Urteil des LSG Berlin-Brandenburg vom 15.02.2010

LSG Berlin und Brandenburg: zusicherung, wohnfläche, umzug, grenzwert, hauptsache, erlass, erdgas, amtsblatt, angemessenheit, produkt

Landessozialgericht Berlin-Brandenburg
Beschluss vom 15.02.2010 (rechtskräftig)
Sozialgericht Berlin S 106 AS 42743/09 ER
Landessozialgericht Berlin-Brandenburg L 25 AS 35/10 B ER
Auf die Beschwerde der Antragsteller wird der Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 29. Dezember 2009
aufgehoben, soweit damit der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung abgelehnt worden ist. Der
Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, den Antragstellern eine Zusicherung zu den
Aufwendungen für die Wohnung im M Weg B, zu erteilen. Der Antragsgegner hat den Antragstellern deren notwendige
außergerichtliche Kosten des gesamten Verfahrens in vollem Umfang zu erstatten.
Gründe:
Die Beschwerde der Antragsteller gegen den Beschluss des Sozialgerichts, mit der die Antragsteller bei verständiger
Auslegung ihrer Ausführungen begehren,
den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, eine Zusicherung zu den Aufwendungen für
die Wohnung im M Weg B, zu erteilen,
ist gemäß § 172 Abs. 1, 173 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) zulässig und begründet. Der angegriffene Beschluss
des Sozialgerichts ist unzutreffend, soweit den Antragstellern die begehrte Zusicherung versagt worden ist.
Denn der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung im Sinne des Antragsbegehrens ist nach § 86 b Abs. 2
Satz 2 SGG sowohl zulässig als auch begründet. Die Antragsteller haben insoweit sowohl einen Anordnungsgrund als
auch einen Anordnungsanspruch mit der für die Vorwegnahme der Hauptsache erforderlichen hohen
Wahrscheinlichkeit glaubhaft gemacht (vgl. § 86 b Abs. 2 Satz 4 SGG in Verbindung mit §§ 920 Abs. 2, 294 der
Zivilprozessordnung - ZPO -).
Unter Beachtung des sich aus Art. 19 Abs. 4 des Grundgesetzes ergebenden Gebotes effektiven Rechtsschutzes ist
vorliegend der Erlass der begehrten einstweiligen Anordnung, mit dem im Ergebnis die Hauptsache - jedenfalls
faktisch - vorweggenommen wird, nach den Umständen des Einzelfalles ausnahmsweise deshalb gerechtfertigt, weil
den Antragstellern angesichts des drohenden Verlustes der Unterkunft mit Ablauf des 28. Februar 2010 und der damit
einhergehenden Gefahr, obdachlos zu werden, ein Zuwarten auf eine Entscheidung in der Hauptsache nicht
zuzumuten ist. Auf Anfrage des Berichterstatters vom 11. Februar 2010 hat der bisherige Vermieter des mit dem
Antragsteller zu 1) bestehenden Mietvertrages nämlich unmissverständlich erklärt, dass er nicht gewillt sei, das durch
Kündigung zum Monatsende endende Mietverhältnis über diesen Zeitpunkt hinaus fortzusetzen bzw. neu zu
begründen. Vor diesem Hintergrund und des drohenden Zeitablaufes erscheint es dem Senat auch nicht zumutbar, die
Antragsteller auf anderen freien Wohnraum in Berlin zu verweisen, der möglicherweise ohne die hier vom Vermieter
verlangte Zusicherung nach § 22 Abs. 2 Satz 1 des Sozialgesetzbuches II. Buch (SGB II) angemietet werden könnte,
um dann ggf. in einem anderen Verfahren den in § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB II verbürgten Anspruch auf Übernahme
angemessener Unterkunftskosten durchzusetzen (vgl. in diesem Sinne: Beschluss des Senats vom 31. Juli 2009 – L
25 AS 1216/09 ER -).
Erscheint vor diesem Hintergrund die Vorwegnahme der Hauptsache ausnahmsweise gerechtfertigt, haben die
Antragsteller, denen angesichts des drohenden Verlustes der gegenwärtigen Unterkunft ohne weiteres auch ein
Anordnungsgrund zur Seite steht, entgegen der Auffassung des Sozialgerichts auch einen Anordnungsanspruch auf
Erteilung der begehrten Zusicherung glaubhaft gemacht.
Nach § 22 Abs. 2 Satz 1 SGB II soll der erwerbsfähige Hilfebedürftige vor Abschluss eines Vertrages über eine neue
Unterkunft die Zusicherung des für die Leistungserbringung bisher örtlich zuständigen kommunalen Trägers zu den
Aufwendungen für die neue Unterkunft einholen. Nach Satz 2 der Vorschrift ist der kommunale Träger zur Zusicherung
nur verpflichtet, wenn der Umzug erforderlich ist und die Aufwendungen für die neue Unterkunft angemessen sind.
Diese Voraussetzungen sind vorliegend gegeben.
Der Umzug der Antragsteller ist erforderlich. Dabei kann dahinstehen, ob, wie das Sozialgericht gemeint hat, die
Erforderlichkeit zu verneinen ist, weil die gegenwärtig von den Antragstellern bewohnte Wohnung nicht zu
unzumutbaren Wohnverhältnissen führe. Die Erforderlichkeit ergibt sich vorliegend daraus, dass die Antragsteller mit
Ablauf des 28. Februar 2010 infolge der Beendigung des Mietverhältnisses mit dem Verlust ihrer Unterkunft rechnen
müssen, so dass es zur Vermeidung einer drohenden Obdachlosigkeit erforderlich ist, in eine (angemessen teure)
Wohnung umzuziehen. Anders als das Sozialgericht gemeint hat, ist es dabei unerheblich, dass das Mietverhältnis
durch Eigenkündigung des Antragstellers zu 1) beendet worden ist und die Antragsteller auf diese Weise die
Erforderlichkeit eines Umzuges selbst herbeigeführt haben. Denn maßgeblich ist allein, dass der – hier alsbald
drohende - tatsächliche Verlust der Unterkunft den Umzug erforderlich macht. Die Umstände, die zum Verlust der
Unterkunft geführt haben bzw. führen, spielen dabei keine Rolle.
Die Aufwendungen für die Unterkunft im MWeg in B erweisen sich bei Anwendung des im Verfahren auf Erlass einer
einstweiligen Anordnung gebotenen Prüfungsmaßstabs auch durchaus als angemessen im Sinne des § 22 Abs. 1
Satz 1 SGB II. Zur Bestimmung der Angemessenheit ist nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts, der der
Senat folgt, auf die so genannte Produkttheorie abzustellen. Danach ist zunächst die maßgebliche Wohnungsgröße
zu bestimmen, und zwar typisierend anhand der landesrechtlichen Ausführungsbestimmungen über die Förderung des
sozialen Wohnungsbaus. Sodann ist der Wohnungsstandard festzulegen, wobei dem Hilfebedürftigen lediglich ein
einfacher und im unteren Segment liegender Ausstattungsgrad der Wohnung zusteht. Das Produkt aus Wohnfläche
und Standard, das sich in der Wohnungsmiete niederschlägt, muss angemessen sein und es müssen auch
tatsächlich Wohnungen, die den genannten Kriterien entsprechen, auf dem Markt anzumieten sein (vgl.
Bundessozialgericht - BSG -, Urteil vom 7. November 2006 - B 7 b AS 18/06 R -). Entscheidend ist dabei im
Wesentlichen die Angemessenheit der Bruttokaltmiete, d. h. der Mietkosten ohne Heizkosten, während in einem
gesonderten Schritt zu ermitteln ist, ob die anfallenden Heizkosten als angemessen anzusehen und damit zu
übernehmen sind (vgl. BSG, Urteil vom 2. Juli 2009 - B 14 AS 36/08 R -).
Hiervon ausgehend erweist sich die Bruttokaltmiete von vorliegend 355,30 EUR (256,50 EUR Nettokaltmiete, 94,-
EUR Betriebskostenvorschuss, 4,80 EUR Antennen/Kabelanschluss) als angemessen. Insoweit gilt Folgendes: Zur
Bestimmung der Wohnungsgröße für einen 2-Personenhaushalt ist von einer Wohnfläche von jedenfalls 60 m²
auszugehen, vgl. Richtlinie für den öffentlich geförderten sozialen Wohnungsbau
(Wohnungsbauförderungsbestimmungen 1990 - WFB 1990 – vom 16. Juli 1990 (Amtsblatt 1990, 1379 ff.) in der
Fassung der Verwaltungsvorschriften zur Änderung der WFB 1990 vom 13. Dezember 1992 (VVÄndWFB 1990;
Amtsblatt 1993, S. 98 f.) - dort Ziffer 13 - und ergänzend die zur Umsetzung von § 5 Wohnungsbindungsgesetz
(WoBindG) i. V. m. § 27 Abs. 1 bis 5 des Gesetzes über die soziale Wohnraumförderung (WoFG; BGBl. I S. 2376)
erlassenen Arbeitshinweise der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung vom 15. Dezember 2004 (Mitteilung Nr.
8/2004) – dort Ziffer 8 Abs. 1 Satz 3. Zur Ermittlung der Nettokaltmiete orientiert sich der Senat am Berliner
Mietspiegel 2009 vom 3. Juni 2009, aus dem sich für Wohnungen mit einer Wohnfläche von 60 bis 90 m² in einfachen
Wohnlagen unter Einbeziehung sämtlicher unter den Ziffern 9.1 und 9.2 genannten Mittelwerte ein Gesamtmittelwert
von 4,64 EUR/m² ergibt. Hinzu kommen kalte Betriebskosten, zu deren Bestimmung grundsätzlich auf den vom
Deutschen Mieterbund für die gesamte Bundesrepublik Deutschland ermittelten Betriebskostenspiegel
zurückzugreifen ist. Danach ergeben sich für die Abrechnungsperiode 2007 (Datenerfassung 2008/2009) kalte
Betriebskosten von 1,79 EUR/m². Die Bruttokaltmiete von vorliegend 355,30 EUR für die 51,3 qm große Wohnung im
M Weg unterschreitet die nach vorstehenden Kriterien ermittelte Nettokaltmiete von 385,80 EUR für eine 60 m²-
Wohnung (60 x 6,43 EUR) ersichtlich. Die Bruttokaltmiete genügt angesichts dessen den Angemessenheitskriterien
(vgl. zur Ermittlung der Nettokaltmiete in diesem Sinne auch: LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 30. November
2009 – L 26 AS 1788/09 B ER – m. w. N.)
Gleiches gilt auch hinsichtlich der Heizkosten. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts können sich
unangemessen hohe Heizkosten insbesondere daraus ergeben, dass die tatsächlich anfallenden Heizkosten die
durchschnittlich aufgewandten Kosten aller Verbraucher für eine Wohnung der den abstrakten
Angemessenheitskriterien entsprechenden Größe signifikant überschreiten. Zur Bestimmung eines solchen
Grenzwertes ist es für den Regelfall einer mit Öl, Erdgas oder Fernwärme beheizten Wohnung möglich, die
"Kommunalen Heizspiegel", hilfsweise den "Bundesweiten Heizspiegel" heranzuziehen. Aus dem "Bundesweiten
Heizspiegel" ergeben sich Vergleichswerte für öl-, erdgas- und fernwärmebeheizte Wohnungen gestaffelt nach der von
der jeweiligen Heizungsanlage zu beheizenden Wohnfläche, die hinsichtlich des Heizungsenergieverbrauchs zwischen
vier Kategorien unterscheiden. Der maßgebliche Grenzwert ist das Produkt aus dem Wert, der bezogen auf den
jeweiligen Energieträger und die Größe der Wohnanlage die höchsten Heizkosten enthält (rechte Spalte), und dem
Wert, der sich für den Haushalt des Hilfebedürftigen als abstrakt angemessene Wohnfläche nach den
Ausführungsbestimmungen der Länder zu § 10 Abs. 1 WoFG bzw. § 5 Abs. 2 Wo-BindG ergibt. Soweit die konkret
anfallenden Heizkosten den auf dieser Datengrundlage zu ermittelnden Grenzwert überschreiten, besteht Anlass für
die Annahme, dass diese Kosten unangemessen hoch im Sinne des § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB II sind, da die gewählte
Grenze bereits unwirtschaftliches und tendenziell unökologisches Heizverhalten berücksichtigt (vgl. hierzu auch: LSG
Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 11. November 2009 - L 28 AS 1676/09 B ER -).
Hiervon ausgehend ergeben sich unter Zugrundelegung des "Bundesweiten Heizspiegels" 2009 für den - für die
Antragsteller hier unterstellten ungünstigsten - Fall einer Energieversorgung mit Erdgas bei einer Heizanlage mit einer
Gesamtgebäudefläche von mehr als 1000 m² ein Grenzwert von 14,60 EUR je m²/Jahr. Bezogen auf eine - abstrakt -
bis zu 60 m² große Wohnung erweisen sich mithin Heizkosten von jährlich maximal 876,- EUR, monatlich 73,- EUR
als zulässig. Diesen Grenzwert überschreiten die vorliegend zu leistenden Heizkosten, die sich nach der
Vorschussberechnung des Vermieters für die Wohnung im M Weg auf 72,- EUR monatlich belaufen, nicht.
Die für vorgenannte Wohnung zu zahlende Bruttowarmmiete von 427,30 EUR erscheint damit nach § 22 Abs. 1 Satz 1
SGB II angemessen. Gleiches gilt, soweit man auf die, die Gerichte nicht bindenden Ausführungsvorschriften zur
Gewährung von Leistungen gemäß § 22 SGB II und §§ 29 und 34 des XII. Buches Sozialgesetzbuch (AV-Wohnen)
vom 10. Februar 2009 abstellt, wonach für einen 2-Personenhaushalt eine Bruttowarmmiete von 444,- EUR als
Richtwert für angemessen erachtet wird.
Ob auch die Voraussetzungen für die Erteilung einer Zusicherung nach § 22 Abs. 2 a Satz 1 SGB II gegeben sind,
kann dahinstehen. Nach dieser Vorschrift werden, sofern Personen, die das 25. Lebensjahr noch nicht vollendet
haben, umziehen, Leistungen für Unterkunft und Heizung für die Zeit nach einem Umzug bis zur Vollendung des 25.
Lebensjahres nur erbracht, wenn der kommunale Träger dies vor Abschluss des Vertrages für die Unterkunft
zugesichert hat. Der Einholung einer derartigen Zusicherung hinsichtlich der 1987 geborenen, mithin derzeit 22 Jahre
alten Antragstellerin zu 2) bedarf es vorliegend nicht. Denn diese Regelung ist nur für Fälle eines erstmaligen Bezuges
einer (eigenen) Wohnung - im Regelfall durch Auszug aus der elterlichen Wohnung - anwendbar, da es Intention des
Gesetzgebers ist, die Entstehung weiterer Bedarfsgemeinschaften zu vermeiden (vgl. hierzu: Berlit in: Münder, SGB
II, 3. Auflage, 2009, § 22 Rn. 89 ff. und Lang/Link in: Eicher/Spellbrink, SGB II, 2. Auflage, 2008, § 22 Rn. 80 b und
e). Daran fehlt es hier. Denn die Antragstellerin zu 2) ist bereits zum 1. Oktober 2009 aus der elterlichen Wohnung
ausgezogen und hat durch Einzug in die Wohnung des Antragstellers zu 1) bereits eigenen Wohnraum begründet.
Demzufolge handelt es sich vorliegend um einen weiteren, dem Anwendungsbereich des § 22 Abs. 2 a Satz 1 SGB II
nicht mehr unterfallenden Umzug.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 SGG analog.
Dieser Beschluss kann nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht angefochten werden (§ 177 SGG).