Urteil des LSG Berlin-Brandenburg vom 12.12.2006

LSG Berlin-Brandenburg: ausbildung, hauptsache, dringlichkeit, härtefall, erlass, rechtsschutz, darlehen, erwerbstätigkeit, link, zugang

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Gericht:
Landessozialgericht
Berlin-Brandenburg
28. Senat
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
L 28 B 53/07 AS ER
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Normen:
§ 86b Abs 2 SGG, § 7 Abs 5 SGB
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Einstweilige Anordnung; Härtefall
Tenor
Die Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom
12. Dezember 2006 wird zurückgewiesen.
Kosten des Beschwerdeverfahrens sind nicht zu erstatten.
Gründe
Die Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom
12. Dezember 2006, mit dem das Sozialgericht den Antrag des Antragstellers vom 1.
Dezember 2006, den Antragsgegner im Wege einer einstweiliger Anordnung zu
verpflichten, ihm „Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts seit August 2006
fortlaufend zu gewähren“, abgelehnt hat, ist gemäß §§ 172 Abs. 1, 173
Sozialgerichtsgesetz (SGG) zulässig, aber unbegründet.
Das Sozialgericht hat den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung zu Recht
abgelehnt, weil die Voraussetzungen des § 86 b Absatz 2 SGG nicht vorliegen.
1.) Schon für die Gewährung von Leistungen „seit August 2006“ bis zum Zeitpunkt der
Entscheidung des Senats im Beschwerdeverfahren fehlt es an einem Anordnungsgrund,
denn insoweit besteht keine besondere Dringlichkeit, die den Erlass einer einstweiligen
Anordnung erforderlich machen würde. Der Antragsteller hat – auch nach Erhalt der
Entscheidung des Sozialgerichts, die unter anderem auf das Fehlen des
Anordnungsgrundes gestützt war – keine Umstände vorgetragen, die einen
Anordnungsgrund begründen können.
In einem Verfahren auf Erlass einer einstweiligen Anordnung beurteilt sich das Vorliegen
eines Anordnungsgrundes nach dem Zeitpunkt, in dem das Gericht über den Eilantrag
entscheidet; im Beschwerdeverfahren ist dies der Zeitpunkt der
Beschwerdeentscheidung (Schoch, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner,
Verwaltungsgerichtsordnung [VwGO], 12. Ergänzungslieferung 2005, § 123
Randnummern 165, 166 mit weiteren Nachweisen zur Parallelproblematik in § 123
VwGO). Dies folgt daraus, dass in dem Erfordernis eines Anordnungsgrundes ein
spezifisches Dringlichkeitselement enthalten ist, welches im Grundsatz nur Wirkungen für
die Zukunft entfalten kann. Die rückwirkende Feststellung einer – einen zurückliegenden
Zeitraum betreffenden – besonderen Dringlichkeit ist zwar rechtlich möglich, sie kann
jedoch in aller Regel nicht mehr zur Bejahung eines Anordnungsgrundes führen. Denn
die prozessuale Funktion des einstweiligen Rechtsschutzes besteht vor dem Hintergrund
des Artikels 19 Absatz 4 Grundgesetz (GG) darin, in dringenden Fällen effektiven
Rechtsschutz zu gewährleisten, in denen eine Entscheidung im – grundsätzlich
vorrangigen – Verfahren der Hauptsache zu spät käme, weil ohne sie schwere und
unzumutbare, anders nicht abwendbare Nachteile entstünden, zu deren nachträglicher
Beseitigung die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr in der Lage wäre
(Bundesverfassungsgericht, Beschlüsse vom 22. November 2002 – 1 BvR 1586/02 – und
vom 12. Mai 2005 – 1 BvR 569/05). Dies bedeutet aber zugleich, dass die Annahme
einer besonderen Dringlichkeit und dementsprechend die Bejahung eines
Anordnungsgrundes in aller Regel ausscheidet, soweit diese Dringlichkeit vor dem
Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung vorgelegen hat, denn insoweit ist die
besondere Dringlichkeit durch den Zeitablauf überholt, das Abwarten einer Entscheidung
im Verfahren der Hauptsache über den zurückliegenden Zeitraum ist dem
Rechtsschutzsuchenden in aller Regel zumutbar.
Hierbei ist allerdings zu berücksichtigen, dass das Gebot des effektiven Rechtsschutzes
nach Artikel 19 Absatz 4 GG in besonderen Fällen ausnahmsweise auch die Annahme
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nach Artikel 19 Absatz 4 GG in besonderen Fällen ausnahmsweise auch die Annahme
eines Anordnungsgrundes für zurückliegende Zeiträume verlangen kann, so
insbesondere dann, wenn anderenfalls effektiver Rechtsschutz im Hauptsacheverfahren
nicht erlangt werden kann, weil bis zur Entscheidung im Verfahren der Hauptsache
Fakten zum Nachteil des Rechtsschutzsuchenden geschaffen worden sind, die sich durch
eine – stattgebende – Entscheidung im Verfahren der Hauptsache nicht oder nicht
hinreichend rückgängig machen lassen. Derartige Umstände hat der Antragsteller
jedoch nicht vorgetragen, sie sind auch nicht sonst ersichtlich. Dies bedeutet
gleichzeitig, dass insoweit effektiver Rechtsschutz im Hauptsacheverfahren erlangt und
dem Antragsteller ein Zuwarten auf die Entscheidung in der Hauptsache zugemutet
werden kann.
2.) Auch für die Zeit nach der Entscheidung des Senats im Beschwerdeverfahren fehlt es
an dem erforderlichen Anordnungsgrund. Soweit der Antragsteller in diesem
Zusammenhang sinngemäß vorträgt, dass ihm Obdachlosigkeit drohe, weil er „kurz vor
der Räumungsklage stehe“, vermag dieser Vortrag keine Dringlichkeit im genannten
Sinne zu begründen. Denn abgesehen davon, dass dieser Vortrag nicht gemäß § 86 b
Abs. 2 Satz 4 SGG in Verbindung mit §§ 920 Abs. 2, 294 der Zivilprozessordnung (ZPO)
glaubhaft gemacht worden ist, ergibt sich aus dem Vorbringen des Antragstellers selbst,
dass jedenfalls bisher ein Räumungstitel nicht vorliegt.
3.) Der Antragsteller hat im Übrigen auch keinen Anspruch auf Gewährung von
Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts. Der Senat sieht insoweit von einer
weiteren Begründung ab, und weist die Beschwerde aus den zutreffenden Gründen der
angefochtenen Entscheidung zurück (§ 142 Abs. 2 Satz 3 SGG). Die
Beschwerdebegründung vermag an der Richtigkeit dieser Entscheidung nichts zu
ändern. Insbesondere hat der Antragsteller keinen Anspruch auf Gewährung
entsprechender Leistungen nach § 7 Abs. 5 Satz 2 des Zweiten Buches
Sozialgesetzbuch (SGB II) als Darlehen. Hiernach können in besonderen Härtefällen
entsprechende Leistungen als Darlehen gewährt werden. Ein solcher Härtefall ist im Falle
des Antragstellers nicht gegeben.
Dies gilt unabhängig davon, ob man in Anlehnung an die obergerichtliche
Rechtsprechung zur Vorläufervorschrift des § 7 Abs. 5 Satz 2 SGB II in § 26 des
Bundessozialhilfegesetzes (BSHG) das Vorliegen einer besonderen Härte (vorrangig)
daran misst, ob die Folgen des Anspruchsausschlusses über das Maß hinaus gehen, das
regelmäßig mit der Versagung von Hilfe zum Lebensunterhalt für die Ausbildung
verbunden ist, und vom Gesetzgeber so bewusst in Kauf genommen wurde
(grundlegend Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 14.10.1993, - 5 C 16/91 -, BVerwGE
94, 224 ff.) oder ob man einer typisierenden auch schon unter Geltung des BSHG von
Instanzgerichten bevorzugten Betrachtungsweise folgt (Eicher/Spellbrink, SGB II, § 7
RdNrn. 47 ff.; Münder, SGB II, § 7 RdNrn. 74 ff.; Grube/Wahrendorf, SGB XII, § 22 SGB II
RdNrn. 32 ff und Urteil des LSG Berlin-Brandenburg vom 5. Juli 2006, - L 10 AS 545/06 -,
zitiert nach Juris, jeweils mit Aufzählungen von Fallgruppen).
Denn nach der auch unter Geltung des SGB II in der Rechtsprechung der
Landessozialgerichte teilweise fortgeführten Rechtsprechung des Bundessozialgerichts
zu § 26 BSHG (u. a.: Beschlüsse des LSG Niedersachsen - Bremen vom 14.04.2005, - L
8 AS 36/05 ER -, vom 02.02.2006, - L 8 AS 439/05 ER -; LSG Berlin-Brandenburg vom
26.01.2006, - L 5 B 1351/05 AS ER -, L 5 B 1352/05 AS PKH -; Thüringer LSG, Beschluss
vom 22.09.2005, - L 7 AS 635/05 ER) -, liegt ein besonderer Härtefall im Sinne von § 26
Satz 2 BSHG vor, wenn die Folgen des gesetzlichen Anspruchsausschlusses über das
Maß hinausgehen, das regelmäßig mit der Versagung von Hilfe zum Lebensunterhalt für
eine Ausbildung verbunden ist, wie die typische Konsequenz, dass die Ausbildung nicht
begonnen oder gar abgebrochen werden muss, und auch mit Rücksicht auf den
Gesetzeszweck, Sozialhilfe von den finanziellen Lasten einer Ausbildungsförderung
freizuhalten, als übermäßig hart erscheint.
Ein derartiger Sachverhalt ist hier nicht gegeben. Die dem Antragsteller drohende
Konsequenz des Leistungsausschlusses liegt darin, dass er diese Ausbildung abbrechen
muss, um wieder Leistungen nach dem SGB II, die ihm nach Aktenlage bis Juli 2006
gewährt worden sind, zu erhalten. Diese Konsequenz ist vom Gesetzgeber beabsichtigt
und gewollt (s. o.). Darüber hinausgehende Gesichtspunkte, die einen Härtefall zu
begründen vermögen, hat der Antragsteller weder vorgetragen noch sind entsprechende
Anhaltspunkte nach Aktenlage ersichtlich. Eine solche härtebegründende
Sachverhaltskonstellation liegt auch bei typisierender Betrachtungsweise unter
Heranziehung der von der Rechtsprechung entwickelten Fallgruppen (1. der wesentliche
Teil der Ausbildung wurde bereits absolviert und der bevorstehende Abschluss droht –
unverschuldet - an Mittellosigkeit zu scheitern, 2. die konkrete Ausbildung ist belegbar
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unverschuldet - an Mittellosigkeit zu scheitern, 2. die konkrete Ausbildung ist belegbar
die einzige realistische Chance Zugang zum Erwerbsleben zu erhalten und 3. die
finanzielle Grundlage für die Ausbildung, die zuvor gesichert gewesen war, ist entfallen,
ohne dass dies vom Hilfebedürftigen zu vertreten ist, und die Ausbildung ist schon
fortgeschritten und er begründete Aussicht hat, nach der Ausbildung eine
Erwerbstätigkeit ausüben zu können, (vgl. Urteil des LSG Berlin-Brandenburg vom 5. Juli
2006 – L 10 AS 545/06 -, a. a. O., m. w. Nachw.), nicht vor. Der Antragsteller hat seine
Ausbildung nach Aktenlage erst zum 21. August 2006 aufgenommen. Es ist weder
erkennbar noch gar belegt, dass diese Ausbildung für den Antragsteller die einzige
Möglichkeit ist eine Erwerbstätigkeit aufzunehmen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG in entsprechender Anwendung.
Dieser Beschluss kann nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht
angefochten werden (vgl. § 177 SGG).
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