Urteil des LSG Berlin-Brandenburg vom 23.10.2008
LSG Berlin-Brandenburg: aufschiebende wirkung, duldung, zukunft, verwaltungsakt, leistungsbezug, besitz, rechtsschutz, anfechtungsklage, rücknahme, link
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Gericht:
Landessozialgericht
Berlin-Brandenburg
23. Senat
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
L 23 B 26/08 AY ER
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Normen:
§ 86a Abs 1 S 1 SGG, § 86a Abs
2 SGG, § 86b Abs 1 SGG, § 2
Abs 1 AsylbLG, § 48 Abs 1 S 1
SGB 10
Einstweiliger Rechtsschutz - aufschiebende Wirkung -
Asylbewerberleistung - Dauerverwaltungsakt - keine
Ausnahmeregelung
Tenor
Auf die Beschwerde des Antragstellers wird der Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom
23. Oktober 2008 aufgehoben.
Es wird festgestellt, dass der Widerspruch des Antragstellers vom 04. September 2008
gegen den Bescheid des Antragsgegners vom 02. September 2008, in der Fassung vom
16. September 2008, aufschiebende Wirkung hat.
Der Antragsgegner hat dem Antragsteller die außergerichtlichen Kosten des
Rechtsstreits zu erstatten.
Die Beschwerde gegen die Ablehnung der Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das
sozialgerichtliche Verfahren und der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für
das Beschwerdeverfahren werden als unzulässig verworfen.
Außergerichtliche Kosten für das PKH-Beschwerdeverfahren sind nicht zu erstatten.
Gründe
I.
Der 1990 geborene, aus der russischen Föderation stammende Antragsteller erhielt
laufende Leistung nach dem Asylbewerberleistungsgesetz - AsylbLG -, zuletzt gemäß § 2
AsylbLG entsprechend dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch – SGB XII. Er war zunächst
im Besitz einer Aufenthaltsgestattung zur Durchführung eines Asylverfahrens. Am 2.
September 2008 wurde ihm mit Gültigkeit bis zum 02. März 2009 eine Duldung nach §
60a Abs. 2 Aufenthaltsgesetz - AufenthG - erteilt. Die Duldung erhält den Vermerk „Die
Personalangaben beruhen auf den eigenen Angaben des Inhabers“ sowie die
Nebenbestimmung „Erlischt bei Besitz eines zur Ausreise in den Herkunftsstaat
berechtigenden Dokumentes“.
Mit Bescheid vom 16. Juni 2008 gewährte der Antragsgegner dem Antragsteller auf
dessen Antrag vom selben Tag Leistungen nach dem AsylbLG „für dem 10.07.08“ in
Höhe von 275,69 €. Weiter heißt es in dem Bescheid: „Den Betrag für den laufenden
Monat habe ich bereits ihrer Mutter ausgezahlt. Die Beträge für die Folgemonate werde
ich jeweils monatlich im voraus an die in der Anlage aufgeführten Zahlungsempfänger
überweisen, solange sich Ihre persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse nicht
geändert haben.“ In der Folge wurde dem Antragsteller für die Monate Juli und August
2008 - wie auch bereits für Juni 2008 - laufende Hilfe zum Lebensunterhalt analog SGB
XII geleistet.
Nach Vorlage der Duldung durch den Antragsteller erließ der Antragsgegner am 02.
September 2008 einen „Bescheid über Änderung von laufenden Leistungen nach dem
Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG)“ und gewährte dem Antragsteller für den Monat
September 2008 - nur noch - Leistungen gemäß § 3 AsylbLG. Auch in den Folgemonaten
erhielt der Antragsteller jeweils Leistungen nach § 3 AsylbLG, ohne dass weitere
schriftliche Bescheide aktenkundig wären.
Gegen den Bescheid vom 02. September 2008 legte der Antragsteller am 04.
September 2008 Widerspruch ein. Mit Bescheid vom 16. September 2008 begründete
der Antragsgegner den Bescheid vom 02. September 2008 damit, dass ein weiterer
Anspruch nach § 2 Abs. 1 AsylbLG nur bestehen könne, wenn der Antragsteller die Dauer
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Anspruch nach § 2 Abs. 1 AsylbLG nur bestehen könne, wenn der Antragsteller die Dauer
seines Aufenthaltes nicht rechtsmissbräuchlich selbst beeinflusse und Bemühungen zur
Passbeschaffung schriftlich nachweise. Am 24. September 2008 reichte die
Bevollmächtigte des Antragstellers bei dem Antragsgegner zum Beleg für
Passbemühungen ihres Mandanten Kopien Ihrer Schreiben an die Ausländerbehörde
vom 17. Juni und 26. August 2008 ein.
Am 17. Oktober 2008 hat der Antragsteller unter Hinweis auf seinen am 04. September
2008 gegen den Bescheid vom 02. September 2008 eingelegten Widerspruch vor dem
Sozialgericht Berlin einen Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz gestellt und beantragt,
den Antragsgegner zu verpflichten, dem Antragsteller Leistungen nach § 2 AsylbLG zu
gewähren, sowie die Bewilligung von Prozesskostenhilfe beantragt.
Mit Beschluss vom 23. Oktober 2008 hat das Sozialgericht Berlin die Anträge auf Erlass
einer einstweiligen Anordnung und Bewilligung von Prozesskostenhilfe zurückgewiesen,
weil ein Anordnungsgrund nicht gegeben sei, da der Antragsteller Leistungen nach § 3
AsylbLG beziehe und somit nicht völlig leistungslos sei.
Gegen den ihm am 03. November 2008 zugestellten Beschluss hat der Antragsteller am
11. November 2008 Beschwerde eingelegt, mit der er sein Begehren weiterverfolgt.
Er beantragt schriftsätzlich,
den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, dem
Antragsteller bis zu einer Entscheidung über dessen Widerspruch vom 04.09.2008
Leistungen nach § 2 AsylbLG zu gewähren.
Dem Antragsteller Prozesskostenhilfe unter Beiordnung seiner
Prozessbevollmächtigten für den gesamten Rechtsstreit zu gewähren.
Der Antragsgegner beantragt,
die Beschwerde zurückzuweisen.
Er hält die sozialgerichtliche Entscheidung für zutreffend. Mit der Erteilung einer Duldung
hätten sich die persönlichen Verhältnisse des Antragstellers, dessen Asylverfahren somit
offensichtlich beendet gewesen sei, geändert und hätte die Leistungsgewährung neu
beurteilt werden dürfen. Da der Aufenthaltstitel die elementare Grundlage für die Art der
Leistungen nach dem AsylbLG sei, handele es sich bei dem Bescheid vom 16. Juni 2008
nicht um einen Dauerverwaltungsakt.
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die
Gerichtsakte und die beigezogenen Verwaltungsvorgänge des Antragsgegners sowie die
den Antragsteller betreffende Ausländerakte Bezug genommen, die vorgelegen haben
und Gegenstand der Beratung gewesen sind.
II.
Die Beschwerde gegen die Ablehnung einstweiligen Rechtsschutzes ist statthaft und
auch im Übrigen zulässig. Sie ist auch begründet.
Das Rechtsschutzbegehren des Antragstellers war dahin auszulegen, dass beantragt ist,
die aufschiebende Wirkung seines Widerspruches vom 04. September 2008 gegen den
Bescheid des Antragsgegners vom 02. September 2008, in der Fassung des Bescheides
vom 16. September 2008, festzustellen.
Gemäß § 123 Sozialgerichtsgesetz - SGG -, der im Beschwerdeverfahren entsprechend
anwendbar ist (Leitherer in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 9. Aufl., Vor § 172, Rn.
4), ist das Gericht nicht an die Anträge des Beschwerdeführers gebunden. Vielmehr
muss ein Antrag sachdienlich ausgelegt werden. Dabei ist von dem auszugehen, was mit
dem Rechtsbehelf gewollt ist. Anzunehmen ist dabei, dass ein Antragsteller alles
zugesprochen haben möchte, was ihm aufgrund eines Sachverhaltes zustehen kann
(vgl. Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 9. Aufl., § 123 Rn. 3). Danach war hier
das Rechtsschutzbegehren des Antragstellers im einstweiligen Rechtsschutzverfahren
dahin auszulegen, dass der Antragsteller begehrt, die aufschiebende Wirkung seines
Widerspruchs vom 04. September 2008 gegen den Bescheid des Antragsgegners vom
02. September 2008 festzustellen; wobei der den Bescheid vom 02. September 2008
ergänzende Bescheid vom 16. September 2008 gemäß § 86 SGG Gegenstand des
Widerspruchsverfahrens geworden ist. Mit diesem Antrag kann der Kläger sein Begehren,
weiterhin Leistungen nach § 2 AsylbLG zu erhalten, verfolgen.
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Denn der Antragsgegner hat dem Antragsteller mit dem bestandskräftig gewordenen
Bescheid vom 16. Juni 2008 Leistungen nach § 2 AsylbLG entsprechend dem SGB XII in
Höhe von 275,69 € monatlich gewährt. Mit Bescheid vom 02. September 2008 sind dem
Antragsteller diese Leistungen ab 01. September 2008 teilweise entzogen worden.
Zutreffende Klageart gegen diese Regelung ist in der Hauptsache die Anfechtungsklage,
die entsprechend § 86a Abs. 1 Satz 1 SGG aufschiebende Wirkung hat. In
entsprechender Anwendung des § 86 b Abs. 1 SGG kann das Gericht auf Antrag durch
Beschluss aussprechen, dass ein Widerspruch oder eine Klage aufschiebende Wirkung
hat, wenn zweifelhaft ist, ob eine aufschiebende Wirkung eingetreten ist (Keller, a.a.O., §
86 b Rn. 15, m.w.N.).
Nach § 86 a Abs. 1 Satz 1 SGG haben Widerspruch und Anfechtungsklage grundsätzlich
aufschiebende Wirkung. Mit dem mit Widerspruch vom 04. September 2008
angefochtenen Bescheid vom 02. September 2008 hat der Antragsgegner die zuvor mit
Bescheid vom 16. Juni 2008 gewährten Leistungen für die Zeit ab 01. September 2008
aufgehoben und damit in den laufenden, mit Verwaltungsakt vom 16. Juni 2008
zuerkannten Leistungsbezug eingegriffen. Der Widerspruch gegen diesen Eingriffsakt hat
aufschiebende Wirkung.
Zwar sind Leistungen nach dem AsylbLG keine rentengleichen Dauerleistungen, sondern
Hilfen in einer bestimmten Notsituation (vgl. zu den Leistungen nach dem BSHG:
Bundesverwaltungsgericht - BVerwG -, Urteil vom 30. November 1966, Vc 29.66,
BVerwGE 25, 307; Urteil vom 15. November 1967, Vc 71.67, BVerwGE 28, 216).
Leistungen werden grundsätzlich in Abhängigkeit von der Bedarfssituation nur für die
nächstliegende Zeit bewilligt. Dies gilt auch für Leistungen nach dem AsylbLG.
Grundsätzlich entscheidet daher der Träger der Leistungen nach dem AsylbLG in
zulässiger Weise über den nächstliegenden Zahlungszeitraum. Die Einstellung oder
Verringerung der Hilfen stellt daher in der Regel auch keinen Widerruf, keine Rücknahme
oder Aufhebung eines fortwirkenden (Dauer-)Bewilligungsbescheides dar, sondern die
Versagung einer weiteren Bewilligung für die Zukunft.
Ebenso wie der Grundsatz der Nothilfeleistung negativen Vorabentscheidungen für den
zukünftigen Leistungsbezug mit Dauerwirkung über den nächstliegenden
Zahlungszeitraum hinaus nicht entgegen steht (BVerwG, Urteil vom 14. Juli 1998, Az.: 5
C 2/97, zitiert nach juris), galt auch schon für die Leistungsgewährung nach dem BSHG,
dass der Sozialhilfeträger nicht gehindert ist, einen Sozialhilfefall auch für einen längeren
Zeitraum zu regeln (BVerwG, Urteil vom 19.01.1972, Az.: V C 10.71, BVerwGE 39, 261,
265, BVerwG, Urteil vom 26. 09. 1991, Az.: 5 C 14/87, zitiert nach juris). Trifft er in einem
Sozialhilfefall eine Regelung zur Höhe der Leistung nicht für den nächstliegenden
Zeitraum, sondern darüber hinaus für einen längeren Zeitraum, muss sich der
Sozialhilfeträger daran festhalten lassen. Änderungen greifen dann in eine zuerkannte
(Dauer-)Leistung ein. Die Vornahme von Änderungen im Leistungsbezug hat dann nach
den weiteren Regeln des Sozialverwaltungsverfahrens über die Aufhebung eines
Verwaltungsaktes mit Dauerwirkung (§§ 44 ff., 48 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch - SGB
X -) zu erfolgen.
Der Antragsgegner hat im vorliegenden Fall dem Antragsteller mit Verwaltungsakt vom
16. Juni 2008 Leistungen nach dem AsylbLG nicht nur für den nächstliegenden Zeitraum,
sondern ab Juni/Juli 2008 für einen nicht näher bestimmten Zeitraum gewährt. Aus der
Formulierung des Bescheides ergibt sich, dass der Antragsgegner dem Antragsteller
nach damaliger Rechtsauffassung die dem Antragsteller zustehenden Leistungen nicht
nur für den laufenden Monat, sondern für weitere Monate regeln wollte. Dies folgt schon
aus der Formulierung „Bescheid über die Gewährung von laufenden Leistungen…“,
wobei in dem Bescheid nicht nur die Leistungsbewilligung für den Monat Juli 2008
geregelt, sondern weiter darauf hingewiesen wird, dass die Leistung („der Betrag“) für
den Monat Juni bereits ausgezahlt sei und die Beträge für die Folgemonate jeweils
monatlich im voraus an die in der Anlage aufgeführten Zahlungsempfänger überweisen
würden, solange sich die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse nicht geändert
hätten. Auch die Bezeichnung des angefochtenen Bescheides vom 02. September 2008
als „Bescheid über Änderung von laufenden Leistungen…“ bringt zum Ausdruck, dass
der Antragsgegner mit dem Bescheid vom 16. Juni 2008 in Zukunft die gewährten
Leistungen bis zu einer Änderung der persönlichen und wirtschaftlichen
Voraussetzungen weiter leisten wollte und die Leistungsberechtigung dem Grunde nach
auch für die Zukunft anerkennen wollte. Entsprechend den Regelungen des Bescheides
und der Berücksichtigung des Umstandes, dass sich die persönlichen und
wirtschaftlichen Verhältnisse des Antragstellers in der Folgezeit nicht änderten, hat der
Antragsgegner auch im August 2008 Leistungen an den Antragsteller erbracht, ohne
einen neuen Bewilligungsbescheid zu erlassen.
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Erstmals mit dem angefochtenen Bescheid vom 02. September 2008 hat der
Antragsgegner die mit dem begünstigenden Verwaltungsakt vom 16. Juni 2008
zuerkannten Leistungen wegen der angenommenen Änderung der persönlichen
Verhältnisse nach § 48 SGB X teilweise entzogen. Der hiergegen vom Antragsteller
erhobene Widerspruch hat damit aufschiebende Wirkung. Diese Wirkung ist nicht nach §
86 a Abs. 2 Nr. 1 bis 5 SGG ausgeschlossen. Dies war festzustellen, da der
Antragsgegner den Suspensiveffekt bestreitet. Der Antragsgegner wird dem
Antragsteller weiter Leistungen aus dem Bescheid vom 16. Juni 2008 zu erbringen
haben. Einer vorläufigen Verpflichtung in analoger Anwendung des § 86 a Abs. 1 Satz 2
SGG (vgl. Kopp/Schenke, VwGO, 14. Aufl. § 80 Anm. 18) bedurfte es nicht, da nicht
ersichtlich ist, dass der Antragsgegner auf die Feststellung der aufschiebenden Wirkung
durch den Senat diese weiterhin nicht beachten wird.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Die Beschwerde gegen die Ablehnung der Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das
erstinstanzliche Verfahren und der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das
Beschwerdeverfahren sind durch die Kostenentscheidung gegenstandslos geworden und
waren mangels Rechtsschutzbedürfnisses als unzulässig zu verwerfen.
Außergerichtliche Kosten für das PKH-Beschwerdeverfahren sind nicht zu erstatten (§
73a Abs. 1 Satz 1 SGG i. V. m. § 127 Abs. 4 ZPO).
Der Beschluss kann nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht angefochten
werden (§ 177 SGG).
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