Urteil des LSG Berlin-Brandenburg vom 11.02.2011
LSG Berlin-Brandenburg: operation, medizinische indikation, gerichtshof für menschenrechte, transsexualität, plastische chirurgie, gutachter, krankenkasse, befund, kastration, wachstum
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Gericht:
Landessozialgericht
Berlin-Brandenburg 1.
Senat
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
L 1 KR 243/09
Dokumenttyp:
Urteil
Quelle:
Normen:
§ 13 Abs 3 SGB 5, § 27 Abs 1 S
1 SGB 5, § 27 Abs 1 S 2 SGB 5
Krankenversicherung - Kostenübernahme für eine
brustvergrößernde Operation bei Transsexualität
Leitsatz
Bei Mann-zu-Frau Transsexualität kommt eine operative Brustvergrößerung als Sachleistung
der gesetzlichen Krankenversicherung nur in Betracht, wenn entweder die
geschlechtsangleichende Operation mit der Entfernung der männlichen Keimdrüsen nicht zu
einem akzeptablen Wachstum der Brüste geführt hat oder eine geschlechtsangleichende
Operation gar nicht durchgeführt werden soll.
Tenor
Die Berufung wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu
erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten darüber, ob die beklagte Krankenkasse der Klägerin die Kosten
für eine Brustvergrößerungsoperation zu erstatten hat.
Bei der im Oktober 1967 geborenen Klägerin besteht eine primäre Mann-zu-Frau-
Transsexu-alität. Sie wird seit mehr als 15 Jahren mit einer Hormontherapie behandelt.
Sie lebt seit 2006 auch in der Öffentlichkeit als Frau.
Im Juli 2006 erfolgte in einer Klinik in A eine operative Gesichtsfeminisierung. Im darauf
folgenden Monat ließ die Klägerin eine erste Operation zur Veränderung der Stimmlage
vornehmen.
Mit Schreiben vom 19. März 2007 beantragte sie u. a. eine erneute Operation wegen der
Stimmhöhe. Mit weiterem Antragsschreiben vom 17. Juli 2007 begehrte sie im Anschluss
an die Stimmanpassung eine medizinisch fundierte Logopädie, den chirurgischen
Brustaufbau und eine geschlechtsangleichende Genitaloperation, so dass (dann) alle
primären und sekundären Geschlechtsmerkmale angeglichen seien.
Die Beklagte schaltete den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung Berlin-
Brandenburg e. V. (MDK) ein. Im Rahmen der Untersuchungen im Juli 2007 durch den
ausführenden Gutachter Dipl.-Med. M äußerte die Klägerin u. a., ein weiblicher
Brustaufbau werde bei ausbleibend genügendem Erfolg der laufenden
Hormonbehandlung gewünscht. Der Gutachter gelangte in seiner Stellungnahme vom
14. August 2007 aus psychiatrischer Sicht zu den Feststellungen, dass bei der Klägerin
eine manifeste Transsexualität Mann-zu-Frau bestehe. Ein durch die Transsexualität
bedingter Leidensdruck habe weder durch ein Leben in der gewünschten weiblicher
Identität im Alltagserprobungstest noch durch ausreichend durchgeführte begleitende
Psychotherapie und die gegengeschlechtliche Hormonbehandlung gelindert werden
können. Die Klägerin habe eine männlich tiefe Stimme, welche die Stimmigkeit der
weiblichen Identität erheblich mindere und welche im Zusammenhang mit der
Transsexualität der Versicherten zu erheblichem Leistungsdruck führe. Psychische
Erkrankungen, welche ein transsexuelles Syndrom bedingen könnten, seien nicht
bekannt.
Der Gutachter empfahl weitere Maßnahmen. Wegen der beantragten
geschlechtsangleichenden Operation bedürfe es noch der MDK-Begutachtung durch
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geschlechtsangleichenden Operation bedürfe es noch der MDK-Begutachtung durch
einen Facharzt im operativen Gebiet.
Mit Beschluss vom 7. September 2007 änderte das Amtsgericht Schöneberg
(Geschäftsnummer: 70 III 59/07) im Verfahren auf Vornamensänderung nach dem
Transsexuellengesetz den Namen der Klägerin.
Aus chirurgischer Sicht nahm für den MDK Dr. H nach Untersuchung der Klägerin am 17.
September 2007 mit Gutachten vom 20. September 2007 Stellung zu deren Wunsch
nach einem Brustaufbau. Es bestehe ein Befund, der als Mikromastie zu werten sei mit
bereits deutlicher Prominenz der Brustdrüsen über der Thoraxvorderwand und einem
Brustdrüsenkörpervolumen von ca. 50 ml je Seite. Bei einem solchen Befund sei nach
Begutachtungsrichtlinien auch bei biologisch als Frau geborenen Menschen keine
medizinische Indikation für einen Brustaufbau ableitbar. Es sei möglich, dass die
Brustgröße nach der Kastration im Rahmen der Genitalumwandlung noch zunehme. Bei
manifester Transsexualität Mann-zu-Frau sei eine Genitaltransformation medizinisch
indiziert.
Unter dem 1. Oktober 2007 schrieb die Beklagte daraufhin unter anderem an die
Klägerin, zur Erteilung der Kostenübernahme der Genitaltransformation sei noch ein
ärztlicher Einweisungsschein erforderlich. Für den zusätzlich - ohne den erforderlichen
Einweisungsschein - beantragten Brustaufbau sei keine medizinische Indikation
ableitbar. Es sei möglich, dass die Brustgröße nach der Genitaltransformation noch
zunehme. Eine Kostenübernahme für eine stationäre Krankenhausbehandlung könne
daher nicht erfolgen.
Die Klägerin erhob am 22. Oktober 2007 Widerspruch gegen die Ablehnung einer
Kostenübernahme für einen chirurgischen Brustaufbau. Der MDK habe möglicherweise
nicht alle Umstände hinreichend gewürdigt. Beim derzeitigen Zustand der Brust handele
es sich um einen regelwidrigen körperlichen Zustand. Die regelmäßige Teilhabe am
gesellschaftlichen Leben sei durch das völlige Fehlen einer weiblichen Brust erheblich
beeinträchtigt.
Im November 2007 wurde auf Kosten der Beklagten eine zweite Stimmbänderoperation
vorgenommen.
Die Klägerin reichte am 7. Januar 2008 eine Krankenhauseinweisung des Dr. P, Facharzt
für plastische und ästhetische Chirurgie, für Implantat zur Mammarekonstruktion ein.
Ferner übersandte sie ein Attest dieses Arztes vom 24. Dezember 2007, indem es unter
anderem heißt, vor dem Hintergrund, dass eine genitale geschlechtsadaptierende
Operation, selbst wenn sie von der Patientin gewünscht werde, zu einem permanenten
Verlust der Orgasmusfähigkeit führen könne, klinge die Bemerkung des Dr. H, dass die
Brustgröße nach Kastration im Rahmen der Geschlechtsumwandlung noch zunehme,
nahezu höhnisch. Es sei allgemein bekannt, dass die nach einer Kastration zu
beobachtende Vergrößerung des Brustvolumens individuell sehr unterschiedlich
ausfallen könne und im Einzelfall nicht vorhersehbar sei. Es dränge sich dem
Unterzeichner die Vermutung auf, dass dem ablehnenden sozialmedizinischen
Gutachten gänzlich andere Beweggründe zugrund lägen.
Die Beklagte holte daraufhin ein neuerliches Gutachten des MDK ein. Der Dipl.-Med. P
kam im sozialmedizinischen Gutachten vom 7. März 2008 zum Ergebnis, dass die
medizinischen Voraussetzungen für eine Leistungsgewährung nicht erfüllt seien. Bei
Vorhandensein symmetrisch entwickelter Brustdrüsen könne vor Abschluss der
operativen genitalen Transformation mit der noch bestehenden, nicht ganz
unrealistischen Möglichkeit einer spontanen Brustvergrößerung nach Entfernung der
männlichen Keimdrüsen die zwingende Notwendigkeit zur operativen Brustvergrößerung
durch Einlage von Gelkissen beidseits aktuell nicht bestätigt werden.
In seinem weiteren Gutachten vom 10. Januar 2008 gelangte er zu dem Ergebnis, dass
die medizinischen Voraussetzungen für eine stimmverändernde Operation (Revisions-
Glottoplastik) erfüllt seien.
Die Beklagte lehnte mit Schreiben vom 19. März 2008 den Antrag auf Brustaufbau
erneut ab.
Die Klägerin ihrerseits bat mit Schreiben vom 30. April 2008 erneut um
Kostenübernahme für einen chirurgischen Brustaufbau im Rahmen einer
Einzelfallentscheidung. Den beiden Ablehnungen des MDK fehle der sozialmedizinische
Ansatz. Die Gutachter stellten rechtswidrig auf biologisch als Frau geborene Menschen
ab. Sie sei jedoch nicht als Bio-Frau geboren worden. Ihr Antrag müsse primär einer
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ab. Sie sei jedoch nicht als Bio-Frau geboren worden. Ihr Antrag müsse primär einer
Grunderkrankung der Gruppe psychische und Verhaltensstörungen zugeordnet werden.
Fragen wie inneres Spannungsverhältnis, Leidensdruck, Regelwidrigkeit und ähnliches
seien vollkommen unberücksichtigt geblieben. Ihre behandelnde Psychotherapeutin
teilte in ihrer Stellungnahme vom 24. April 2008 mit, bei der Klägerin entwickelten sich
zunehmend Depressionen. Ein Brustaufbau sei dringend erforderlich, damit sich die
Klägerin auch im Alltag in der weiblichen Rolle besser zu Recht finden könne.
In seiner weiteren gutachterlichen Stellungnahme nach Aktenlage vom 27. Mai 2008
bestätigte Dipl.-Med. P das bisherige Ergebnis.
Die Beklagte wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 22. September 2008
zurück. Zur Begründung führte sie aus, das Schreiben vom 1. Oktober 2007 sei ein
Bescheid, gegen den Widerspruch erhoben worden sei. Bei der Klägerin sei zwar die
manifeste Transsexualität Mann-zu-Frau nicht streitig. Deshalb bestehe grundsätzlich
die Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung für die notwendigen
operativen Eingriffe. Die Leistungspflicht umfasse alle Verfahren, die der Angleichung
des biologisch männlichen an das gelebte weibliche Geschlecht dienten. Zu beachten
seien dabei jedoch die allgemein gültigen Regelungen und die gefestigte
Rechtsprechung. Deshalb seien ausschließlich kosmetische motivierte Eingriffe, welche
nicht der Beseitigung eines körperlichen Makels dienten, wie auch bei anderen
Versicherten ausgeschlossen. Ein körperlicher Makel setze einen Befund voraus, der
(bereits) beim flüchtigen Betrachter quasi im Vorübergehen auffällig sei. Dies sei bei der
Klägerin nicht der Fall.
Hiergegen richtet sich die Klage der Klägerin, welche zunächst beim Sozialgericht Berlin
(SG) erhoben worden ist. Zur Begründung hat sie unter anderem ausgeführt, die
Hypothese, dass nach einer Kastration ein spontanes Brustwachstum einsetzen könne,
sei unrealistisch und reine Spekulation.
Am 8. Oktober 2008 hat die Klägerin die Brustoperation in der HPrivatklinik für
Ästhetische und Plastische Chirurgie durchführen lassen (Behandlungs- und
Honorarvereinbarung über 5.000 Euro).
Im Verhandlungstermin vor dem SG am 17. Juni 2009 hat sie erklärt, hinsichtlich der
Geschlechtsumwandlung werde sie voraussichtlich in ein paar Monaten erste
Informationen einziehen.
Das SG hat die auf Aufhebung der Bescheide vom 1. Oktober 2007 und 19. März 2008 in
der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 22. September 2008 sowie auf
Verurteilung der Beklagten, die Kosten für den chirurgischen Brustaufbau in Höhe von
5.000 Euro nebst Zinsen in Höhe von 1.429,62 Euro, hilfsweise in Höhe von 5 % über
dem Basiszinssatz seit dem 24. September 2008, zu erstatten, gerichtete Klage mit
Gerichtsbescheid vom 26. Juni 2009 abgewiesen. Ein Anspruch komme ausschließlich
aufgrund § 13 Abs. 3 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (SGB V) in Betracht. Eine
unaufschiebbare Behandlung im Sinne der Vorschrift habe jedoch nicht vorgelegen und
werde auch von der Klägerin nicht geltend gemacht. Die Beklagte habe im Übrigen die
Leistungen nicht zu Unrecht abgelehnt. Die OP sei weder erforderlich noch notwendig
gewesen. Die Brüste der Klägerin seien anatomisch nicht so weit abweichend vom
Normalbild der weiblichen Brust, dass sie entstellend wirkten. Ein psychischer
Leidensdruck könne, auch unter besonderer Berücksichtigung der Transsexualität, zu
keinem anderen Ergebnis führen.
Hiergegen richtet sich die Berufung der Klägerin. Wie sich aus der Fotodokumentation
des MDK ergebe, habe die Klägerin vor der Operation eine eindeutig männliche Brust
gehabt. Dies sei auch bei flüchtiger Begegnung in alltäglichen Situationen, quasi im
Vorübergehen als solche bemerkbar gewesen. Während der kleinsten Körbchengröße
von BHs ein Brustumfang minus Unterbrustumfang von 12 bis 14 cm zugrunde liege,
habe das entsprechende Maß bei der Klägerin nur 6 cm betragen. Dies gelte erst recht,
wenn Größe und Form der Brust in Bezug zur Größe der Klägerin - 1,90 Meter - und der
Schulterweite - 47 cm - und der Stimmlage gesetzt würden.
Die Beklagte hat darauf hingewiesen, dass es für die Frage der Entstellung auf den
Eindruck im bekleideten Zustand ankomme.
Der MDK hat in der sozialmedizinischen Stellungnahme vom 23. Oktober 2009 durch Dr.
Ho ergänzend ausgeführt, es entspreche ärztlicher Erfahrung, dass nach einer
Entfernung der Hoden ein Wachstum der Brustdrüsenkörper auftreten könne. Als Folge
eines Testosteronmangels - aus unterschiedlichen Gründen - könne sich der männliche
Brustdrüsenkörper vergrößern, genannt „echte Gynäkomastie“. Der Gutachter habe
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Brustdrüsenkörper vergrößern, genannt „echte Gynäkomastie“. Der Gutachter habe
wiederholt bei Mann-zu-Frau-Transsexuellen tastbar vergrößerte Brustdrüsenkörper mit
Brusthügelentwicklungen nach gegengeschlechtlicher Hormonbehandlung und nach
Genitaltransformationen festgestellt. Es könne mehrere Jahre dauern, bis die
Brusthügelentwicklung beendet sei. Dies sei bei biologischen Frauen nicht anders: Auch
bei diesen entwickele sich die Brusthügelgröße während der hormonellen Umstellung in
der Pubertät nicht von heute auf morgen, sondern über mehrere Jahre. Dem Gutachter
würden zudem wiederholt Kassenaufträge vorgelegt, bei denen es um eine beidseitige
Mastektomie bei Männern nach Entfernung der Hoden – etwa als Folge von Krebs oder
von Unfällen – gehe.
Mit Verfügung vom 12./17. Mai 2010 hat der hiesige Senat der Klägerin den Hinweis
erteilt, dass nach Aktenlage die Beklagte bis Oktober 2008 (Durchführung der Brust-OP)
habe davon ausgehen können, dass sie noch eine geschlechtsangleichende Operation
habe durchführen lassen wollen. Der Antrag, eine Brust aufbauende OP unabhängig hier
durchführen zu wollen, habe damit wohl der bis dahin getroffenen
Ablehnungsentscheidung nicht zugrunde gelegen. Die Klägerin hat hierzu ausgeführt,
sich weder überhaupt auf die Durchführung einer geschlechtsangleichenden Operation
festgelegt zu haben, noch ggf. auf einen bestimmten Zeitpunkt. Sie habe auch nicht
etwa in Aussicht gestellt, sie wolle beide Maßnahmen gleichzeitig oder in engem
zeitlichem Zusammenhang durchführen lassen. Dementsprechend habe die Beklagte
auch beide Anträge als getrennt behandelt und beschieden. Zudem habe die Beklagte
aufgrund der Dauer des Verfahrens und der Argumentation der Klägerin nicht davon
ausgehen dürfen, dass die geschlechtsangleichende Operation unmittelbar bevorstehe.
Deswegen habe die Beklagte ihre Ablehnung auch nicht hierauf gestützt, sondern auf
ihre Rechtsauffassung, die Brustvergrößerung sei dem Bereich einer kosmetischen
Operation zuzuordnen.
Sie beantragt,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 26. Juni 2009 sowie die
Bescheide der Beklagten vom 1. Oktober 2007 und 19. März 2008 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 22. September 2008 aufzuheben und die Beklagte zu
verurteilen, der Klägerin die Kosten für den chirurgischen Brustaufbau in Höhe 5.000
Euro nebst Zinsen in Höhe von 1.429,46 Euro, hilfsweise in Höhe von 5 % über dem
Basiszinssatz seit dem 24. September 2008, zu erstatten.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie hat ergänzend darauf hingewiesen, dass die Klägerin sie vorab nicht über die
anstehende Operation informiert habe.
Entscheidungsgründe
Die Berufung hat keinen Erfolg. Das SG hat die Klage zu Recht abgewiesen. Der Senat
verweist auf die zutreffenden Ausführungen im angegriffenen Gerichtsbescheid, § 153
Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG).
Ein Anspruch auf Kostenerstattung bzw. Kostenfreistellung aus § 13 Abs. 3 SGB V
scheitert bereits an einem fehlenden konkreten Antrag. Die Klägerin hat nicht – wie dies
formal erforderlich gewesen wäre, beantragt, die Brustvergrößerungs-OP als
Einzelmaßnahme bzw. vor Durchführung einer geschlechtsangleichenden Operation
durchführen lassen zu wollen:
Das Bundessozialgericht (BSG) hat bereits wiederholt entschieden, ein Anspruch auf
Kostenerstattung bestehe nur, wenn zwischen dem die Haftung der Krankenkasse
begründenden Umstand (rechtswidrige Ablehnung) und dem Nachteil des Versicherten
(Kostenlast) ein Ursachenzusammenhang besteht (ständige Rechtsprechung des BSG,
zuletzt Urteil vom 30. Juni 2009 - B 1 KR 5/09 R- juris - Rdnr. 15 mwN). Daran fehlt es,
wenn die Krankenkasse vor Inanspruchnahme einer vom Versicherten selbst beschafften
Leistung mit dem Leistungsbegehren gar nicht befasst wurde, obwohl dies möglich
gewesen wäre. Eine vorherige Entscheidung der Krankenkasse ist auch dann nicht
entbehrlich, wenn die Ablehnung des Leistungsbegehrens - etwa aufgrund von
Erfahrungen aus anderen Fällen - von vorn herein feststeht (vgl. zuletzt BSG, Beschluss
vom 1. April 2010 - B 1 KR 114/09 B - mit Rechtsprechungsnachweisen).
Hier hat die Beklagte die Ablehnung einer Brustvergrößerungs-OP darauf gestützt, dass
nach den MDK-Gutachten zunächst abzuwarten sei, ob und in welchem Umfang die
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nach den MDK-Gutachten zunächst abzuwarten sei, ob und in welchem Umfang die
Brüste nach der im Rahmen der geschlechtsangleichenden Operation erfolgenden
Keimdrüsenentfernung der Hoden von selbst wachsen würden.
Weder die Krankenkasse noch der MDK haben vor Durchführung der OP in der Privatklinik
im November 2008 einen Anspruch unter der Prämisse geprüft, dass eine
geschlechtsanpassende Operation ansonsten nicht durchgeführt werden solle.
Der Antrag auf Brustvergrößerung ist nur einer der Anträge neben anderen gewünschten
Maßnahmen gewesen (Stimmbänderanpassung und Logopädie, Epilationen,
geschlechtsangleichende Operation), um alle primären und sekundären
Geschlechtsmerkmale anzugleichen. Er ist Teil eines Maßnahmenpaketes gewesen. Die
Klägerin hat jedenfalls bis zur Selbstdurchführung der Operation weder der Beklagten
noch den Gutachtern des MDK gegenüber zum Ausdruck gebracht, die
geschlechtsangleichende Operation nicht mehr oder jedenfalls nicht in absehbarer Zeit
ausführen lassen zu wollen. Allenfalls die Äußerungen des Dr. P deuten in diese Richtung.
Mit dem Begehren einer Brust-OP als Einzelmaßnahme hatte sich die Beklagte also noch
gar nicht befasst, obgleich -wie sogleich auszuführen sein wird- es für den
Leistungsanspruch einen Unterschied macht, ob diese unabhängig von einer
Geschlechtsanpassung vorgenommen wird oder nicht.
Aus demselben Grund muss ein Kostenerstattungsanspruch nicht nur formal scheitern,
sondern – die Entscheidung selbstständig tragend- auch materiell:
Ein Leistungsanspruch auf Durchführung der Brustvergrößerungs-OP als Sachleistung
hätte nur bestanden, wenn entweder nach Durchführung der geschlechtsanpassenden
Operation und dem damit verbundenen Wegfall der Keimdrüsen eine akzeptable
Brustgröße noch nicht erreicht worden wäre oder eine geschlechtsanpassende Operation
in einem absehbaren Zeithorizont sicher nicht zu erwarten gewesen wäre:
Der Kostenerstattungsanspruch nach § 13 Abs. 3 SGB V reicht nicht weiter als der
entsprechende Naturalleistungsanspruch.
Er setzt voraus, dass die selbst beschaffte Behandlung zu den Leistungen gehört,
welche die Krankenkassen allgemein in Natur als Sach- oder Dienstleistung zu erbringen
haben (ständige Rechtsprechung des BSG, z. B. Urteil vom 28. Februar 2008 - B 1 KR
19/07 R - juris - Rdnr. 9 mwN).
Die Klägerin konnte nach § 27 Abs. 1 Satz 1 SGB V eine Krankenbehandlung verlangen,
wenn sie notwendig war, um eine Krankheit zu erkennen, zu heilen, ihre
Verschlimmerung zu verhüten oder Krankheitsbeschwerden zu lindern. Leistungen
müssen § 12 Abs. 1 SGB V ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich sein. Sie dürfen
das Maß des Notwendigen nicht überschreiten.
Eine Krankheit ist nicht jede körperliche Unregelmäßigkeit. Erforderlich ist vielmehr, dass
der Versicherte in seinen Körperfunktionen beeinträchtigt wird oder dass er an einer
Abweichung vom Regelfall leidet, die entstellend wirkt (ständige Rechtsprechung des
BSG, z. B. Urteil vom 28. Februar 2008 - B 1 KR 19/07 R - juris - Rdnr. 11 mwN).
Eine Entstellung besteht, wenn die Versicherten objektiv an einer körperlichen
Auffälligkeit von so beachtlicher Erheblichkeit leiden, dass sie die Teilnahme am Leben in
der Gemeinschaft gefährden.
Aus Sicht des Senats ist bei geschlechtsangleichenden Maßnahmen (im umfassenderen
Sinne) bei Transsexualität nicht generell ein Abweichen von diesen Grundsätzen
geboten.
Zwar hat der 3. Senat des BSG im Urteil vom 6.08.1987 (3 RK 15/86 – BSGE 62, 83) die
dort von der Vorinstanz vorgenommene Bewertung einer besonders tief greifenden
Form der Transsexualität als behandlungsbedürftige Krankheit und als Grund für den
Anspruch auf eine geschlechtsangleichende Operation nicht beanstandet. Nach den
wissenschaftlichen Erkenntnissen, die in den dazu ergangenen Urteilen verwertet
wurden, handelt es sich dort um eine komplexe, die gesamte Persönlichkeit erfassende
tief greifende Störung mit sowohl seelischen als auch körperlichen Beeinträchtigungen
(vgl. BSG, Urt. v. 19.10.2004 –B 1 KR 3/03 R juris Rdnr. 19 mit Bezugnahme auf
Rechtsprechung u. a. des Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte). Auch der
deutsche Gesetzgeber hat durch den Erlass des "Transsexuellengesetzes" (TSG - Gesetz
über die Änderung der Vornamen und die Feststellung der Geschlechtszugehörigkeit in
besonderen Fällen vom 10. September 1980, BGBl I 1654) bestätigt, dass der Befund
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besonderen Fällen vom 10. September 1980, BGBl I 1654) bestätigt, dass der Befund
der Transsexualität eine außergewöhnliche rechtliche Bewertung rechtfertigt. Es besteht
jedoch kein Anspruch auf eine möglichst große Annäherung an ein vermeintliches
Idealbild (vgl. ebenso LSG Dresden, U. v. 03.02.1999-L 1 KR 31/98- juris).
Selbst wenn man aber mit der Klägerin davon ausgeht, dass die Brustvergrößerung hier
geboten gewesen ist, bleibt zu beachten, dass die Brustvergrößerungsoperation nur
mittelbar der Bekämpfung des Auseinanderfallens des körperlichen und des gefühlten
Geschlechts gedient hat. Die Brüste selbst sind nicht krankhaft verändert gewesen.
Für Operationen in ein funktionell intaktes Organ gilt, dass diese als mittelbare
Behandlung einer speziellen Rechtfertigung bedürfen und nur eine ultima ratio sein
können (vgl. BSG, Beschluss vom 17. Oktober 2006 - B 1 KR 104/06 B – m.w.N. zur
Implantation eines Magenbandes; ebenso Urteil des Senats vom 14. Januar 2011 - L 1
KR 197/08 – für eine Brustverkleinerung zur beabsichtigten Linderung von
Rückenschmerzen).
Da es nicht auf den absoluten Zuwachs an Brustumfang ankommen kann, kann eine
Brustvergrößerungs-OP als (weitere) Operation nur geboten sein, wenn ein
ausreichendes Brustwachstum auf anderem Wege nicht (mehr) zu erwarten ist. Der
Senat hält die Ausführungen des MDK zum Zusammenhang der Entfernung der
männlichen Keimdrüsen und einem Brustwachstum für nachvollziehbar und schlüssig
(Stichwort Gynäkomastie).
Bei Mann-zu-Frau Transsexualität kommt damit regelmäßig eine Brustvergrößerung nur
konkret in Betracht, wenn entweder die geschlechtsangleichende Operation mit der
Entfernung der männlichen Keimdrüsen nicht zu einem akzeptablen Wachstum der
Brüste geführt hat oder eine geschlechtsangleichende Operation gar nicht durchgeführt
werden soll. Beide Alternativen lagen hier zum Zeitpunkt der Operation in der Privatklinik
nicht vor. Zu diesem Zeitpunkt war die Brust-OP zur Geschlechtsanpassung (noch) nicht
erforderlich.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG und entspricht dem Ergebnis in der
Hauptsache.
Gründe für die Zulassung der Revision nach § 160 Abs. 2 Nr. 1 und 2 SGG liegen nicht
vor.
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