Urteil des LSG Berlin-Brandenburg vom 30.04.2010

LSG Berlin-Brandenburg: behandlung, label, arzneimittel, körperliche unversehrtheit, ärztliche verordnung, krankenversicherung, versorgung, seltenheit, medikament, verfügung

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Gericht:
Landessozialgericht
Berlin-Brandenburg 1.
Senat
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
L 1 KR 68/08
Dokumenttyp:
Urteil
Quelle:
Normen:
§ 31 Abs 1 S 1 SGB 5, § 135 Abs
1 S 1 SGB 5, § 21 Abs 1 AMG
1976, Art 2 Abs 1 GG, Art 2 Abs
2 S 1 GG
Krankenversicherung - Anspruch auf Versorgung mit dem
ArzneimittelNovoSeven im Off-Label-Use bei Gardner-Diamond-
Syndrom - Seltenheitsfall
Leitsatz
Es besteht Anspruch auf Versorgung mit dem Arzneimittel NovoSeven im Seltenheitsfall (hier
Gardner-Diamond-Syndrom) in zulassungsüberschreitender Anwendung (Off-Label-Use) für
Versicherte der gesetzlichen Krankenversicherung.
Ist wegen der Seltenheit der Krankheit und der Symptome ein Behandlungserfolg durch
andere Ärzte nicht wiederholbar, kann Leistungspflicht auch für einen bloßen Therapieversuch
bestehen, wenn eine schwerwiegende, latent lebensbedrohliche Erkrankung vorliegt, für die
Behandlungsalternativen nicht bekannt sind, wenn der Therapieansatz wissenschaftlich
begründet ist und die Risiken der Nichtbehandlung die einer Behandlung überwiegen.
Tenor
Das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt/Oder vom 07. Dezember 2007 wird aufgehoben
und die Beklagte unter Abänderung der Bescheide vom 24. Juli 2006 und 01. September
2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30. November 2006 verurteilt, die
Klägerin für 12 Monate mit dem Arzneimittel NovoSeven für die Durchführung der
Gerinnungstherapie zu versorgen, soweit die behandelnde Ärztin diese Behandlung
verordnet.
Es wird weiterhin festgestellt, dass die aufgrund des Beschlusses des
Landessozialgerichts vom 19. November 2007 durch die Beklagte erbrachten Leistungen
von dieser endgültig zu erbringen waren.
Die Beklagte trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Klägerin begehrt von der Beklagten die Versorgung mit dem Arzneimittel NovoSeven
als Sachleistung.
Die 1987 geborene Klägerin ist bei der Beklagten krankenversichert. Im Juni 2006
beantragte Dr. N als behandelnde Ärztin bei der Beklagten die Genehmigung einer
Gerinnungstherapie mit NovoSeven im Off-Label-Use. Die Klägerin leide am Gardner-
Diamond-Syndrom, der so genannten autoerythrozytären Purpura. Diese Erkrankung ist
gekennzeichnet durch das schubweise Auftreten von großen, extrem schmerzhaften
Einblutungen in die Haut und Schleimhäute sowie in innere Organe. Für dieses
Krankheitsbild würden wegen der Seltenheit des Auftretens keine klinischen
Behandlungsoptionen existieren. Weltweit seien in der Literatur 120 Fälle beschrieben,
ihr Zentrum habe zwei dieser Patienten in Behandlung. Alle bisher durchgeführten
Therapien hätten ein Fortschreiten der Erkrankung nicht aufhalten können. Die Klägerin
habe mittlerweile Schübe mit handtellergroßen, extrem schmerzhaften Einblutungen an
den Extremitäten, im Gesicht, am Körper, mit Erbrechen und Kopfschmerzen, im
Intervall von 15 Tagen mit einer Dauer von 10 Tagen. Sie werde schmerztherapeutisch
u.a. mit Morphium versorgt. Als einzig effektive Therapiestrategie habe sich im
stationären Bereich die Behandlung mit NovoSeven, einem rekombinanten Faktor VII-
Präparat, welches bei anderen Thrombozytenfunktionsstörungen effektiv und zugelassen
sei, erwiesen. Nach Diskussion mit Kollegen aus der C scheine eine Prophylaxe mit
NovoSeven zunächst im Schub täglich, dann zwei bis dreimal in der Woche die
momentan einzige therapeutische Option zu sein, das Leben der Klägerin wieder
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momentan einzige therapeutische Option zu sein, das Leben der Klägerin wieder
erträglich und schmerzfrei zu gestalten.
Die Beklagte veranlasste daraufhin eine Stellungnahme des Medizinischen Dienstes der
Krankenversicherung (MDK) vom 11. Juli 2006. In der Zusammenschau der Befunde
handele es sich um ein „schillerndes“ Krankheitsbild, das diagnostisch als Gardner-
Diamond-Syndrom eingestuft werden könne, für das jedoch weder die Ursachen noch
aussichtsreiche Behandlungsoptionen klar seien, und bei dem eine psychische
Überlagerung eine erhebliche Rolle spielen dürfte. Was den Erfolg medikamentöser
Behandlungsversuche der Gerinnungsstörung im individuellen Fall betreffe, werde
dementsprechend in den übermittelten Arztberichten teilweise eine rasche Besserung
unter Placebo bzw. ohne spezifische medikamentöse Therapie berichtet. Dass die Gabe
von NovoSeven die momentan weltweit einzige therapeutische Option sei, sei vor
diesem Hintergrund gutachterlich nicht sicher nachvollziehbar. Bei der Diskussion über
Handlungsalternativen müsse deshalb die Frage aufgeworfen werden, inwieweit es für
das Krankheitsbild überhaupt eine medikamentöse Therapie mit spezifischer
Wirksamkeit gebe. Eine psychotherapeutische Mitbehandlung bei chronischem
Schmerzsyndrom sei sicherlich indiziert, allerdings sei ersichtlich, dass die Klägerin einer
solchen Maßnahme wenig aufgeschlossen gegenüberstehe. Verschiedene Versuche, das
Krankheitsbild durch psychotherapeutische Maßnahmen günstig zu beeinflussen,
einschließlich einer stationären Rehabilitation, seien offensichtlich ohne wesentlichen
Erfolg geblieben. Zusammenfassend sei aus sozialmedizinischer Sicht auch unter
Berücksichtigung der ergänzend übermittelten medizinischen Informationen
festzustellen, dass für den indikationsüberschreitenden Einsatz von rekombinantem
aktiviertem Gerinnungsfaktor VIIa (NovoSeven) die vom Bundessozialgericht (BSG)
aufgestellten Kriterien zum Off-Label-Use nicht erfüllt seien.
Auf das Ablehnungsschreiben der Beklagten teilte die behandelnde Ärztin erläuternd
mit, die Erkrankung gehöre zu den schweren, bisher ursächlich nicht behandelbaren
Erkrankungen. Die einzig fassbare Kausalität sei die Störung der Thrombozytenfunktion,
die zu den Blutungen führe. Viele Therapieansätze seien erfolglos geblieben, lediglich die
Behandlung mit NovoSeven habe bei der Klägerin andauernde und schnelle Wirkung
gezeigt. Da man sich in der Situation befinde, dass die Klägerin seit April 2006 quasi
einen Schub nach dem anderen durchleben müsse, dadurch schulunfähig und in
Perspektive - ohne zumindest den Versuch einer alternativen Therapie - auch
erwerbsunfähig sein werde, werde nochmals um Überprüfung der Ablehnung gebeten.
Als Hämostaseologin und Mitglied der Gesellschaft für Thrombose und Hämostase sei
sie in der Anwendung dieser Faktoren erfahren und könne den ökonomischen Einsatz
gewährleisten. Es handele sich um eine die Lebensqualität auf Dauer beeinträchtigende
Erkrankung, alle medikamentösen und psychotherapeutischen Möglichkeiten seien über
Jahre ausgeschöpft. Unter dem Gesichtspunkt der Thrombozytenfunktionsstörung
bestünde begründete Aussicht, mit dem Präparat einen anhaltenden Behandlungserfolg
zu erzielen.
Mit Schreiben vom 24. Juli 2006 teilte die Beklagte mit, dem Antrag auf Übernahme der
Kosten für das Arzneimittel NovoSeven könne leider nicht entsprochen werden. Mit
weiterem, an die Klägerin adressiertem Schreiben vom 01. September 2006 blieb die
Beklagte bei ihrer Entscheidung. Den Widerspruch der Klägerin wies sie mit
Widerspruchsbescheid vom 30. November 2006 als unbegründet zurück. Zwar handele
es sich bei dem vorliegenden Krankheitsbild zweifellos um eine die Lebensqualität
nachhaltig beeinträchtigende Erkrankung. Auch könne bestätigt werden, dass die
Klägerin als „austherapiert“ anzusehen sei und keine alternativen Behandlungen zur
Verfügung stünden. Jedoch lägen eindeutig keine Daten vor, die einen
Behandlungserfolg dokumentieren. Anspruch auf Versorgung mit dem Medikament
NovoSeven ergebe sich auch nicht aus den Grundsätzen des Beschlusses des
Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 06.12.2005 -1 BvR 347/98-. Das Gardner-
Diamond-Syndrom könne trotz seiner schweren Ausprägung nicht mit einer
lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlich verlaufenden Erkrankung auf eine Stufe
gestellt werden. Zudem sei diese Therapieform in der Wissenschaft nicht anerkannt, es
gäbe keine Hinweise über gefährliche Nebenwirkungen. Die Behandlungszahlen der
Ärztin (zwei Fälle von deutschlandweit bekannten 54) sprächen nicht für eine
wissenschaftliche Befürwortung. Der leitende Wissenschaftler der Herstellerfirma N habe
bestätigt, dass bislang kein publizierter Fall hinsichtlich der Behandlung mit NovoSeven
beim Gardner-Diamond-Syndrom vorliege.
Mit der Klage vom 08. Dezember 2006 hat die Klägerin ihr Begehren, die Verurteilung
der Beklagten zur Finanzierung des Arzneimittels NovoSeven für die Durchführung der
Gerinnungstherapie, soweit die behandelnde Ärztin dies verordne, weiter verfolgt.
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Die Beklagte hat u.a. eingewandt, auch mit der Einnahme des Medikaments hätten die
häufigen stationären Aufenthalte der Klägerin nicht verhindert werden können, was den
Schluss zulasse, dass mit der Therapie eine Besserung des Zustandes nicht zu
erreichen sei. Es würden keine Daten auch über einen annehmbaren Behandlungserfolg
vorliegen, es handele sich nur um einen Therapieversuch.
Die Beklagte hat eine Stellungnahme des MDK Baden-Württemberg vom 19. Januar
2007 zum Off-Label-Einsatz von rekombinantem F VIIa (NovoSeven) vorgelegt. Dessen
Anwendung finde bisher offensichtlich über 90% im Off-Label-Use statt. Es seien vier
Indikationsgebiete bekannt, u.a. bei der Herzchirurgie und Stammzelltransplantation. In
Auswertung der veröffentlichten Studien müsse dem Off-Label-Gebrauch von Faktor VIIa
mit ausgesprochener Zurückhaltung begegnet werden. Die Studienergebnisse seien
uneinheitlich, eine Häufung von signifikanten Verbesserungen sei nicht zu verzeichnen.
Eine prophylaktische Verwendung bei selektiven Operationen werde nicht empfohlen,
Faktor VIIa solle nur als zusätzliche Therapie eingesetzt werden, wenn bei bedrohlichen
Blutungen andere Therapien fehlgeschlagen seien.
Das Sozialgericht hat Beweis erhoben durch Einholung eines neurologisch-
psychiatrischen Gutachtens von Prof. Dr. T vom 26. Juli 2007. Die Klägerin leide u.a. am
Gardner-Diamond-Syndrom, einer sehr seltenen Krankheit, welche mit immer wieder
spontan auftretenden schweren, stark schmerzhaften Hauteinblutungen einhergehe.
Begleitet würden diese Gesundheitsstörungen von häufiger Übelkeit und Erbrechen,
Bauchbeschwerden, Kopfschmerzen und allgemeinen Schmerzen. Auch seien
Schleimhauteinblutungen, stärkere Nachblutungen nach chirurgischen Eingriffen und
einmalig eine vorübergehende Hirndurchblutungsstörung mit Halbseitenlähmung rechts
im Juni 2004 aufgetreten. Daneben lägen depressive Verstimmungen und allgemeine
Belastungsminderungen vor. Die Ursache dieser Erkrankung sei bisher nicht eindeutig
geklärt. Der Zustand gehe mit erheblichen, sehr unangenehmen Beschwerden einher,
die auch unter dauerhafter Opiatmedikation und anderen, aber nur symptomatisch
wirkenden Medikamenten sowie Psychotherapie nur teilweise gelindert werden könnten.
Damit sei die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigt. Es sei nach den
bisherigen Veröffentlichungen auch mit Einblutungen in innere Organe, so auch in das
Gehirn zu rechnen. Dabei handle es sich um jeweils lebensbedrohliche Zustände, die
akut aufträten, aber nicht vorausgesagt werden könnten. Außer NovoSeven seien echte
Handlungsalternativen nicht vorhanden. Die bisher angewandten, rein symptomatisch
wirkenden Medikamente hätten durchaus Nebenwirkungen. Auf seine Rückfrage habe
der Hersteller im Juli 2007 angegeben, eine Zulassung von NovoSeven für die Indikation
des Gardner-Diamond-Syndroms sei nicht beabsichtigt. Es gebe rein zahlenmäßig zu
wenige Fälle, für eine aussichtsreiche Studie. Man habe schon bei der weit häufigeren
Thrombasthenie Glanzmann bei der Zulassung große Schwierigkeiten gehabt. Es lägen
zwar eine Reihe von Fallbeschreibungen zum Gardner-Diamond-Syndrom vor, eine
Studie zur Behandlung gebe es jedoch nicht. Die Verursachung durch eine
Thrombozytopathie sei erst seit wenigen Jahren bekannt und noch wenig untersucht.
Zuverlässige, wissenschaftlich überprüfbare Erkenntnisse über die Qualität und
Wirksamkeit in der neuen Indikationsform lägen nicht vor. Es seien lediglich einzelne
Mitteilungen über den Einsatz vorhanden, die eine positive Wirksamkeit erwarten ließen.
Bei der Seltenheit der Erkrankung sei ein einschlägiger Konsens in Fachkreisen auch
kaum zu erwarten. Außerdem handele es sich bei dieser Indikation um relatives
Neuland, da die Thrombogenese der Erkrankung erst in jüngerer Zeit überhaupt
entdeckt worden sei. Zusätzlich zu erwähnen sei, dass ein Probeeinsatz des
Medikaments der Klägerin gut geholfen habe.
Mit Beschluss vom 19. November 2007 hat das Landessozialgericht Berlin-Brandenburg
im Verfahren L 24 B 588/07 KR ER einstweilig die Beklagte verpflichtet, längstens für vier
Monate auf ärztliche Verordnung die Klägerin mit NovoSeven zur Durchführung einer
Gerinnungstherapie als Sachleistung versorgen, sofern diese Sicherheit in Höhe von
5500 Euro leistet. Auf die Gründe des Beschlusses wird Bezug genommen.
Das Sozialgericht hat den Sachverständigen Prof. Dr. T in der mündlichen Verhandlung
am 07. Dezember 2007 gehört. Er hat unter anderem ausgeführt: NovoSeven sei beim
Gardner-Diamond-Syndrom angewandt worden aufgrund der Erfahrungen mit der
Behandlung ähnlicher Erkrankungen. Aus der Behandlung bei einem angeborenen
Faktor-VII-Mangel bei kleinen Kindern wisse man, dass die Nebenwirkungsrate relativ
gering sei. Man wende NovoSeven bei verstärkten Blutungen nach und bei Operationen,
bei stärkeren Menstruationsblutungen u.ä. an. Es gebe eine einzige Aussage zur Wirkung
bei der Klägerin, nämlich dass es ihr über drei Monate gegeben worden sei und sie hier
weniger Blutungen gehabt habe. Eine subjektive Angabe, die durchaus glaubwürdig, aber
schwer zu objektivieren sei. Alle anderen Versuche seien oft aus Kostengründen nicht
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schwer zu objektivieren sei. Alle anderen Versuche seien oft aus Kostengründen nicht
fortgeführt worden. Aufgrund der Seltenheit der Erkrankung gebe es keine Erfahrungen
zur Therapie. Die Grundlage der Erkrankung sei eine Einblutung in die Haut, in die
Gelenke - nicht im Sinne eines Gefäßrisses, sondern sie gehe einher mit der langsamen
Zersetzung der roten Blutkörperchen in einem langsamen Prozess. Es fänden sich
entzündliche Prozesse, Antikörperreaktionen, die dafür sprächen, dass es keine
psychosomatische Erkrankung sei. Die Erkrankung betreffe fast ausschließlich junge
Frauen und gehe einher mit einer reaktiven depressiven Reaktion. Den
Wirkmechanismus des Medikaments kenne man bei dieser Erkrankung nicht. Bei einem
Faktor-VII-Mangel ersetze man die fehlende Substanz, beim Gardner-Diamond-Syndrom
sei nicht nur der Faktor VII gestört, man versuche mit dem Medikament wenigstens
diesen Faktor zu beeinflussen. Es gebe auch keine Nachweise für eine Wirkung des
Medikaments. Die behandelnde Ärztin stütze sich auf die Wirksamkeit in den beiden
Fällen, die sie beobachtet habe und die Wirksamkeit bei ähnlichen Störungen. Sie habe
beobachtet, dass bei kurzfristiger Einnahme ein Rückgang eintrete. Es gebe einige
Veröffentlichungen, die darüber berichteten, dass das Medikament kurzzeitig angewandt
und dass Verbesserungen beobachtet worden seien. Daneben gebe es ältere
Veröffentlichungen, die noch von einer psychosomatischen Verursachung ausgingen. In
den Unterlagen habe er eine Auflistung gefunden, die etwa 20 Berichte über diese
Erkrankung angebe. Der Bericht des MDK aus Baden-Württemberg verneine die
Wirksamkeit des Medikaments nicht, meine nur nachvollziehbar, dass es keinen
Nachweis gebe, was ja etwas anderes sei.
Mit Urteil vom 07. Dezember 2007, den Bevollmächtigten der Klägerin zugestellt am 18.
Dezember 2007, hat das Sozialgericht Frankfurt/Oder die Klage abgewiesen. Die
Voraussetzungen für die Gewährung des begehrten Arzneimittels als Sachleistung der
gesetzlichen Krankenversicherung seien nicht erfüllt, auch nicht für eine ausnahmsweise
Gewährung im Rahmen eines Off-Label-Use unter den Bedingungen eines
Seltenheitsfalles (bei singulärer Erkrankung). Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme
sei jedenfalls nicht davon auszugehen, dass aufgrund der Datenlage die begründete
Aussicht bestehe, dass mit dem betreffenden Präparat ein Behandlungserfolg erzielt
werden könne. Es gebe kein wissenschaftlich-theoretisches Erklärungsmuster für dessen
Wirksamkeit. Man kenne seinen Wirkungsmechanismus (zumindest) bei dieser
Erkrankung nicht. Es gebe auch keinen Nachweis für die Wirkung. Insoweit komme es
tatsächlich auf die Erfahrungen der behandelnden Ärztin an und ob sich diese Annahme
eines Behandlungserfolgs durch andere Ärzte in ähnlicher Weise wiederholen lasse.
Soweit sich die behandelnde Ärztin auf die von der Klägerin angegebene Besserung bei
kurzzeitiger Verabreichung stütze, könne weder hieraus noch aus den vorliegenden
Berichten ein Nachweis über die Wirksamkeit im wissenschaftlichen Sinne gesehen
werden. Erfahrungen anderer Ärzte, die einen Behandlungserfolg bei einem Gardner-
Diamond-Syndrom bestätigen würden, habe der Sachverständige nicht zu finden
vermocht. Auch nach Maßgabe des Urteils des BVerfG vom 06. Dezember 2005 könne
die Klägerin mit ihrem Begehren nicht durchdringen. Die Beweisaufnahme habe zwar
ergeben, dass bei der Klägerin eine vorübergehende Hirndurchblutungsstörung mit
Halbseitensymptomatik und damit eine sehr ernste Komplikation, welche durchaus auch
lebensgefährlich verlaufen könne, jedenfalls nicht ausgeschlossen werden könne.
Andererseits habe der Sachverständige ausgeführt, dass es sich nach den relativ
wenigen Literaturangaben wohl um eine nicht regelmäßig lebensbedrohliche bzw. zum
Tode führende Erkrankung handele.
Die Berufung der Klägerin ist am 18. Januar 2008 beim Landessozialgericht Berlin-
Brandenburg eingegangen. Ihre Bevollmächtigten machen u.a. geltend, nachdem die
Klägerin von September 2006 bis Februar 2007 mit NovoSeven behandelt worden sei,
habe es nicht mehr so große, sondern nur noch winzig kleine, vereinzelte und nicht mehr
so schmerzhafte Einblutungen gegeben. Die Klägerin habe sich insgesamt wohler gefühlt
und im Gesamtzustand sei eine Besserung zu verzeichnen gewesen. Es werde gerügt,
dass das Sozialgericht weder Befundberichte eingeholt noch die Behandlerin befragt
habe. Allein die auf die Aussage der Klägerin gestützte Nutzen-Risiko-Abwägung des
Sachverständigen sei nicht ausreichend. Die krankheitsbedingten Beeinträchtigungen
der Klägerin in ihrer Lebensqualität seien notstandsähnlich.
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt/Oder vom 07. Dezember 2007 aufzuheben
und die Beklagte unter Abänderung der Bescheide vom 24. Juli 2006 und 01. September
2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30. November 2006 zu
verurteilen, sie für 12 Monate mit dem Arzneimittel NovoSeven für die Durchführung der
Gerinnungstherapie zu versorgen, soweit dies ärztlich verordnet wird,
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ferner
die Entscheidung des Landessozialgerichts vom 19. November 2007 insoweit als
die Klägerin danach mit NovoSeven zu versorgen war für endgültig zu erklären.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie wendet ein, der Nachweis für die Wirksamkeit des strittigen Medikaments beim
Gardner-Diamond-Syndrom habe auch nach den Erfahrungen anderer Ärzte nicht
geführt werden können. Eine - wie vom BSG verlangte - notstandsähnliche Situation sei
bei allem Verständnis für die Lage der Klägerin nicht gegeben.
Die Firma N hat auf Anfrage des Gerichts mitgeteilt, dass weder ein Antrag auf
Zulassung des Medikaments gestellt, noch ihr Fälle der Anwendung von NovoSeven
beim Gardner-Diamond-Syndrom bekannt seien.
Dr. N hat auf Befragen zur aktuellen Behandlung der Klägerin angegeben, sie behandele
aktuell die schweren Schübe mit einer Infusion von 2,4 mg NovoSeven Infusionen über 8
Stunden plus intravenöse Gabe eines Medikaments gegen das Erbrechen. Wegen des
schlechten Allgemeinzustands sei die stationäre Infusionstherapie über 24 Stunden
indiziert gewesen, heute (29. September 2008) sei die Einweisung erfolgt. Die Ärztin hat
die Patientenakte übersandt.
Auf ergänzende Befragung durch das Gericht hat Dr. N mitgeteilt, ihr seien in
Deutschland aktuell zwei Kollegen bekannt, die je einen Patienten mit Gardner-Diamond-
Syndrom behandelten. Da es sich um ein heterogenes Krankheitsbild handele und in
diesen Fällen die Blutungen nicht im Vordergrund stünden, seien ihr keine weiteren
Patienten mit so schweren Blutungen bekannt, dass sie mit NovoSeven behandelt
werden müssten. Bei der Klägerin, bei der eine so genannte
Thrombozytenfunktionsstörung ursächlich für die massiven Blutungen zu sein scheine,
sei der Einsatz in Akutsituationen bisher sehr erfolgreich gewesen, die
Hämatomneubildung habe gestoppt, die Rückbildung der bestehenden Blutungen
beschleunigt und die schweren Schmerzzustände hätten sichtbar gelindert werden
können. Dies sei durch kein anderes Behandlungsmodell in der Vergangenheit zu
beobachten gewesen. Der Behandlungserfolg sei erklärlich, da das Medikament für die
Behandlung von angeborenen Thrombozytenfunktionsstörungen zugelassen sei. Da es
nur sehr wenige diagnostizierte Patienten gebe und die Symptomatik bei jedem
Patienten auch zeitlich variiere, gebe es keine Studien über Diagnostik oder Behandlung.
Diese werde es auch auf absehbare Zeit nicht geben. Die Behandlung sei daher immer
experimentell und schwierig.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakte und die Verwaltungsvorgänge
der Beklagten verwiesen.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Berufung ist begründet. Die Klägerin hat Anspruch auf die von ihr begehrte
Versorgung mit NovoSeven durch die Beklagte im Off-Label-Use nach entsprechender
ärztlicher Verordnung. Das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt/Oder vom 07. Dezember
2007 ist aufzuheben, ebenso wie der angefochtene Versagungsbescheid der Beklagten
vom 24. Juli 2006 und 01. September 2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides
vom 30. November 2006, der die Klägerin in ihren Rechten verletzt.
Gemäß § 31 Abs. 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (SGB V) haben Versicherte
Anspruch auf Versorgung mit apothekenpflichtigen Arzneimitteln. Arzneimittel sind
jedoch nicht von der Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung umfasst,
wenn die nach Art. 21 Abs. 1 Arzneimittelgesetz erforderliche arzneimittelrechtliche
Zulassung fehlt. NovoSeven ist ein zulassungspflichtiges Arzneimittel, das für das hier
allein in Betracht kommende Indikationsgebiet des Gardner-Diamond-Syndroms weder
in Deutschland noch sonst im Gebiet der Europäischen Union zugelassen ist.
Es liegt hier indes ein Ausnahmefall vor, in dem sich der Sachleistungsanspruch der
Klägerin sowohl nach den allgemeinen Grundsätzen als auch aufgrund
verfassungsrechtlicher Vorgaben auf NovoSeven als Fertigarzneimittel im Bereich des
Off-Label-Use erstreckt.
Nach der Rechtsprechung des BSG (Urteil vom 26.09.2006 -B 1 KR 14/06 R-, SozR 4-
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Nach der Rechtsprechung des BSG (Urteil vom 26.09.2006 -B 1 KR 14/06 R-, SozR 4-
2500 § 31 Nr. 6) kommt ein Off-Label-Use in Seltenheitsfällen in Betracht, die sich einer
systematischen Erforschung entziehen. Im Übrigen kommt die Verordnung in einem von
der Zulassung nicht erfassten Anwendungsgebiet grundsätzlich nur in Betracht, wenn es
1. um die Behandlung einer schwerwiegenden (lebensbedrohlichen oder die
Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigenden) Erkrankung geht, wenn
2. keine andere Therapie verfügbar ist und wenn
3. aufgrund der Datenlage die begründete Aussicht besteht, dass mit dem betreffenden
Präparat ein Behandlungserfolg (kurativ oder palliativ) erzielt werden kann.
Ein Seltenheitsfall liegt vor, wenn der Versicherte an einer sehr seltenen und deshalb
einer systematischen Erforschung von darauf bezogenen Therapiemöglichkeiten nicht
zugänglichen Erkrankung leidet, für die keine anderen Therapiemöglichkeiten zur
Verfügung stehen. Ein solcher singulärer Krankheitsfall unterfällt von vornherein nicht als
Behandlungsmethode dem krankenversicherungsrechtlichen Erlaubnisvorbehalt in § 135
Abs. 1 Satz 1 SGB V, denn es kann wissenschaftlich fundierte Aussagen hierzu per se
nicht geben. Ist die Krankheit einzigartig, ist allein deshalb hinreichend gewährleistet,
dass auch der Einsatz des Medikaments ein Einzelfall bleibt (so das BSG, Urteil vom
19.10.2004 –B 1 KR 27/02 R-, SozR 4-2500, § 27 Nr. 1 = BSGE 93, 236; vgl. auch BSG
Urteil vom 28.02.2008 –B 1 KR 15/07 R-, SozR 4-2500 § 13 Nr 16).
Nach dem Ergebnis der Sachaufklärung steht zur Überzeugung des Senats fest, dass es
sich bei der Erkrankung der Klägerin um einen Seltenheitsfall handelt. Keiner
abschließenden Klärung bedarf es hier, ab welchen Fallzahlen eine Krankheit als
Seltenfall einzuordnen ist. Im SGB V findet sich eine entsprechende Begriffsdefinition
nicht. Das BSG hat in den von ihm entschiedenen Fällen eine zahlenmäßige Begrenzung
nicht vorgenommen. Abgestellt werden könnte insoweit zum Beispiel auf Art. 3 Abs. 1a
der Verordnung (EG) Nr. 141/2000 des Europäischen Parlaments und des Rates vom
16.12.1999 über Arzneimittel für seltene Leiden (ABl. L 18 vom 22.01.2000, S. 1ff.),
wonach ein seltenes Leiden i.S. der VO vorliegt, wenn nicht mehr als fünf von 10.000
Personen davon betroffen sind.
Gemessen hieran handelt es sich beim Gardner-Diamond-Syndrom, von dem weltweit
nur ca. 120 Fälle, deutschlandweit ca. 50 Fälle bekannt bzw. beschrieben sind, um eine
äußerst seltene Erkrankung. Erst recht muss ein Singularitätsfall im Sinne der
Rechtsprechung des BSG zum Off-Label-Use angenommen werden, wenn es sich -wie
beim Gardner-Diamond-Syndrom- um ein heterogenes bzw. „schillerndes“ (so der MDK)
Krankheitsbild handelt; d.h. wenn die Betroffenen infolge der Grunderkrankung
unterschiedliche Krankheitsbilder bzw. Symptome aufweisen. Nach den Angaben der
behandelnden Ärztin Dr. N treten weder bei den beiden von ihr im Kompetenzzentrum in
F behandelten Fällen noch bei den sonstigen in der Literatur beschriebenen Fällen derart
massive Einblutungen wie bei der Klägerin auf, als dass eine therapeutische
Beeinflussung mit einem Faktor VII-Präparat angezeigt erscheine.
Über die Seltenheit der Erkrankung besteht im Übrigen zwischen der Behandlerin, dem
MDK und dem medizinischen Sachverständigen im Klageverfahren Prof. Dr. T
Übereinstimmung. Hinzu kommt, dass die somatische Verursachung des Gardner-
Diamond-Syndroms erst seit wenigen Jahren bekannt ist. Es finden sich hierüber in
Fachkreisen nur wenige Veröffentlichungen. Auch dem MDK und selbst der
Herstellerfirma sind keine weiteren, als die hier auszuwertenden Veröffentlichungen
bekannt. Insoweit ist die Erkrankung der Klägerin auch als praktisch unerforschbar (im
Sinne der unter 3. aufgeführten Anforderungen der vorstehend zitierten
Rechtssprechung des BSG an die nach Datenlage begründete Aussicht eines
Behandlungserfolges) anzusehen.
Der Senat hält es auch für erwiesen, dass keine anderen Therapieformen im Falle der
Klägerin möglich sind. Die Einwände der Beklagten im Verwaltungsverfahren, die Klägerin
stehe einer psychotherapeutischen Mitbehandlung wenig aufgeschlossen gegenüber, ist
im Hinblick darauf, dass die Erkrankung - entgegen früherer Annahmen in Fachkreisen -
somatisch verursacht ist, unerheblich. Insoweit ist auch zwischen den Beteiligten
nunmehr zutreffend unstreitig, dass die Klägerin als „austherapiert“ anzusehen ist und
keine alternativen Behandlungen zur Verfügung stehen. Entscheidend kommt es mithin
im vorliegenden Fall darauf an, ob eine medizinisch begründete Aussicht besteht, einen
Behandlungserfolg mit NovoSeven zu erzielen oder ob – wie die Beklagte meint - derzeit
eine Behandlung unmöglich ist.
Bei einem Seltenheitsfall können die vom BSG entwickelten Kriterien für eine hinreichend
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Bei einem Seltenheitsfall können die vom BSG entwickelten Kriterien für eine hinreichend
begründete Aussicht auf einen Behandlungserfolg (vgl. BSG Urteil vom 29.06.2006 -B 1
KR 14/06 R-, SozR 4-2500 § 31 Nr. 6 unter Bezugnahme auf BSGE 89, 184, 192 = SozR
3-2500 § 31 Nr. 8: Es müssen Forschungsergebnisse vorliegen, die erwarten lassen,
„dass das Arzneimittel für die betreffende Indikation zugelassen werden kann. Dies kann
angenommen werden, wenn entweder (a) die Erweiterung der Zulassung bereits
beantragt worden ist und Ergebnisse einer kontrollierten klinischen Prüfung der Phase III
(gegenüber Standard oder Placebo) veröffentlicht worden sind und eine klinisch
relevante Wirksamkeit respektive einen klinisch relevanten Nutzen bei vertretbaren
Risiken belegen oder (b) außerhalb eines Zulassungsverfahrens gewonnene
Erkenntnisse veröffentlicht worden sind, die über Qualität und Wirksamkeit des
Arzneimittels in dem neuen Anwendungsgebiet zuverlässige, wissenschaftlich
nachprüfbare Aussagen zulassen und aufgrund derer in den einschlägigen Fachkreisen
Konsens über einen voraussichtlichen Nutzen in dem vorgenannten Sinne besteht“.)
nicht erfüllt werden. Hierfür besteht auch kein Bedarf. Ist die Erkrankung einzigartig, ist
hinreichend gewährleistet, dass auch der Einsatz des Medikaments ein Einzelfall bleibt
und die Einbeziehung in die krankenversicherungsrechtliche Leistungspflicht nicht zu
einer arzneimittelrechtlichen Zulassung „durch die Hintertür“ führt (so auch BSG Urteil
vom 19.10.2004, B 1 KR 27/02 R). Der Anspruchs auf Versorgung setzt demnach nur
voraus, dass die Einhaltung eines Mindestmaßes an Arzneimittel- und
Behandlungsqualität gewährleistet ist, in der Weise, dass zuverlässige pharmakologisch-
toxische Daten und aussagekräftige Studien die Unbedenklichkeit und Wirksamkeit des
Mittels zumindest für andere Krankheiten belegen, sowie dass eine notstandsähnliche
Situation vorliegt, in der Weise, dass eine schwer wiegende (lebensbedrohliche oder die
Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigende) Erkrankung zu behandeln ist.
Diese Voraussetzungen sind hier erfüllt. NovoSeven ist in Deutschland für andere
Thrombozytenfunktionsstörungen zugelassen und im Rahmen der von der Zulassung
erfassten Anwendung auch bei kleinen Kindern relativ nebenwirkungsfrei. Zudem liegen
bereits Erfahrungen im Off-Label-Use bei verschiedenen Indikationsgebieten vor.
Im Falle der Klägerin besteht auch eine notstandsähnliche Situation. Zwar ist die
Erkrankung der Klägerin nicht unmittelbar und zwingend tödlich verlaufend. Das BSG
lässt insoweit aber auch ausreichen, dass eine - nach Schwere und dem Ausmaß der
aus ihr folgenden Beeinträchtigungen - vergleichbare Erkrankung vorliegt (Urteil vom 04.
04.2006 -B 1 KR 12/04 R-, SozR 4-2500 § 27 Nr 7 = BSGE 96, 153; zuletzt Urteil vom
30.06.2009 -B 1 KR 5/09 R- Juris).
Im Hinblick auf die von Prof. Dr. T gutachterlich bestätigten Auswirkungen der Erkrankung
im Falle der Klägerin handelt es sich - auch das ist zwischen den Beteiligten zutreffend
unstreitig - um eine schwerwiegende, jedenfalls die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig
beeinträchtigende Erkrankung. Ob die Erkrankung in ihrer Ausprägung bei der Klägerin
lebensbedrohlich ist, kann nicht sicher ausgeschlossen werden. Nach den Feststellungen
Prof. Dr. T ist es nicht auszuschließen, dass eine lebensbedrohliche Situation eintreten
könnte, wenn erneut Einblutungen in ein lebenswichtiges Organ bzw. in das Gehirn
erfolgen. Die Einblutungen als solche sind nicht vorhersehbar, sie treten häufig auf und
können daher jederzeit auch lebenswichtige Organe betreffen. Darüber hinaus sind auch
die in den letzten Jahren nahezu durchgängig auftretenden schweren Schmerzzustände
der Klägerin sowie die weiteren Gesundheitsstörungen wie Kopfschmerzen und
Erbrechen zu berücksichtigen. Dies und die latente Gefährdung auch des Lebens
bedingen eine wertungsmäßige Gleichstellung mit einer lebensbedrohlichen Erkrankung.
Anders als in dem vom BSG (Urteil vom 04.06.2006, a.a.O) entschiedenen Fall besteht
bei der Klägerin keine Möglichkeit, den Krankheitserscheinungen auf andere Weise
wirksam entgegenzuwirken. Diese sind hinsichtlich Schwere- und Gefährdungsgrad im
Übrigen auch nicht mit den vom BSG bislang abschlägig beschiedenen Erkrankungen
vergleichbar (siehe hierzu den Überblick im Urteil vom 05.05.2009 -B 1 KR 15/08 R-,
Juris).
Vorliegend besteht auch eine hinreichende Sicherheit dafür, dass unter Medikation mit
NovoSeven ein Behandlungserfolg eintreten kann. Zwar ist der Beklagten darin
zuzustimmen, dass es sich vorliegend bei der ambulanten Langzeitgabe um einen
Therapieversuch handelt. Dies ist im Rahmen einer singulären Erkrankung aber gerade
kein Ausschlussmerkmal. Andernfalls wäre die Behandlung einer derart seltenen
Krankheit zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung generell ausgeschlossen.
Sind keine anderen Fälle bekannt, bei denen das Gardner-Diamond-Syndrom zu derart
schwerwiegenden Einblutungen wie bei der Klägerin führt, können naturgemäß durch
andere Ärzte Behandlungserfolge sich nicht wiederholen lassen. Auch eine Bestätigung
eines Behandlungserfolges mittels Sachverständigenbeweis ist unmöglich. Es ist hier
stattdessen zu untersuchen, welche wissenschaftlichen Erkenntnisse die Annahme
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stattdessen zu untersuchen, welche wissenschaftlichen Erkenntnisse die Annahme
rechtfertigen, dass der voraussichtliche Nutzen die Risiken überwiegen werde (hierzu
BSG Urteil vom 19.10.2004, a.a.O.).
Letztlich sind unter Abwägung sämtlicher hier bekannter Umstände des Einzelfalles die
Erfolgschancen als den Risiken überwiegend einzuschätzen. Der Senat stützt sich dabei
auf die vom Sachverständigen im Klageverfahren unter Auswertung der in der
Fachliteratur veröffentlichten Materialien und die von ihm auf Schlüssigkeit auch unter
medizinisch-ärztlichen Aspekten gewerteten Angaben der Behandlerin.
Dr. N ist Hämostaseologin und Fachärztin für Kinder- und Jugendmedizin. Ihr
Therapiekonzept erarbeitete sie in Absprache mit Fachkollegen (der C). An der
fachlichen Kompetenz der Behandlerin und an der Schlüssigkeit des Therapieansatzes
hat der Senat unter Würdigung der gutachterlichen Feststellungen Prof. Dr. T keine
durchgreifenden Zweifel. Zwar ist der Wirkmechanismus von NovoSeven beim Gardner-
Diamond-Syndrom nicht bekannt, es ist aber zugelassen zur Therapie hinsichtlich einer
der zugrunde liegenden Störungen: Es ersetzt die fehlende Substanz beim Faktor-VII-
Mangel. Beim Gardner-Diamond-Syndrom, bei dem nicht nur, aber offenbar auch der
Faktor VII gestört ist, soll es diesen Faktor beeinflussen. Der Therapieansatz erscheint
insoweit wissenschaftlich begründet. Zudem stützt sich die Behandlerin auf die
Wirksamkeit in anderen Fällen mit ähnlichen Störungen und ihre eigenen
Beobachtungen. Bei kurzfristiger Einnahme hat sie bei der Klägerin einen Rückgang der
Symptome beobachten können: Die Hämatomneubildung wurde gestoppt, die
Rückbildung der bestehenden Blutungen beschleunigt und die schweren
Schmerzzustände sichtbar gelindert. Die von der Klägerin beschriebene Besserung unter
Medikation hat sie gegenüber dem Gericht im Berufungsverfahren bestätigt. Auch Prof.
Dr. T hat die Besserung als zwar gutachterlich für nicht objektivierbar, aber glaubwürdig
angesehen.
Letztlich hält auch der MDK Baden-Württemberg einen Off-Label-Use von NovoSeven in
Fällen, bei denen bedrohliche Blutungen auftreten, für angezeigt. Da im Falle der
Klägerin nicht vorhersehbar ist, wann und in welches Organ bzw. welchen Körperteil die
Einblutungen erfolgen, besteht jederzeit die latente Gefahr, dass sich eine Einblutung
auch in das Gehirn mit (lebens-) bedrohlichen Folgen wiederholen kann. Andere
therapeutische Möglichkeiten, die Blutungen zu beeinflussen, sind nicht bekannt.
Gewichtige Argumente gegen die Verträglichkeit und Wirksamkeit des Medikaments hat
auch der Sachverständige nicht aufgezeigt. Die Klägerin hat in der Vergangenheit
bereits wiederholt kurzzeitige Anwendungen des Medikaments erfahren, die ihr jedenfalls
nicht geschadet haben. Das Medikament kommt bei der Behandlung kleiner Kinder mit
angeborenem Faktor VII-Mangel relativ nebenwirkungsfrei zur Anwendung. Die Klägerin
ist volljährig und wie sich aus ihrem Vorbringen im Verfahren zeigt, auch mit der
Behandlung einverstanden. Zusätzliche Gesundheitsrisiken auch nach gutachterlicher
Einschätzung sind nicht unmittelbar zu befürchten. Einem verbleibenden Restrisiko steht
entgegen, dass auch bei den (sonst jedenfalls) erforderlichen Behandlungen mit rein
symptomatisch wirkenden Medikamenten, Nebenwirkungen auftreten. Besonders
schwerwiegende Auswirkungen hat die hier bereits langjährig erforderliche, vermutlich
dauerhafte Schmerzbehandlung mit Opiaten.
Auch unter verfassungsrechtlichen Aspekten ist vorliegend der Off-Label-Use von
NovoSeven zuzulassen. Das BVerfG hat mit Beschluss vom 06.12.2005 -1 BvR 347/98-,
SozR 4-2500 § 27 Nr. 5) aus den in Art. 2 Abs. 2 Satz 1 Grundgesetz verankerten
Grundrechten auf Schutz von Leben und körperliche Unversehrtheit gefolgert, dass
insbesondere in Fällen der Behandlung einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig
tödlichen Erkrankung die maßgeblichen Vorschriften des Krankenversicherungsrechts
grundrechtsorientierend auszulegend sind. Es ist mit Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit
dem grundgesetzlichen Sozialstaatsprinzip nicht vereinbar, den Einzelnen unter den
Voraussetzungen des § 5 SGB V einer Versicherungspflicht in der gesetzlichen
Krankenversicherung zu unterwerfen und für seine an der wirtschaftlichen
Leistungsfähigkeit ausgerichteten Beiträge die notwendige Krankheitsbehandlung
gesetzlich zuzusagen, ihn andererseits aber, jedenfalls dann, wenn er an einer
lebensbedrohlichen oder sogar regelmäßig tödlichen Erkrankung leidet, für die
schulmedizinische Behandlungsmethoden nicht vorliegen, von der Leistung einer
bestimmten Behandlungsmethode durch die Krankenkasse auszuschließen und ihn auf
eine Finanzierung der Behandlung außerhalb der gesetzlichen Krankenversicherung zu
verweisen. Dabei muss allerdings die vom Versicherten gewählte andere
Behandlungsmethode eine auf Indizien gestützte, nicht ganz fern liegende Aussicht auf
Heilung oder wenigstens auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf
versprechen.
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Daran anschließend hat das BSG im Falle notstandsähnlicher Situationen, d.h. bei
Behandlung einer schwerwiegenden (lebensbedrohlichen oder die Lebensqualität auf
Dauer nachhaltig beeinträchtigenden) Erkrankung, für die keine andere
Behandlungsmöglichkeit zur Verfügung steht, einen Off-Label-Use bejaht (BSG Urteil
vom 26.09.2006 -B 1 KR 14/06 R-, a.a.O.). Vorliegend sind auch diese Voraussetzungen
als erfüllt anzusehen, denn wie bereits ausgeführt, ist die Erkrankung der Klägerin als
eine die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigende Erkrankung anzusehen.
Da die Klägerin in der Hauptsache mit ihrem Begehren Erfolg hatte, stehen ihr auch die
auf der Grundlage der Eilentscheidung des Landessozialgerichts vom 19. November
2007 vorläufig erbrachten Leistungen endgültig zu.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und folgt dem Ergebnis der
Sachentscheidung.
Die Revision ist nicht zulassen, weil ein Zulassungsgrund nach § 160 Abs. 2 SGG nicht
vorliegt.
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