen ist nicht ersichtlich, dass die Antragstellerin in besonderem Maß mit
Klagverfahren auf Kostenerstattung für im Versandwege beschaffte Arzneien überzogen werden könnte. Zwar weist
sie zu Recht darauf hin, dass sie angesichts der Kostenentwicklung im Gesundheitswesen Einsparungsmöglichkeiten
auch bei der Arzneimittelversorgung ihrer Versicherten realisieren muss, aber die Aktivitäten eines öffentlich-
rechtlichen Leistungsträgers zur Kostenreduzierung müssen sich stets im Rahmen der geltenden rechtlichen
Vorgaben halten.
Demgegenüber besteht ein gewichtiges öffentliches Interesse an der Einhaltung der gesetzlichen Regelungen als
Ausdruck der Abwägung der öffentlichen Belange (inkl. der Gesichtspunkte der Volksgesundheit, der
Arzneimittelsicherheit und der Finanzierbarkeit der gesetzlichen Krankenversicherung) durch den demokratisch
legitimierten Gesetzgeber. Es ist nicht Sache der Gerichte zu prüfen, ob bei dieser Entscheidung die einzelnen
Belange (politisch) zutreffend eingeschätzt und gewichtet worden sind. Zu den gesetzlichen Regeln zählt das in § 43
Abs. 1 Arzneimittelgesetz (AMG) niedergelegte Versandhandelsverbot für apothekenpflichtige Arzneimittel. Gegen
dieses Verbot verstößt der Bezug von Arzneien im Versandwege bei einem Unternehmen, welches (überwiegend) mit
solchen Mitteln handelt. Darauf, ob Gründe der Volksgesundheit eine solche Regelung rechtfertigen oder ob im
Einzelfall Anhaltspunkte für eine gesundheitliche Gefährdung durch einen Handel mittels Versand bestehen, kommt
es nicht an. Die Erstattung der Kosten derartiger Präparate ist nicht durch die Regelung des § 73 Abs. 2 Nr. 6a AMG
gedeckt, weil es zumindest an einem "Bezug" eines Endverbrauchers fehlt. Nach dem Sinn und Zweck der Regelung
liegt ein "Bezug" nur vor, wenn ein persönlicher Kauf im Ausland erfolgt, nicht aber bei einer telefonischen oder
schriftlichen Bestellung oder einer solchen unter Nutzung des Internets. Zur weiteren Begründung verweist der Senat
auf die zutreffenden Ausführungen des Kammergerichts Berlin (29.5.01 – 5 U 10150/00, NJW-RR 2002, 113). Die
gesetzliche Regelung verstößt nicht offensichtlich gegen höherrangiges Recht. Zur Zeit ist das Verfahren des
Deutschen Apothekerverbandes e. V. gegen Doc Morris und Jacques Waterval vor dem Europäischen Gerichtshof
(Az: C-322/01) noch unentschieden und sein Ergebnis offen. Deswegen steht es der Bewertung des Interesses als
gewichtig nicht entgegen, zumal auch der Gesetzgeber selbst keinen Verstoß gegen europarechtliche Regelungen
annimmt. Er plant die Regelungen der §§ 43, 73 AMG trotz der umfänglichen öffentlichen Diskussion lediglich zu
modifizieren und das Verbot des Versandhandels mit Arzneimitteln nicht gänzlich abzuschaffen, sondern den Handel
im Versandwege von einer Erlaubnis abhängig zu machen bzw. hinsichtlich des ausländischen Versandhandels von
der Prüfung, ob die dortigen Vorschriften die Arzneimittelsicherheit entsprechend den inländischen Regelungen
gewährleisten, sowie die Neufassung erst ab 1. Januar 2004 in Kraft treten zu lassen (vgl. Entwurf eines Gesetzes
zur Modernisierung der gesetzlichen Krankenversicherung, in: BT-Ds 15/1525). Im Rahmen der Interessensbewertung
ist weiter zu berücksichtigen, dass eine spätere Eindämmung der Beschaffungswege für Arzneimittel nach
vorübergehender Zulassung der Förderung des Versandhandels auf erhebliche Widerstände bei den Versicherten
stoßen dürfte.
Das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung des Verpflichtungsbescheides vom 27. Juni 2002 entfällt nicht
wegen offensichtlicher Rechtswidrigkeit dieses Verwaltungsaktes. Wie oben bereits ausgeführt, hat der Antragsgegner
die Förderung des Versandhandels mit Arzneimitteln durch die Antragstellerin zu Recht als rechtswidriges Verhalten
angesehen. Die gemäß §§ 89 Abs. 1 Satz 2 iVm 90 Abs. 1 Satz 1 Viertes Sozialgesetzbuch getroffene
aufsichtsrechtliche Maßnahme ist wie die im Verpflichtungsbescheid angeordnete sofortige Vollziehung nach der im
Eilverfahren allein möglichen und gebotenen summarischen Prüfung nicht zu beanstanden. Insbesondere ist die
Anordnung ausreichend schriftlich begründet. Die Antragsgegnerin hat für die Anordnung über die Begründung des
Verwaltungsaktes hinausgehende Gründe genannt, die nicht offensichtlich unzutreffend sind. Sie hat auch eine
Interessenabwägung vorgenommen.
Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 197a SGG i.V.m. §§ 154 bis 162
Verwaltungsgerichtsordnung.
Die Streitwertfestsetzung ist gemäß § 197a SGG i.V.m. § 25 Abs. 2 Satz 1 Gerichtskostengesetz (GKG)
vorzunehmen. Der Streitwert wird gemäß § 13 Abs. 1 Satz 2 GKG auf 1.333 EUR festgesetzt. Er entspricht dem Wert
des Begehrens im erstinstanzlichen Verfahren. Das Gericht hat diesen Wert festgesetzt, da keiner der Beteiligten
gegen die erstinstanzliche Wertfestsetzung Einwände erhoben hat und sie nicht unbillig erscheint.
Diese Entscheidung ist unanfechtbar (§ 177 SGG).