Urteil des LSG Berlin-Brandenburg vom 05.08.2009

LSG Berlin und Brandenburg: aufschiebende wirkung, vorläufiger rechtsschutz, vollstreckung, hauptsache, erlass, vollziehung, mietzins, aussetzung, aussetzen, vollstreckbarkeit

Landessozialgericht Berlin-Brandenburg
Beschluss vom 05.08.2009 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Berlin S 175 AS 12655/09 ER
Landessozialgericht Berlin-Brandenburg L 29 AS 1201/09 ER
Auf Antrag des Antragstellers wird die Vollstreckung aus dem Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 24. Juni 2009
– Az.: S 175 AS 12655/09 ER – bis zur Erledigung des Rechtsstreits in der Beschwerdeinstanz ausgesetzt (§ 199
Abs. 2 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz - SGG). Der Antrag der Antragsgegner auf Erstattung außergerichtlicher Kosten
für das Verfahren gemäß § 199 Abs. 2 SGG wird abgelehnt. Der Antrag der Antragsgegner auf Bewilligung von
Prozesskostenhilfe für das Verfahren gemäß § 199 Abs. 2 SGG wird abgelehnt.
Gründe:
Der Antrag des Antragstellers auf Aussetzung der Vollstreckung aus dem Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom
24. Juni 2009 ist zulässig und begründet.
Soweit die Beschwerde des Antragstellers – wie hier – keine aufschiebende Wirkung hat, kann der Vorsitzende des
Gerichts, das über das Rechtsmittel zu entscheiden hat, die Vollstreckung durch einstweilige Anordnung aussetzen
(vgl. § 199 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2 Satz 1 SGG). Die Anordnung der Vollstreckungsaussetzung ist eine
Ermessensentscheidung (Ruppelt in Hennig, SGG, § 199 Rn. 20; a.A. BSG SozR 3-1500 § 199 Nr. 1). Bei der
Entscheidung sind alle Umstände des Falles zu berücksichtigen und die Belange des durch die Entscheidung
Begünstigten gegen das öffentliche Interesse, eine offensichtliche Fehlentscheidung nicht zu vollstrecken,
gegeneinander abzuwägen (Ruppelt a.a.O. m.w.N.). Sind die Erfolgsaussichten des Rechtsmittels - hier der
Beschwerde - nicht überschaubar, kommt es auf die Abwägung der betroffenen Interessen unter Berücksichtigung
ihrer Bedeutung und Dringlichkeit sowie der Möglichkeit oder Unmöglichkeit einer etwaigen späteren
Rückgängigmachung des Ausspruchs an. Dazu gehört auch die Aussicht des Leistungsträgers, bei Aufhebung der
angefochtenen Entscheidung die inzwischen gewährten Leistungen zurückzuerhalten.
Vorliegend ist zunächst festzustellen, dass der tatsächlich von den Antragsgegnern zu entrichtende monatliche
Mietzins für die von ihnen bewohnte Wohnung in Höhe von zurzeit 470,37 EUR nicht angemessen im Sinne des § 22
Abs. 1 Satz 1 SGB II ist.
Eine Fortzahlung nicht angemessener Kosten der Unterkunft bzw. Heizung kommt aber - unabhängig von den vom
Sozialgericht in dem angefochtenen Beschluss als seines Erachtens angemessen zugebilligten Betrag –
grundsätzlich nicht in Betracht. Nach § 22 Abs. 1 Satz 3 SGB II sind zwar, soweit die Aufwendungen für die
Unterkunft den der Besonderheit des Einzelfalles angemessenen Umfang übersteigen, sie als Bedarf des
alleinstehenden Hilfebedürftigen oder der Bedarfsgemeinschaft solange zu berücksichtigen, wie es dem
alleinstehenden Hilfebedürftigen oder der Bedarfsgemeinschaft nicht möglich oder nicht zuzumuten ist, durch einen
Wohnungswechsel, durch Vermieten oder auf andere Weise die Aufwendungen zu senken, dies in der Regel jedoch
längstens für sechs Monate. Dem aber war der Antragsteller bei einem Mietbeginn 1. Oktober 2008 bereits
nachgekommen. Wenn das Sozialgericht den Antragsgegnern vorliegend einen Betrag in Höhe von vorläufig 415,87
EUR monatlich zuerkennt, bleibt angesichts der tatsächlichen Miete in Höhe von 470,37 EUR monatlich ein
ungedeckter Betrag in Höhe von 54,50 EUR monatlich, sodass selbst bei Zubilligung eines monatlichen Betrages von
415,87 EUR zu erwarten ist, dass mit jedem weiteren Monat Mietschulden entstehen und anwachsen. Hier ist darauf
hinzuweisen, dass die gesetzliche Regelung des § 22 Abs. 1 SGB II teilweise ins Leere laufen würden, wenn zwar
einerseits nur die angemessenen Kosten der Unterkunft zu leisten sind, andererseits jedoch Mietschulden entstehen,
die daraus resultieren, dass der über den angemessenen Betrag hinausgehende tatsächliche Mietzins nicht als
Leistung erbracht wurde. Letztlich würden dem Antragsteller doch sämtliche Kosten der Unterkunft aufgebürdet, auch
wenn sie unangemessen hoch sind. Dies gilt gleichermaßen bei einer Übernahme der Kosten als Darlehen.
Der Antrag der Antragsgegner auf Erstattung außergerichtlicher Kosten für das Verfahren gemäß § 199 Abs. 2 SGG
ist nicht begründet. Eine Kostenentscheidung bezüglich des Verfahrens über den Antrag des Antragstellers, die
Vollstreckung aus dem sozialgerichtlichen Beschluss durch einstweilige Anordnung auszusetzen, findet nicht statt.
Der Senat gibt seine entgegenstehende Rechtsprechung auf und schließt sich insoweit nach eigener Prüfung als
zutreffend und überzeugend der Rechtsprechung des 20. Senats des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg
(Beschluss vom 18. Mai 2009 – L 20 AS 1664/08 ER – soweit ersichtlich nicht veröffentlicht) an. Dort wird zutreffend
und überzeugend ausgeführt:
" Die Voraussetzungen einer isolierten Kostenentscheidung sind nicht erfüllt (a.A. Bayerisches LSG, Beschluss vom
16. Juli 1996 - L 1 An 90/95, NZS 1996, 592). Das Verfahren nach § 199 Abs. 2 SGG stellt ein unselbständiges
Zwischen- oder Nebenverfahren im Rahmen eines Hauptsacheverfahrens bzw. einer "Streitsache" dar, mit der Folge,
dass es einer gesonderten Kostenentscheidung nicht zugänglich ist (ebenso: Rohwer-Kahlmann, SGG, § 199 Rz. 19;
Zeihe, SGG, § 199 Rz. 11c).
Soweit ersichtlich hat sich einzig das Bayerische LSG in dem o.g. Beschluss aus dem Jahre 1996 in der Sache
umfassend mit der Frage beschäftigt, ob das Verfahren nach § 199 Abs. 2 SGG einer isolierten Kostenentscheidung
zugänglich ist. Die Rechtsprechung – auch die des 20. Senats – ist dem in der Regel gefolgt (so auch das BSG in
SozR 3-1500 § 199 Nr 1).
Die Entscheidung des BayLSG knüpfte wiederum an die Rspr. des BSG zu den Grundsätzen einer Kostentscheidung
im Rahmen des durch das 6. SGG-Änderungsgesetz vom 17. August 2001 (BGBl. I 2144) aufgehobenen § 97 Abs. 3
SGG an. Das BSG hat in seiner Entscheidung vom 6. September 1993 (NZS 1994, 142ff.) für eine isolierte
Kostenentscheidung gefordert, dass der jeweilige Antrag zu einem Verfahren geführt hat, das unabhängig vom
Verfahren der Hauptsache eigenständig einen prozessualen Kostenerstattungsanspruch der Beteiligten gegeneinander
auszulösen vermag und eine entsprechende Anwendung des § 193 Abs. 1 SGG rechtfertigt. Dies hat das BSG für
das Verfahren nach dem aufgehobenen § 97 Abs. 3 Satz 1 SGG bejaht: "Die Verfahren des § 97 Abs. 3 Satz 1 SGG
sind nach ihrem sachlichen Gehalt Maßnahmen des vorläufigen Rechtsschutzes und zählen damit zu demselben
Regelungsbereich wie die Verfahren auf Erlass einer einstweiligen Anordnung in entsprechender Anwendung des §
123 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO). Sie setzen einen selbständigen Antrag voraus. Beendet werden sie,
von Fällen der anderweitigen Erledigung abgesehen, nur und erst mit einer speziell auf ihren Gegenstand (=
Anordnung der Vollziehung einer angefochtenen Entscheidung oder Aussetzung einer angeordneten Vollziehung)
bezogenen Entscheidung des Gerichts. Ihre hierin begründete verfahrensrechtliche Eigenständigkeit wird durch § 97
Abs. 3 Satz 2 SGG bestätigt, wonach die verfahrensabschließende Entscheidung nur mit der Entscheidung in der
Hautpsache angefochten werden kann; ".
Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze kann von einer Zugänglichkeit zu einer isolierten Kostenentscheidung bei
einem Verfahren nach § 199 Abs. 2 SGG nicht gesprochen werden.
Das Verfahren nach § 199 Satz 2 SGG hat zum Ziel, die Vollstreckung aus der mit der Berufung oder Beschwerde
angegriffenen erstinstanzlichen Entscheidung vorläufig auszusetzen. Es dient insbesondere nicht, wie § 86b Abs. 2
SGG, der vorläufigen Reglung eines Zustandes durch Erlass einer einstweiligen Anordnung (Rohwer-Kahlmann, SGG,
§ 199 Rz. 19), die neben die Entscheidung in der Hauptsache tritt. Vielmehr beschränkt sich die Anordnung darauf,
eine von Gesetzes wegen angeordnete Wirkung des Urteils bzw. des Beschlusses – die Vollstreckbarkeit - zunächst
auszusetzen. Das Verfahren nach § 199 Abs. 2 SGG entspricht damit strukturell dem § 570 Abs. 3 ZPO, der auch im
verwaltungsgerichtlichen Verfahren anwendbar ist (Sodan/Ziekow, SGG, § 149 Rz. 11f.). Auch im Geltungsbereich der
ZPO wird ausdrücklich zwischen den einstweiligen Verfügungen und den vorläufigen Maßnahmen nach § 570 Abs. 3
ZPO unterschieden (Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, ZPO, 67. Aufl., § 570 Rz. 5). Nach der std. Rspr. der
Verwaltungsgerichte kann das Beschwerdegericht auf Antrag oder von Amts wegen gemäß § 173 VwGO i.V.m. § 570
Abs. 3 ZPO die Vollstreckung der angefochtenen Entscheidung aussetzen (OVG Berlin, NVwZ 2001, 1424, 1425;
VGH Mannheim, NVwZ 2000, 691, 692). Kosten dieses Verfahrens werden jedoch als solche des Rechtsstreits in der
Hauptsache angesehen, weshalb diesbezügliche Beschlüsse keine Kostenentscheidung enthalten (vgl.
Finkelnburg/Dombert/Külpmann, Vorläufiger Rechtsschutz, 5. Aufl., Rz, 1156).
Entsprechendes hat insbesondere nach der Neuregelung des einstweiligen Rechtsschutzes im SGG durch Einführung
der §§ 86a und 86b SGG im Rahmen des § 199 Abs. 2 SGG zu gelten. Das Rechtsschutzsystem des SGG entspricht
mit der Einführung dieser Vorschriften strukturell dem der VwGO. § 86b SGG bildet die Grundlage selbständiger –
antragsabhängiger - Verfahren, die der vorläufigen Gestaltung eines Rechtszustandes dienen und ist deshalb auch
einer Kostenentscheidung entsprechend § 193 SGG zugänglich. Anders das Verfahren nach § 199 Abs. 2 SGG, das
einzig dazu dient, eine vorläufige Regelung bis zur Entscheidung des Berufungs-/Beschwerdegerichts zu treffen und
das auch von Amts wegen eingeleitet werden kann (Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, a.a.O., Rz. 7 a.E.).
Gerade in diesen Fällen werden die Beteiligten allein aufgrund der Entscheidung des Vorsitzenden in ein Verfahren
hineingezogen, dessen Kostenfolge sich letztlich nur daran orientieren kann, wer in der Hauptsache obsiegt (vgl. zu §
707 ZPO: Hüßtege in Thomas/Putzo, ZPO § 707 Rz. 19). Das Veranlassungsprinzip als im sozialgerichtlichen
Verfahren grundlegendes Kostenprinzip hilft hier nicht weiter. Den Beklagten, der dem Urteil wegen des
verfassungsrechtlichen Grundsatzes der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung auch ohne Vollstreckungsmaßnahmen
vorläufig Folge leisten wollte, der Kostenerstattung zu unterwerfen, kommt nicht in Betracht. Aber auch dem Kläger
die Erstattung seiner Kosten zu verweigern, wenn er noch nicht einmal beabsichtigte, vor einer Entscheidung des
LSG zu vollstrecken, ist ebenfalls unbillig.
Dies macht die unterschiedliche Rechtsnatur des Verfahrens nach § 199 Abs. 2 SGG gegenüber den Verfahren des
einstweiligen Rechtsschutzes nach § 86b SGG deutlich, bei denen der Kostenentscheidung regelmäßig
Veranlassungsprinzip und die Erfolgsaussichten des jeweiligen (einstweiligen) Verfahrens zugrunde gelegt werden
können.
Bestätigt wird diese Auffassung dadurch, dass auch die entsprechende Entscheidung des "judex a quo" nach § 175
Satz 3 SGG und § 149 Abs. 1 Satz 2 VwGO eine Kostenentscheidung nicht enthält (vgl. Frehse in Jansen, SGG, §
175 Rz. 6; zur VwGO. Kopp/Schenke, VwGO, § 149 Rz. 5; VG Berlin, NVwZ 1997, 514). Es ist nicht erklärbar, warum
diese bis zur Vorlage des Verfahrens beim Beschwerdegericht mögliche Aussetzungsentscheidung (vgl. dazu
Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, § 175 Rz. 4) mit Eintritt der Entscheidungsbefugnis des
Beschwerdegerichts kostenerstattungsfähig werden sollte."
Handelt es sich bei dem hier zugrunde liegenden Verfahren mithin nicht um ein kostenrechtlich selbständiges, kommt
die auch Bewilligung von Prozesskostenhilfe nicht in Betracht, sodass auch der Antrag der Antragsgegner auf
Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das Verfahren gemäß § 199 Abs. 2 SGG abzulehnen war.
Dieser Beschluss kann sowohl hinsichtlich der Ablehnung des Antrages der Antragsgegner auf Erstattung
außergerichtlicher Kosten als auch der Ablehnung der Bewilligung von Prozesskostenhilfe nicht mit der Beschwerde
zum Bundessozialgericht angefochten werden (§ 177 SGG).
Im Übrigen ist die Anordnung unanfechtbar; sie kann jederzeit aufgehoben werden (§ 199 Abs. 2 Satz 3 SGG).