Urteil des LSG Berlin-Brandenburg vom 15.06.2006
LSG Berlin-Brandenburg: reisekosten, vorstellungsgespräch, arbeitsgemeinschaft, nichtigkeit, behörde, beiladung, fahrtkosten, berufsberatung, aufgabenbereich, auskunft
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Gericht:
Landessozialgericht
Berlin-Brandenburg
16. Senat
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
L 16 AL 367/06
Dokumenttyp:
Urteil
Quelle:
Normen:
§ 16 Abs 1 S 2 SGB 2, § 45 S 2
Nr 2 SGB 3, § 75 Abs 2 SGG, §
75 Abs 5 SGG
Reisekosten aus Anlass der Arbeitsvermittlung
Tenor
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 15. Juni 2006
wird zurückgewiesen.
Die Beklagte und der Beigeladene tragen die Hälfte der außergerichtlichen Kosten des
Klägers im gesamten Verfahren als Gesamtschuldner.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Der Kläger begehrt die Neubescheidung eines Antrags auf Übernahme von Reisekosten.
Der 1965 geborene Kläger ist seit 01. Juli 2003 arbeitslos. Nach dem Auslaufen des
Bezugs von Arbeitslosenhilfe zum 31. Dezember 2004 erhält er seit 01. Januar 2005 von
dem Beigeladenen Arbeitslosengeld (Alg) II.
Im Januar 2005 beantragte der Kläger bei dem Beigeladenen die Übernahme von
Reisekosten zur Vorstellung am 11. März 2005 bei dem privaten
Stellenvermittlungsdienst M P I (im Folgenden: MP) – Niederlassung F/M – und bei der E
A(AG) in R (im Folgenden: E AG), und zwar in Höhe von 242,- € (Bahnticket 2. Klasse B Z
G – F/M Hbf = 95,00 €; F/M Hbf – R Hbf = 61,00 €; R Hbf – B ZG = 86,00 €). Die MP und
die E AG bestätigten in der Folge, dass sich der Kläger am 11. März 2005 persönlich
vorgestellt und Bewerbungsunterlagen abgegeben habe (E AG) bzw. in die
Vermittlungsdatei aufgenommen worden sei (MP). Mit Bescheid vom 11. Mai 2005 in der
Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 01. November 2005 lehnte die Beklagte die
Übernahme der geltend gemachten Reisekosten ab. Reisekosten zu einem privaten
Arbeitsvermittlungsdienst könnten nicht übernommen werden. Auch die Abgabe der
Bewerbung bei der E AG in Remscheid hätte postalisch erfolgen können, zumal ein
Vorstellungsgespräch beim dortigen Arbeitgeber gar nicht stattgefunden habe. Der
Kläger habe somit keinen Anspruch auf Übernahme der Reisekosten.
Das Sozialgericht (SG) Berlin hat die zuletzt auf Verpflichtung der Beklagten zur
Neubescheidung seines Antrages auf Übernahme der Reisekosten unter Beachtung der
Rechtsauffassung des Gerichts gerichtete Klage mit Urteil vom 15. Juni 2006
abgewiesen. Zur Begründung ist ausgeführt: Die Klage sei nicht begründet. Denn die
Beklagte sei zur Erbringung der vom Kläger begehrten Leistungen nach den §§ 45 Satz 2
Nr. 2, 46 Abs. 2 Sozialgesetzbuch – Arbeitsförderung – (SGB III) nicht mehr berechtigt,
da diese gemäß § 22 Abs. 4 SGB III im Zusammenhang mit der Einführung der
Grundsicherung für Arbeitsuchende an erwerbsfähige Hilfebedürftige im Sinne des
Sozialgesetzbuches – Grundsicherung für Arbeitsuchende – (SGB II) von der Beklagten
nicht mehr erbracht werden dürften. Für derartige Leistungen seien gleichartige
Leistungen in § 16 Abs. 1 SGB II zu Lasten des Bundes vorgesehen. Über den Antrag des
Klägers hätte daher die Arbeitsgemeinschaft nach § 44b Abs. 3 SGB II entscheiden
müssen. Der Kammer sei es daher verwehrt, zu prüfen und zu entscheiden, ob die
Anspruchsvoraussetzungen für die Übernahme der Reisekosten im Zusammenhang mit
den Vorstellungsgesprächen am 11. März 2005 vorgelegen hätten.
Mit der – vom SG zugelassenen – Berufung verfolgt der Kläger sein Begehren weiter. Er
legt ergänzend eine Bestätigung der Deutschen Bahn vom 30. September 2005 vor,
wonach die gekauften Fahrscheine für die Reiseverbindungen am 11. März 2005 nicht
erstattet worden seien, ferner eine e-mail-Auskunft der MP, dass keine Bewerbungs- und
Fahrtkosten erstattet worden seien.
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Der Kläger beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 15. Juni 2006 und den Bescheid der
Beklagten vom 11. Mai 2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 01.
November 2005 aufzuheben und den Beigeladenen zu verpflichten, seinen Antrag auf
Übernahme von Reisekosten im Zusammenhang mit den Vorstellungsgesprächen am
11. März 2005 in Höhe von insgesamt 242,- € unter Beachtung der Rechtsauffassung
des Gerichts neu zu bescheiden.
Der Beigeladene beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Der Beigeladene verweist auf die Begründung in den angefochtenen Bescheiden.
Die Beklagte stellt keinen Antrag.
Auf eine im Berufungsverfahren eingeholte Auskunft der E AG vom 16. April 2007 wird
Bezug genommen.
Wegen des Vorbringens der Beteiligten im Übrigen wird auf deren vorbereitende
Schriftsätze nebst Anlagen Bezug genommen.
Die Gerichtsakte und die von der Beklagten vorgelegten Antragsunterlagen haben
vorgelegen und sind Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen.
Entscheidungsgründe
Die Berufung des Klägers, mit der er seine erstinstanzlich erhobene und statthafte
kombinierte Anfechtungs- und Verpflichtungsklage (sog. Bescheidungsklage gemäß § 54
Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz – SGG -) weiter verfolgt, ist nicht begründet.
Keinen Bedenken begegnet, dass der angefochtene Bescheid vom 11. Mai 2005 in der
Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 01. November 2005 noch von der Beklagten
und nicht von dem insoweit zuständigen Beigeladenen erlassen worden ist, dessen
Zuständigkeit aus § 44b Abs. 3 Satz 3 SGB II folgt. Insbesondere ergibt sich aus der
sachlichen Unzuständigkeit der Beklagten keine Nichtigkeit dieses Bescheides. Diese
käme nur dann in Betracht, wenn die mit dem Verwaltungsakt geregelte Angelegenheit
keinen sachlichen Bezug zum Aufgabenbereich der handelnden Behörde hat und dies
zudem offenkundig ist (vgl. hierzu BSG, Urteil vom 09. Juni 1999 – B 6 KR 76/97 R –
veröffentlicht in juris; vgl. auch für den Fall, dass die Beklagte als fachlich unzuständige
Behörde den Ausgangsbescheid erlassen hat: BSG, Urteil vom 23. November 2006 – B
11b AS 1/06 R – veröffentlicht in juris). Eine Nichtigkeit des von der Beklagten erteilten
Bescheides scheidet schon deshalb aus, weil die nur organisatorische
Wahrnehmungszuständigkeit des Beigeladenen die Rechtsträgerschaft der hinter der
Arbeitsgemeinschaft stehenden Träger, zu denen auch die Beklagte gehört (vgl. § 6 Abs.
1 SGB II), unberührt lässt. Die Verlautbarung von Entscheidungen zur Übernahme von
Reisekosten anlässlich von Fahrten zur Vermittlung bzw. zu Vorstellungsgesprächen
weist einen unmittelbaren sachlichen Bezug zum Aufgabenbereich der Beklagten aus.
Zudem bedarf es insoweit keiner erneuten Verwaltungsentscheidung des Beigeladenen,
weil dieser nach § 75 Abs. 5 SGG verurteilt werden kann, wobei eine Beiladung trotz der
Gesetzesfassung des § 75 Abs. 2 und Abs. 5 SGG in der Zeit bis 31. Juli 2006 bereits
erstinstanzlich zulässig und geboten war, weil die Vorschriften aufgrund der seit 01.
Januar 2005 insoweit vorliegenden – ungewollten – Gesetzeslücke auf die Träger der
Grundsicherung für Arbeitsuchende entsprechend anwendbar waren (vgl. BSG, Urteil
vom 07. November 2006 – B 7b AS 14/06 R – veröffentlicht in juris).
Die Beklagte hat die Übernahme der geltend gemachten Reisekosten in Höhe von 242,-
€ im Ergebnis zu Recht abgelehnt, so dass der Kläger nicht mit Erfolg die Aufhebung der
angefochtenen Bescheide und die Verpflichtung des Beigeladenen zum Erlass eines
neuen Verwaltungsaktes unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts verlangen
kann.
Es fehlt bereits an den tatbestandlichen Voraussetzungen für eine
Ermessensentscheidung hinsichtlich der begehrten Übernahme von Reisekosten nach §
45 Satz 2 Nr. 2 SGB III, die nach § 16 Abs. 1 Satz 2 SGB II auch von den Trägern der
Grundsicherung für Arbeitsuchende erbracht werden können. Danach können als
unterstützende Leistungen Kosten im Zusammenhang mit Fahrten zur Berufsberatung,
Vermittlung, Eignungsfeststellung und zu Vorstellungsgesprächen (Reisekosten)
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Vermittlung, Eignungsfeststellung und zu Vorstellungsgesprächen (Reisekosten)
übernommen werden. Welche Fahrtkosten als Reisekosten berücksichtigungsfähig sind,
regelt § 46 Abs. 2 SGB III. Nach § 47 SGB III wird die Bundesagentur ermächtigt, durch
Anordnung das Nähere über Voraussetzungen, Art, Umfang und Verfahren der
Förderung zu bestimmen. Gemäß der aufgrund dieser einfachgesetzlichen
Ermächtigung ergangenen Anordnung des Verwaltungsrats der Beklagten zur
Unterstützung der Beratung und Vermittlung (Anordnung UBV) vom 10. April 2003
(ANBA 2003, 731) können Antragstellern auch Leistungen erbracht werden, wenn
entsprechende Aufwendungen bei der Betreuung durch Dritte entstehen, die mit ihrer
Vermittlung beauftragt sind (§ 2 Anordnung UBV).
Was die Reisekosten für die Fahrt zur E AG in R am 11. März 2005 betrifft, kommt eine
Übernahme schon deshalb nicht in Betracht, weil diese Reisekosten weder erforderlich
noch von der E AG veranlasst worden waren. Auch im Rahmen der Leistungen zur
Unterstützung der Beratung und Vermittlung gemäß § 45 SGB III gilt indes, dass
derartige Leistungen nur erbracht werden können, soweit dies zur Aufnahme der
Beschäftigung notwendig bzw. erforderlich ist (vgl. zu den Mobilitätshilfen § 53 Abs. 1
SGB III; bei Maßnahmen der Eignungsfeststellung und Trainingsmaßnahmen: § 48 Abs. 1
Nr. 1 SGB III; zur Beachtung des Grundsatzes der Wirtschaftlichkeit bei der Auswahl von
Ermessensleistungen der aktiven Arbeitsförderung: § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB III ). Die E AG
hat auf Nachfrage des Senats bestätigt, dass am 11. März 2005 weder ein
Vorstellungsgespräch stattfand noch ein derartiges Gespräch mit dem Kläger vereinbart
war. Dass dies zutrifft, erhellt auch aus der vom Kläger vorgelegten schriftlichen
Bewerbung, die erst am 11. März 2005, d.h. am Tag des nach dem Vorbringen des
Klägers angeblich vereinbarten Vorstellungsgespräches, angefertigt wurde. Darin hat der
Kläger u.a. ausgeführt, dass er seine Bewerbungsunterlagen „heute“ einreiche. Dies hat
er, wie die E AG bestätigt hat, auch getan. Die Prozessbevollmächtigte des Klägers hat
im Übrigen in der mündlichen Verhandlung auch eingeräumt, dass es zu einem
Vorstellungsgespräch nicht gekommen sei. Es ist auch nichts dafür ersichtlich, dass die
Zusendung der Bewerbung bei der E AG bzw. der dazu gehörenden Unterlagen nicht
auch auf postalischem Weg bzw. per e-Mail hätte erfolgen können. Die E AG hat insoweit
auch nachvollziehbar dargelegt, dass angesichts der Vielzahl der eingehenden
Bewerbungen diese nicht durch die Mitarbeiter ihrer Personalabteilung persönlich
entgegengenommen, sondern lediglich an der Pforte abgegeben werden könnten. Nach
dem Wortlaut des § 45 Satz 2 Nr. 2 SGB III können im Übrigen Kosten (nur) im
Zusammenhang mit Fahrten zur Berufsberatung, Vermittlung, Eignungsfeststellung und
zu Vorstellungsgesprächen als Reisekosten übernommen werden. Eine Übernahme von
Reisekosten aus Anlass der Übergabe eines Bewerbungsschreibens und dazu gehöriger
Bewerbungsunterlagen ohne Vorstellungsgespräch ist nach dieser Regelung
ausgeschlossen. Weder die Entstehungsgeschichte noch Sinn und Zweck des § 45 SGB
III sprechen dafür, andere als die ausdrücklich in Satz 2 Nr. 2 genannten Kosten als
Reisekosten einzustufen (vgl. zu § 45 Satz 2 Nr. 1 SGB III: BSG, Urteil vom 02.
September 2004 – B 7 AL 62/03 R = SozR 4-4300 § 45 Nr. 1).
Ein Anspruch auf Übernahme der Reisekosten von B nach F a M anlässlich der
Vorsprache bei dem MP besteht ebenfalls nicht. Dies folgt zum einen schon daraus,
dass die Leistungen des § 45 Satz 2 Nr. 2 SGB III (nur) im Zusammenhang mit der
Vermittlung, Eignungsfeststellung bzw. einem Vorstellungsgespräch bei einem
konkreten Arbeitgeber („… soweit der Arbeitgeber gleichartige Leistungen nicht oder
voraussichtlich nicht erbringen wird“) erstattungsfähig sind. Der MP trat aber zu keiner
Zeit als potentieller Arbeitgeber auf: Es handelt sich bei dem MP vielmehr um einen
privaten Vermittlungsdienst, der geeignete Bewerber für seine Auftraggeber rekrutiert. In
derartigen Fällen regelt § 2 Anordnung UBV, dass für Bewerbungs- und Reisekosten
Antragstellern auch Leistungen erbracht werden können, wenn entsprechende
Aufwendungen bei der Betreuung durch Dritte entstehen, die mit ihrer Vermittlung
beauftragt sind. Letzteres war vorliegend jedoch ersichtlich nicht der Fall. Denn der MP
war von der Beklagten nicht mit der Vermittlung des Klägers nach Maßgabe des § 37
SGB III beauftragt. § 2 Anordnung UBV gewährleistet, dass Beitrags- bzw. Steuermittel
für Leistungen nach § 45 SGB III, die aus Anlass von Vermittlungsbemühungen Dritter
geltend gemacht werden, nur dann einzusetzen sind, wenn dieser Dritte von der
Beklagten mit der teilweisen bzw. gesamten Vermittlungstätigkeit betraut bzw. in die
Vermittlung einbezogen ist. Die Beklagte bzw. der Beigeladene haben den MP aber zu
keiner Zeit mit der Vermittlung des Klägers beauftragt.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und berücksichtigt, dass trotz der
Antragstellung des Klägers bei dem Beigeladenen sowohl der Bescheid vom 11. Mai
2005 als auch der Widerspruchsbescheid vom 01. November 2005 durch die – sachlich
unzuständige - Beklagte verlautbart worden sind. Allein dies hat aus objektiver Sicht
Anlass zur Klageerhebung gegeben, zumal seinerzeit höchstrichterlich noch nicht geklärt
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Anlass zur Klageerhebung gegeben, zumal seinerzeit höchstrichterlich noch nicht geklärt
war, dass eine Beiladung der zuständigen Arbeitsgemeinschaft auch vor der Änderung
der gesetzlichen Vorschriften in § 75 Abs. 2 und Abs. 5 SGG hätte erfolgen können und
müssen. Eine hälftige Kostentragungspflicht hat der Senat insoweit für angemessen
gehalten.
Gründe für eine Zulassung der Revision nach § 160 Abs. 2 Nrn. 1 oder 2 SGG liegen nicht
vor.
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