Urteil des LSG Hamburg vom 23.11.2005

LSG Ham: diabetes mellitus, zumutbare tätigkeit, innere medizin, berufliche tätigkeit, chemische industrie, werk, zustand, rente, arbeiter, einweisung

Landessozialgericht Hamburg
Urteil vom 23.11.2005 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Hamburg S 16 RJ 363/99
Landessozialgericht Hamburg L 1 RJ 126/02
1. Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 3. Juni 2002 aufgehoben und die
Klage vollen Umfangs abgewiesen. 2. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten. 3. Die Revision wird nicht
zugelassen.
Tatbestand:
Die Beklagte wendet sich mit der Berufung dagegen, dem Kläger ab 1. August 1998 die Rente wegen
Berufsunfähigkeit zahlen zu müssen.
Der 1951 geborene Kläger, ein gebürtiger Tunesier und deutscher Staatsangehöriger, war in Deutschland seit 1970
versicherungspflichtig beschäftigt, zunächst als Bandarbeiter und Walzer, ab Mai 1977 als Elektrodenwerker und ab
Mai 1991 laufend als Hüttenwerker/Kontischicht (Kranfahrer, Bedienung eines funkferngesteuerten Kranes,
Kranführerschein März 1991, Traktorführerschein Dezember 1989) bei der H. A.-Werk GmbH (Arbeitsvertrag vom 6.
Juni 1991). Dort ist er noch gegenwärtig im Schichtdienst in der Elektrolyseabteilung beschäftigt und erhält Lohn nach
Gruppe E 4 des Bundesentgelttarifvertrages für die chemische Industrie vom 18. Juli 1987 in der Fassung vom 3. Juni
1997 (vgl. Hamburger Entgelttarifvertrag mit ab 1. April 1998 geltenden Entgeltsätzen).
Beim schwerbehinderten Kläger (Grad der Behinderung 60; Anerkenntnis des Versorgungsamtes im Verfahren 34 VS
820/97) sind als Behinderungen festgestellt: Insulinbedürftige Zuckerkrankheit, herabgesetztes Hörvermögen und
Ohrgeräusche bds., wiederkehrendes entzündliches Hautleiden, Schuppenflechte, Impotentia generandi, Krampfadern
beider Beine, Lungenembolie mit der Notwendigkeit einer gerinnungshemmenden Therapie, Sehkraftminderung bds.
Aufgrund des Rentenantrages vom 16. Juli 1998 ließ die Beklagte den Kläger am 17. August 1998 durch den Arzt für
Innere Medizin, Lungen- und Bronchialheilkunde Dr. V. und am 9. September 1998 durch den Hautarzt Dr. R.
untersuchen (Gutachten Dr. V. vom 27. August bzw. 16. September 1998, Gutachten Dr. R. vom 9. September 1998).
Diese Ärzte diagnostizierten einen insulinpflichtigen Diabetes mellitus, eine diabetische Retinopathie, einen Zustand
nach Lungenembolie 11/1997 mit Marcumar-Therapie und allenfalls mäßiggradiger Ventilationsstörung, eine unter
Therapie reizarme Psoriasis vulgaris mit nur vereinzelten Herden am Stamm und an den Extremitäten sowie eine
chronische venöse Insuffizienz II. Grades bei beidseitiger Stammvaricosis IV. Grades mit Schwellneigungen der
Unterschenkel ohne trophische Defekte, eine Hefemykose im Genitalbereich und einen Fußpilz. Soweit der Kläger auf
stenokardiforme Beschwerden, eine beidseitige Schwerhörigkeit und einen Zustand nach früherem rechtsseitigen
Kniegelenkstrauma hingewiesen hatte, bestand ruheelektrographisch kein Anhalt für eine Koronarischämie und weder
ein Anhalt für ein erhebliches Kniegelenksleiden noch dafür, dass der Kläger nicht in der Lage war, deutliche
Umgangssprache zu verstehen. Der Kläger wurde noch für fähig erachtet, leichte körperliche Tätigkeiten im Wechsel
von Gehen, Stehen und Sitzen, nicht in Nacht- oder Schichtarbeit, nicht unter Hitzeeinwirkung, ohne Selbst- oder
Fremdgefährdung und besondere Ansprüche an das Sehvermögen, vollschichtig zu verrichten. Aufgrund dieser
Leistungsbeurteilung beschied die Beklagte den Rentenantrag durch Bescheid vom 29. Oktober 1998 ablehnend und
führte ergänzend aus, dass für den Kläger auch Tätigkeiten, die mit lauten Umgebungsgeräuschen einhergingen,
ausgeschlossen seien. Zumutbare Arbeiten könne er auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt vollschichtig verrichten.
Im anschließenden Vorverfahren verwies der Kläger auf seine behandelnden Ärzte Dr. L. (Hautarzt) und S.
(Allgemeinarzt) und - neben den von Dres. V. und R. diagnostizierten Leiden - auf Gelenkbeschwerden. Er sei einem
Facharbeiter gleichzustellen, weil er als Hüttenwerker im Kontoschichtbetrieb angelernt/ausgebildet und nach
Lohngruppe E 4 entlohnt worden sei. Nach der von den Rentengutachtern vorgenommenen Leistungsbeurteilung
vermöge er seine Tätigkeit als Hüttenwerker/Kranführer nicht mehr zu verrichten.
Nachdem die Beklagte von der H. A.-Werk GmbH den Bericht vom 13. Oktober 1998 eingeholt und Dr. V. unter dem
6. Januar 1999 ausgeführt hatte, dass keine neuen medizinischen Gesichtspunkte vorlägen, wies die Beklagte den
Widerspruch durch Widerspruchsbescheid vom 4. März 1999 zurück. Der Kläger sei als angelernter Arbeitnehmer zu
betrachten und als solcher auf alle ungelernten Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarkt verweisbar.
Mit der am 7. April 1999 erhobenen Klage hat der Kläger, der sich im Juni 1999 zur Insulin-Neueinstellung stationär im
Krankenhaus M. aufhielt (Bericht vom 4. August 1999), ausgeführt, sein Arzt S. halte ihn für multimorbide und wegen
der Schwere der Gesundheitsschäden für erwerbsunfähig.
Das Sozialgericht hat, nachdem die Beklagte den Bericht der Fachärztin für Arbeitsmedizin Dr. M1 vom 31. Mai 1999
vorgelegt hatte, nach welchem diese den Kläger für arbeitsunfähig hält, von dem Internisten und Lungenarzt Dr. S1,
dem HNO-Arzt L1, dem Lungenarzt Dr. K., dem Allgemeinarzt S., der Augenärztin H1 und von Dr. L. Befundberichte
und von der H. A.-Werk GmbH den Bericht vom 29. November 1999 eingeholt sowie Unterlagen des Medizinischen
Dienstes der Krankenversicherung (MDK) beigezogen.
Im Entlassungsbericht der R1-Klinik in St. A1 vom 4. Juli 2000, wo sich der Kläger im Juni 2000 auf Kosten der
Beklagten zu einem Heilverfahren aufhielt, wird er für in der Lage gehalten, eine mittelschwere körperliche Tätigkeit im
Sitzen ständig, im Stehen bzw. Gehen überwiegend, vollschichtig zu verrichten. Arbeiten, die längeres
ununterbrochenes Stehen bzw. Steigen auf Leitern, Treppen und Gerüsten erforderten oder mit erhöhter Eigen- und
Fremdgefährdung verbunden seien, und Arbeiten mit erhöhter Hitzeeinwirkung oder inhalativen Belastungen seien ihm
nicht mehr zumutbar. Dementsprechend wurde der Kläger als arbeitsunfähig aus dem Heilverfahren entlassen und
seine innerbetriebliche Umsetzung auf einen leidensgerechten Arbeitsplatz für dringend erforderlich gehalten.
Das Sozialgericht hat von dem Internisten Dr. D. das auf einer Untersuchung des Klägers vom 12. Juni 2001
beruhende Gutachten vom 21. Juni 2001 eingeholt. Dr. D. hat einen Diabetes mellitus-Typ 2 mit intensivierter
Insulintherapie, eine Visusminderung beidseits bei diabetischer Retinopathie, einen Zustand nach angeblicher
Lungenembolie, ein Klinefelter-Syndrom ohne Substitution, eine Psoriasis und ein Krampfaderleiden an beiden
Unterschenkeln sowie eine Schwerhörigkeit mit Tinnitus beidseits diagnostiziert. Im Termin vom 3. Juni 2002 hat er
ausgeführt, dem Kläger sei die regelmäßige, vollschichtige Verrichtung von Arbeiten leichter körperlicher Art mit
einfacher geistiger Beanspruchung und geringer Verantwortung (zu ebener Erde, in wechselnder Körperhaltung, in
geschlossenen Räumen, ohne Zeitdruck, Akkord-, Schicht- oder Nachtarbeit) zumutbar. Zusätzliche Pausen (drei bis
vier von je 15 Minuten) zur Bestimmung des Blutzuckers seien notwendig, Arbeiten, die ein besonderes Sehvermögen
voraussetzen, vom Kläger nicht durchführbar.
Der berufskundige Sachverständige S2 hat im Termin vom 3. Juni 2002 ausgeführt, dass es sich bei den vom Kläger
verrichteten Tätigkeiten um solche handele, die auch der Verfahrensmechaniker mit dem entsprechenden
Facharbeiterabschluss verrichten können müsse. Er hat daraus gefolgert, dass die vom Kläger verrichteten
Tätigkeiten auf Facharbeiterniveau einzuordnen seien, dieser im Ergebnis einem Facharbeiter gleichstehe. Die
Tätigkeit des Hüttenwerkers habe 1992 nur eine zweijährige Ausbildung erfordert. Voraussetzung sei zusätzlich ein
Berufsgrundbildungsjahr gewesen. Bei der H. A.-Werk GmbH finde eine Ausbildung zum Hüttenwerker nicht mehr
statt. Die entsprechende Ausbildung sei inzwischen diejenige zum Verfahrensmechaniker, eine dreijährige Ausbildung.
Als Hüttenwerker könne der Kläger nicht mehr arbeiten, da es sich um mittelschwere bis schwere Tätigkeiten im
Schichtbetrieb handele. Verweisungstätigkeiten vermöge er, der berufskundige Sachverständige, nicht zu benennen.
Der Kläger sei nur noch in der Lage, die so genannten Pack- und Montierarbeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes zu
verrichten.
Daraufhin hat das Sozialgericht die Beklagte durch Urteil vom 3. Juni 2002, auf dessen Inhalt Bezug genommen wird,
zur Gewährung von Rente wegen Berufsunfähigkeit unter Zugrundelegung eines Leistungsfalls des Tages der
Antragstellung verurteilt. Die auf Gewährung von Rente wegen Erwerbsunfähigkeit gerichtete Klage hat es
abgewiesen.
Gegen das ihr am 15. Juli 2002 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 28. Juli 2002 Berufung eingelegt und
ausgeführt, der berufskundige Sachverständige habe für seine Behauptung, Voraussetzung für die Tätigkeit des
Klägers sei ein Berufsgrundbildungsjahr gewesen, keinerlei Beleg geliefert. Es habe vielmehr die Möglichkeit
bestanden, auf Grund einer solchen Vorbildung die ohnehin nur zwei Jahre dauernde Ausbildung weiter zu verkürzen.
Die tarifliche Einstufung in Gruppe E 4 verdeutliche, dass der Kläger aus Sicht der Arbeitgeberin nur Tätigkeiten
verrichtet habe, die denjenigen eines Hilfshandwerkers gleichzustellen seien. Dass Verfahrensmechaniker auch
Tätigkeiten ausführen können müssten, die der Hüttenwerker ausführe, berechtige nicht zu dem Schluss, dass der
Kläger Facharbeiter sei, zumal ihn die Arbeitgeberin dann in Gruppe E 6 eingestuft hätte. Das Berufsbild
Verfahrensmechaniker existiere bereits seit 1982 und sei 1986 endgültig staatlich anerkannt worden. Die Ausbildung
dauere dreieinhalb Jahre. Als angelernter Arbeiter sei der Kläger noch auf eine Vielzahl von Tätigkeiten des
allgemeinen Arbeitsmarktes, die er mit seinem Leistungsvermögen vollschichtig ausführen könne, verweisbar. Die im
Berufungsverfahren eingeholten Befundberichte und diesen beigefügte Arztbriefe ergäben keine neuen Gesichtspunkte
(Stellungnahme vom 14. April 2003).
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 3. Juni 2002 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend und meint, er dürfe auch für den Fall, dass er (nur) angelernter Arbeiter
sei, nicht auf so genannte Pack- und Montierarbeiten verwiesen werden, weil diese keine Einweisung oder beruflichen
Vorkenntnisse erforderten.
Das Berufungsgericht hat von der H. A.-Werk GmbH den Arbeitgeberbericht vom 3. Dezember 2002 und von der
Internistin Dr. L2, dem Augenarzt Dr. G. und dem Allgemeinarzt S., der diverse orthopädische, internistische und
augenärztliche Anlagen beigefügt hat, die Befundberichte vom 18. März 2003, 3. März 2003 und 8. März 2003
eingeholt. Nach der Mitteilung von Dr. G. vom 24. Oktober 2005 ist der Kläger dort zuletzt am 17. Dezember 2002 in
Behandlung gewesen. Nach dem weiteren Befundbericht der Dr. L2 vom 1. November 2005 bestehen ein Übergewicht
und ein Diabetes mellitus I sowie eine schwere, nicht wuchernde (proliferative) Retinopathie bei Zustand nach
Laserkoagulation und augenärztlicher Betreuung durch Dr. U. (Arztbrief vom 18. Januar 2004).
Im Termin vom 23. November 2005 hat das Gericht als Zeugen den Dipl.-Ingenieur Dr. S3, Betriebsleiter der H. A.-
Werk GmbH, als sachverständigen Zeugen vernommen. Wegen seiner Bekundungen wird auf den Inhalt der
Niederschrift verwiesen.
Im Übrigen wird auf den Inhalt der Prozessakten und der in der Niederschrift aufgeführten Akten und Unterlagen
Bezug genommen, die vorgelegen haben und Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung der Beklagten ist statthaft, form- und fristgerecht eingelegt und auch im Übrigen zulässig (§§ 143, 151
Sozialgerichtsgesetz ( SGG )). Sie ist auch begründet.
Das Sozialgericht hat die Beklagte zu Unrecht zur Gewährung von Rente wegen Berufsunfähigkeit verurteilt. Der
Bescheid der Beklagten vom 29. Oktober 1998 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 4. März 1999 ist
rechtmäßig. Der Kläger ist nicht berufsunfähig. Folglich hat er keinen Anspruch auf Rente wegen Berufsunfähigkeit.
Berufsunfähig sind gemäß § 43 Abs. 2 Sätze 1 und 2 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VI) in der bis zum 31.
Dezember 2000 geltenden, hier anzuwendenden Fassung Versicherte, deren Erwerbsfähigkeit wegen Krankheit oder
Behinderung auf weniger als die Hälfte derjenigen von körperlich, geistig und seelisch gesunden Versicherten mit
ähnlicher Ausbildung und gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten gesunken ist. Der Kreis der Tätigkeiten, nach
denen die Erwerbsfähigkeit von Versicherten zu beurteilen ist, umfasst alle Tätigkeiten, die ihren Kräften und
Fähigkeiten entsprechen und ihnen unter Berücksichtigung der Dauer und des Umfangs ihrer Ausbildung sowie ihres
bisherigen Berufs und der besonderen Anforderungen ihrer bisherigen Berufstätigkeit zugemutet werden können.
Berufsunfähig ist nicht, wer eine zumutbare Tätigkeit vollschichtig ausüben kann; dabei ist die jeweilige
Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigen (§ 43 Abs. 2 Satz 4 SGB VI). Diese Voraussetzungen liegen hier nicht vor.
Beim Kläger liegt eine Reihe von Krankheiten bzw. Behinderungen auf verschiedenen ärztlichen Fachgebieten vor,
insbesondere auf internistischen, augen-, ohren- und hautärztlichem Fachgebiet. Zu ihnen gehören vornehmlich ein
insulinpflichtiger Diabetes bei diabetischer, nicht proliferativer Retinopathie, eine Maculaopathie, eine
Sehkraftminderung der Augen bei Zustand nach Laserkoagulation, eine Hyperopie und ein Astigmatismus, ein
Zustand nach Lungenembolie 1997 und bis 2000 erfolgter Marcumartherapie, eine Schuppenflechte, ein Fußpilzleiden,
ein Kampfaderleiden an den Unterschenkeln, ein nichtsubstituiertes Klinefelter-Syndrom, ein Übergewicht und eine
Schwerhörigkeit bei Ohrgeräuschen. Diese Krankheiten ergeben sich aus dem Gutachten des Dr. D. und aus den von
den behandelnden Ärzten eingeholten Befundberichten. Im Wesentlichen entsprechen sie den von Dr. V. und Dr. R.
bereits im Verwaltungsverfahren festgestellten Krankheiten. Auf orthopädisch-chirurgischem Fachgebiet sind keine
wesentlichen Behinderungen vorhanden. Hier beschränkt sich der klinische Befund auf vorübergehende
belastungsabhängige, behandlungsfähige Beschwerden des rechten Armes, Ellenbogens und der rechten Schulter.
Der radiologische Befund ist dort im Wesentlichen unauffällig.
Angesichts dieser Leiden hält es der Senat zwar nicht für ausgeschlossen, dass sich der im Konti-Schichtdienst
stehende und als Kranfahrer und Kranhelfer anhand eines Arbeitsplans arbeitende Kläger hierbei gesundheitlich
überfordert und deshalb möglicherweise hinsichtlich dieser Arbeiten arbeitunfähig ist, zumal er gerade Schichtdienst
und Arbeiten unter Hitzeeinwirkung, die hierbei anfallen, meiden soll. Jedoch ist der Kläger damit nicht berufsunfähig.
Entgegen der Annahme des Sozialgerichts ist er kein Facharbeiter. Als oberer angelernter Arbeiter, als der er
allenfalls einzustufen ist, ist er auf ihm näher zu benennende – und benennbare - ungelernte Arbeiten nicht ganz
einfacher Art, die einer gewissen Einarbeitung/Einweisung bedürfen, verweisbar. Diese kann er noch regelmäßig
vollschichtig verrichten.
Nach dem Bericht der H. A.-Werk GmbH vom 13. Oktober 1998 handelt es sich bei der vom Kläger verrichteten Arbeit
um eine angelernte Tätigkeit und entspricht diese der tariflichen Einstufung (E 4). Nachtarbeit, Schmutzarbeit und
Schichtarbeit bestimmen die Lohnhöhe mit. Der Kläger erhält eine übertarifliche Zulage, eine widerrufliche
Ausgleichszulage, eine Schichtzulage, eine Erschwerniszulage und eine Waschzeitzulage. Er verfügt nicht über die
praktischen und theoretischen Kenntnisse eines voll ausgebildeten Facharbeiters, ist auch nicht in Teilbereichen des
Facharbeiterberufes eingesetzt worden. Der Hüttenwerker E 4 im Kontischichtbetrieb verrichtet alle Tätigkeiten des
Hüttenwerkers E 3 im Kontischichtbetrieb und zusätzlich folgende Tätigkeiten: Bedienen des funkferngesteuerten
Kranes (FF-Kranes) zum Setzen von Anoden, Kontrollieren von Anoden, Saugen von Metall und Schmelze, Füttern
der Ofenbunker mit Roh- und Hilfsstoffen, Auffahren der Anodenbäume, Einbrechen der Seitenkruste, Durchführen
von Routinecheckups am funkferngesteuerten Kran, Führen des Kranbuches. Diese Tätigkeiten erfordern Kenntnisse
und Fertigkeiten, die in der Regel durch eine abgeschlossene zweijährige Berufsausbildung bzw. durch eine längere
Berufspraxis auf einem vergleichbaren Arbeitsplatz erworben werden können. Bereits deshalb besteht kein Zweifel,
dass der Kläger keine Facharbeitertätigkeit ausgeübt hat bzw. ausübt. Dies wird durch die überzeugende Aussage des
sachverständigen Zeugen Dipl.-Ingenieur Dr. S3 bestätigt. Nach Dr. S3’s Ausführungen ist der Kläger ohne
einschlägige Ausbildung in Lohngruppe E 2 eingestellt worden (Eingangslohngruppe sowohl für ungelernte als auch für
gelernte Arbeiter) und hat sich innerbetrieblich weiter qualifiziert bis zum Hüttenwerker in Lohngruppe E 4, hat den
Staplerführerschein, den Führerschein zum Transport von Flüssigmetall und den Kranführerschein erworben. Die
Ausbildung zum Kranfahrer, die mit dem Kranführerschein abgeschlossen wird, erfolgt im Betrieb über einige Monate.
Vertiefte metallurgische Kenntnisse sind hierfür nicht erforderlich. Weitere Qualifikationen hat der Kläger nicht.
Insbesondere hat er sich einer Einweisung in Tätigkeiten als Vorarbeiter oder Schichtführer, die in Lohngruppe E 6
bzw. Lohngruppe E 12 eingestuft sind, nicht unterzogen und ist als solcher auch nicht tätig gewesen.
Soweit das Sozialgericht den Kläger einem Verfahrensmechaniker gleichgestellt hat und deshalb von einem
Facharbeiterstatus des Klägers ausgegangen ist, kann ihm nicht gefolgt werden. Die Ausbildung im Ausbildungsberuf
Verfahrensmechaniker in der Hütten- und Halbzeugindustrie dauert zwar dreieinhalb Jahre, wobei zwischen den
Fachrichtungen Eisen- und Stahl-Metallurgie, Stahl-Umformung, Nichteisen-Metallurgie und Nichteisen-Umformung
gewählt werden kann (vgl. § 2 Abs. 2 GießVerfMAusbV vom 28. Mai 1997, BGBl I S 1260, gültig ab 1. August 1997),
und betrifft folglich eine Facharbeiterausbildung. Dass die Verfahrensmechaniker auch Tätigkeiten eines
Hüttenwerkers können bzw. leisten müssen, berechtigt jedoch nicht zu dem Schluss, dass der Kläger Facharbeiter
sei. Insoweit ist der berufskundige Sachverständige S2 bzw. das Sozialgerichts einem Trugschluss erlegen.
Nirgendwo findet sich eine Äußerung der Arbeitgeberin, dass der Kläger alle Tätigkeiten eines Verfahrensmechanikers
verrichten kann bzw. verrichtet hat. Er ist nach Auskunft der Arbeitgeberin lediglich mehr als drei Monate
innerbetrieblich eingearbeitet worden. Grundsätzlich werden Arbeitnehmer, die Tätigkeiten verrichten, für die
Kenntnisse und Fertigkeiten erforderlich sind, die durch eine angemessene Berufspraxis von idR bis zu 13 Wochen
erworben werden, in E 2, der Eingangsstufe des Klägers, eingruppiert. Weshalb der berufskundige Sachverständige
S2 ein – vom Kläger nicht abgeleistetes – Berufsgrundbildungsjahr zur "abgeschlossenen zweijährigen
Berufsausbildung" im Sinne der Entgeltgruppe E 4 addiert und damit zu einer dreijährigen Ausbildung des Klägers
kommt, ist nicht nachzuvollziehen. Der Zeuge Dr. S3 hat demgegenüber eindeutig klargestellt, dass der Kläger von
den Kenntnissen und Fähigkeiten her mit einem Verfahrensmechaniker absolut nicht gleichgestellt werden kann. Er
hat niemals als Hallenführer - auch nicht in Vertretung – gearbeitet. Verfahrensmechaniker werden idR in Lohngruppe
E 6 und höher (bis E 12) eingestuft. Für eine Tätigkeit nach Lohngruppe E 6, die erste Facharbeitergruppe, sind z. B.
Ofenkontrolle, dass Einteilen der Hallenmitarbeiter und die Durchführung von Messungen erforderlich. All dies hat der
Kläger nicht getan. Mithin hat der Kläger weder Facharbeitertätigkeiten ausgeübt noch ist er wie ein Facharbeiter
bezahlt worden. Damit steht fest, dass er einen Facharbeiterstatus nicht erlangt hat.
Der Senat kann dahingestellt lassen, ob der Kläger als oberer Angelernter zu betrachten ist. Oberste Lohngruppe für
den angelernten Arbeiter ist nach dem einschlägigen Traifvertrag die Lohngruppe E 5. Sie liegt unterhalb der
Lohngruppe E 6, die sich dadurch definiert, dass hierzu Arbeitnehmer gehören, die Tätigkeiten verrichten, für die
Kenntnisse und Fertigkeiten erforderlich sind, die durch eine abgeschlossene mindestens dreijährige Berufsausbildung
in einem nach dem Berufsbildungsgesetz anerkannten oder gleichgestellten Ausbildungsberuf erworben worden sind.
Arbeitnehmer der Lohngruppe E 5 verrichten Tätigkeiten, die über die Anforderungsmerkmale der Lohngruppe E 4
hinaus erweiterte Kenntnisse und Fertigkeiten voraussetzen und in der Regel nach allgemeinen Anweisungen
ausgeführt werden. Wollte man für den Status eines oberen angelernter Arbeitnehmers fordern, dass er eine
Eingruppierung in die höchste unterhalb der ersten Facharbeiterlohngruppe liegende Lohngruppe voraussetzt, so wäre
der in Lohngruppe E 4 eingestufte Kläger nicht als oberer angelernter Arbeitnehmer zu qualifizieren. Lässt man die
Einstufung in eine Lohngruppe genügen, die eine abgeschlossene zweijährige Berufsausbildung voraussetzt, so wäre
der Kläger, weil dies in Lohngruppe E 4 geschieht, oberer Angelernter. Letztlich kann dies dahinstehen. Denn der
Kläger kann, was er selbst nicht bestreitet, noch leichte Pack-, und Montierarbeiten, aber auch Sortier- und
Etikettierarbeiten vollschichtig verrichten. Er kann auch auf diese Tätigkeiten zumutbar verwiesen werden.
Nach dem Urteil des Bundessozialgerichts vom 29. März 1994 (13 RJ 35/93 – SozR 3-2200 § 1246 Nr. 45) kann ein
Angehöriger der Gruppe mit dem Leitberuf des Angelernten im oberen Bereich zwar nicht schlechthin auf das
allgemeine Arbeitsfeld verwiesen werden. Ungelernte Tätigkeiten nur ganz geringen qualitativen Wertes scheiden
danach als Verweisungstätigkeiten aus. In Betracht kommende Verweisungstätigkeiten müssen sich durch
Qualitätsmerkmale, zum Beispiel das Erfordernis einer Einweisung und Einarbeitung oder die Notwendigkeit
beruflicher und betrieblicher Vorkenntnisse, auszeichnen. Solche Tätigkeiten sind in zwar der Regel der Gruppe mit
dem Leitbild des Angelernten (unterer Bereich) zuzurechnen. Es kommen aber auch durch Qualitätsmerkmale
herausgehobene ungelernte Tätigkeiten als Verweisungstätigkeiten in Betracht. Aus der eingeschränkten
Verweisbarkeit folgt, dass mindestens eine in Betracht kommende Verweisungstätigkeit konkret zu bezeichnen ist.
Für die konkrete Bezeichnung einer zumutbaren Verweisungstätigkeit reicht es nicht aus, bestimmte Tätigkeiten
zusammengefasst als zumutbar zu bezeichnen. Erforderlich ist vielmehr die Benennung eines typischen
Arbeitsplatzes mit der üblichen Berufsbezeichnung. Im Einzelnen ist festzustellen, welche Anforderungen in
gesundheitlicher und fachlicher Hinsicht diese berufliche Tätigkeit stellt, ob der Versicherte diesen Anforderungen
nach seinem gesundheitlichen und geistigen Leistungsvermögen sowie seinem beruflichen Können und Wissen
gewachsen und ob er in der Lage ist, die Verweisungstätigkeit innerhalb einer Einarbeitungszeit von höchstens drei
Monaten vollwertig auszuüben. Es ist also eine typisierende Arbeitsplatzbeschreibung über den tatsächlichen Umfang
der Anforderungen sowie den Arbeitsablauf und typische Belastungssituationen einzuholen. Gegen die Beiziehung von
Sachverständigengutachten aus früheren gleich gelagerten Verfahren und deren Verwertung im Wege des
Urkundenbeweises bestehen keine Bedenken.
Unter Zugrundelegung dieser Ausführungen kann der Kläger auf die Tätigkeiten eines Verpackers (chirurgisches
Nadel- und Nahtmaterial, Zahnfüllstoffe, Kleinteile ( u. a. Dichtungsringe ) für die Automobilindustrie,
Kunststoffkleinteile in der Brillen- und Glasindustrie) und eines Monteurs von Schreibartikeln (Federhalter- und
Kugelschreiberfertigung, Pressen, Schränken und Schlitzen von Schreibfedern) verwiesen werden. Dasselbe gilt für
Abpackarbeiten in der Ernährungsindustrie bzw. im Handel (z. B. Tee) und einfache Kontroll- und Prüftätigkeiten
außerhalb der qualifizierten Güteprüfung (z. B. Gummidichtungen, Metallfedern etc.), wie es durch eine Reihe
berufskundiger Sachverständigenaussagen von Arbeitsberatern der Hamburger Agentur für Arbeit, auch des
berufskundigen Sachverständigen S2, gerichtsbekannt geworden ist. Hierbei ist es unerheblich, ob die
Einarbeitungszeit idR zehn Tage oder, je nach Anstelligkeit, zwei bis zehn Wochen beträgt. Denn auch eine
erforderliche Einarbeitungs- oder Einweisungszeit von zehn Tagen hebt diese Tätigkeiten aus ungelernten Tätigkeiten
ganz geringen qualitativen Wertes hervor. Einer längeren Einarbeitungszeit bedarf es nicht.
Die genannten Verweisungstätigkeiten werden auch von Tarifverträgen erfasst. So wird beispielsweise die Tätigkeit
eines Packers nach Lohngruppe 2 des Tarifvertrags für den Groß- und Außenhandel Hamburg und nach Gruppe 2 des
Tarifvertrags für den Groß-, Einzel- und Ausfuhrhandel Schleswig-Holstein vergütet, nach einem Jahr dieser Tätigkeit
nach Gruppe 3. Die dem Kläger benannten Verweisungstätigkeiten sind ihm im Rahmen des § 43 Abs. 2 Satz 2 SGB
VI deshalb sozial zumutbar.
Der Kläger kann diese Verweisungstätigkeiten mit dem ihm verbliebenen Leistungsvermögen auch noch verrichten.
Dass er gegenwärtig als Hüttenwerker eine mittelschwere bis schwere Arbeit verrichtet, ist bereits ein gewisses Indiz
dafür, dass er jedenfalls leichtere Arbeiten noch ausüben kann. Dr. D. hat die Durchführung leichter körperlicher
Arbeiten für durchführbar erachtet. Leichte Pack-, Montier-, Sortier- und Etikettierarbeiten stellen keine allzu großen
Anforderungen an das Seh- und Hörvermögen. Diese Tätigkeiten werden in geschlossenen Räumen, zu ebener Erde
und überwiegend im Sitzen verrichtet und erfordern Hebe- und Tragearbeiten von nicht mehr als 5 kg. Dies kommt den
Behinderungen des Klägers entgegen. Zwar hat Dr. D. von zusätzlichen 3-4 Pausen von 15 Minuten zur Bestimmung
des Blutzuckers gesprochen. Diese Bestimmungen können aber während betriebsüblicher Pausen vorgenommen
werden. Sie machen keine betriebsunüblichen Pausen notwendig, die einen Arbeitgeber davon abhalten könnten, den
Kläger einzustellen. Die Ermittlungen des Senats in mehreren früheren Verfahren haben ergeben, dass
Blutzuckerbestimmungen, aber auch Pausen zur Aufnahme kleinerer Mahlzeiten durch den Zuckerkranken, etwa
Apfel- und Joghurtpausen, sehr geringe Zeit in Anspruch nehmen und sich keineswegs störend auf den Betriebs- und
Arbeitsablauf auswirken. Auch bei seiner jetzigen Arbeit ist dem Kläger, wie sich aus der Aussage des Zeugen Dr. S3
ergibt, eine in regelmäßigen Abständen vorzunehmende Nahrungsaufnahme möglich.
Nach alledem ist der Kläger nicht berufsunfähig und hat die Berufung der Beklagten Erfolg.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Der Senat hat die Revision gemäß § 160 Abs. 2 Nr. 1 oder 2 SGG nicht zugelassen, weil die Voraussetzungen hierfür
fehlen.