Urteil des LSG Berlin-Brandenburg vom 15.03.2017
LSG Berlin-Brandenburg: rechtliches gehör, gutachter, faires verfahren, lege artis, befangenheit, gespräch, gefahr, erstellung, unverzüglich, auflage
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Gericht:
Landessozialgericht
Berlin-Brandenburg
31. Senat
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
L 31 R 1292/09 B
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Normen:
§ 118 SGG, § 406 Abs 2 S 1
ZPO, § 406 Abs 2 S 2 ZPO
Sozialgerichtliches Verfahren - Ablehnung eines
Sachverständigen wegen Besorgnis der Befangenheit -
psychiatrische Exploration - kein Anspruch auf Anwesenheit
Dritter bei Gefahr für die Verwertbarkeit des Gutachtens -
rechtliches Gehör - faires Verfahren
Leitsatz
Der Kläger kann die Anwesenheit eines Dritten bei der psychiatrischen Exploration dann nicht
verlangen, wenn die Gefahr besteht, dass durch die Anwesenheit des Dritten Angaben
verfälscht werden und so die Verwertbarkeit des Gutachtens in Frage gestellt wird.
Tenor
Die Beschwerde des Klägers gegen den Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 09.
November 2009 wird zurückgewiesen.
Gründe
Die am 29. Dezember 2009 eingelegte Beschwerde gegen den dem Kläger am 30.
November 2009 zugestellten Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 09. November
2009 ist fristgemäß und daher zulässig, aber unbegründet. Denn das Sozialgericht Berlin
hat den Antrag des Klägers, den medizinischen Sachverständigen Dr. v, wegen der
Besorgnis der Befangenheit abzulehnen, zu Recht abgelehnt.
Zutreffend hat das Sozialgericht bereits darauf hingewiesen, dass der Antrag nach § 406
Abs. 2 Zivilprozessordnung (ZPO) i. V. m. § 118 Sozialgerichtsgesetz (SGG) verspätet
war, soweit er allein darauf gestützt wurde, dass der Gutachter der Ehefrau des Klägers
die Anwesenheit bei der Exploration am 28. Januar 2008 nicht gestattet hat.
Nach § 406 Abs. 2 Satz 1 ZPO ist der Ablehnungsantrag bei dem Gericht oder Richter,
von dem der Sachverständige ernannt ist, vor seiner Vernehmung zu stellen, spätestens
jedoch binnen zwei Wochen nach Verkündung oder Zustellung des Beschlusses über die
Ernennung. Zu einem späteren Zeitpunkt ist die Ablehnung nur zulässig, wenn der
Antragsteller glaubhaft macht, dass er ohne sein Verschulden verhindert war, den
Ablehnungsgrund früher geltend zu machen. Dies ist regelmäßig dann der Fall, wenn
sich die Ablehnungsgründe erst aus dem Gutachten selbst ergeben. In diesem Fall muss
der Antrag dann unverzüglich nach Kenntnis des Befangenheitsgrundes gestellt werden,
wobei der Betroffene aber eine den Umständen angemessene Zeit zur Prüfung und
Überlegung hat (Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 9. Auflage, § 118 Rdnr. 12 l).
Soweit der Antrag allein darauf gestützt werden soll, dass der Gutachter der Ehefrau des
Klägers die Anwesenheit bei der Exploration im Rahmen der ambulanten Untersuchung
am 28. Januar 2008 verweigert hat, war der Antrag unverzüglich nach dieser
behaupteten Weigerung, die Anwesenheit zu gestatten, zu stellen. Denn dafür brauchte
es nicht die Vorlage des Gutachtens. Dieser Grund war mit Nichtgestattung der
Anwesenheit am 28. Januar 2008 bekannt. Er ergab sich gerade nicht erst aus dem
schriftlichen Gutachten. Der am 16. März 2009 beim Sozialgericht Berlin eingegangene
Antrag war deshalb insoweit bereits verfristet und daher unzulässig.
Soweit der Senat den Antrag als zulässig ansieht, weil im Gutachten niedergelegt ist,
dass der Kläger in Begleitung seiner Ehefrau erschienen sei, die außerhalb des
Untersuchungszimmers verblieben sei, und insoweit das Ablehnungsgesuch auch auf die
Unrichtigkeit der Beschreibung der Situation gestützt wird, ist er unbegründet.
Es ist schon nicht ersichtlich, dass der Gutachter mit dem Hinweis, dass die Ehefrau
außerhalb des Untersuchungszimmers verblieben sei, den Sachverhalt unrichtig
darstellen wollte. Denn Tatsache ist, dass die Ehefrau das Untersuchungszimmer nicht
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darstellen wollte. Denn Tatsache ist, dass die Ehefrau das Untersuchungszimmer nicht
betreten hat, weil der Gutachter die Anwesenheit der Ehefrau des Klägers bei der
Exploration abgelehnt hat. Dass es auf diese Ablehnung in irgendeiner Weise später
noch einmal ankommen sollte, konnte der Gutachter zu diesem Zeitpunkt nicht
erkennen. Eine Ablehnung der Exploration oder eine Ablehnung des Gutachters durch
den Kläger ist nicht erfolgt. Angesichts des Umstandes, dass es den Regeln der
psychiatrischen Begutachtung entspricht, die Anwesenheit Dritter bei der Exploration
abzulehnen, und es sich insoweit um einen vollkommen normalen Vorgang handelt, war
der Gutachter auch nicht gehalten, diesen in das Gutachten aufzunehmen. Der
Gutachter hat mit seiner Niederschrift diesen Umstand auch nicht verfälschen wollen,
was sich bereits aus seiner Stellungnahme vom 11. April 2009 ergibt, in der er darauf
hinweist, dass sein Vorgehen lege artis war und er deshalb wegen dieses völlig normalen
Vorganges keinen Grund gesehen hat, etwas zur Ablehnung der Anwesenheit der
Ehefrau bei der Exploration niederzulegen. Eine Besorgnis der Befangenheit des
Sachverständigen ist insoweit bereits nicht im Ansatz glaubhaft gemacht.
Lediglich ergänzend weist der Senat darauf hin, dass der Antrag auf Ablehnung des
Sachverständigen wegen der Besorgnis der Befangenheit nicht mit Erfolg auf die
Ablehnung der Gestattung der Anwesenheit der Ehefrau bei der Exploration hätte
gestützt werden können, auch wenn dieser Antrag fristgemäß gestellt worden wäre.
Zwar verpflichten der Grundsatz des Anspruchs auf ein faires Verfahren und rechtliches
Gehör den Richter wie den Sachverständigen zur Rücksichtnahme gegenüber den
Verfahrensbeteiligten in ihrer konkreten Situation (vgl. Landessozialgericht Rheinland-
Pfalz, Beschluss vom 23. Februar 2006, Az.: L 4 B 33/06 SB, zitiert nach juris mit Hinweis
auf den Beschluss des Bundessozialgerichts vom 09. April 2003, Az.: B 5 RJ 140/02).
Deshalb dürfte ein genereller Ausschluss von Vertrauenspersonen des zu
Untersuchenden, hier des Ehepartners, weder mit dem Grundsatz der
Parteiöffentlichkeit noch mit dem eines fairen Verfahrens in Einklang zu bringen sein.
Denn angesichts der in die Persönlichkeit eingreifenden Beweisaufnahme durch einen
gerichtlichen Sachverständigen kann eine Begleitung durch eine Vertrauensperson bei
der Untersuchung gerechtfertigt sein.
Trotz dieser schwierigen Situation ist der Sachverständige dem Gericht und den
Beteiligten gegenüber unter Wahrung des Grundsatzes der Unparteilichkeit verpflichtet,
ein verwertbares Gutachten zu erstatten. Ein solches Gutachten ist aber nur dann
verwertbar, wenn es nach den in der Fachwelt anerkannten Regeln erstellt wurde.
Insbesondere bei der Erstellung psychiatrischer Gutachten ist die Anwesenheit eines
Dritten bei der Exploration außerordentlich problematisch. Denn es liegt auf der Hand,
dass der Betroffene gerade durch die Anwesenheit eines nahen Angehörigen in eine
schwierige Situation gerät und sich möglicherweise genötigt sieht, dem Gutachter
gegenüber unwahre Angaben zu machen, um sein Verhältnis zur dritten Person nicht zu
belasten. So ist in Venzlaff/Foerster, Psychiatrische Begutachtung, 5. Auflage, 2008,
Seite 19 unter Punkt 2.2.3 zur Anwesenheit dritter Personen bei der Exploration
ausgeführt:
„Das klinische und therapeutische Gespräch findet in einer ungestörten
Zweiersituation statt. Es gibt keinen Grund, warum dies im gutachtlichen Gespräch
anders sein sollte. Grundsätzlich ist die Anwesenheit dritter Personen während der
Exploration und der Untersuchung kontraproduktiv und kann den Aufbau einer
Beziehung zwischen Proband und Gutachter stören (Hausotter 2007). Dabei ist auch zu
bedenken, dass bei Anwesenheit von Angehörigen (Partner, Eltern, Kinder) die
Mitteilungen des Probanden verfälscht sein können, so dass diese Personen während
des gutachtlichen Gesprächs nicht anwesend sein sollten. Selbstverständlich kann vor
oder nach der Exploration mit den Angehörigen gesprochen werden, falls dies der
Wunsch des Probanden und der Angehörigen ist.“
Vorliegend ist ersichtlich, dass der abgelehnte Sachverständige sich nach diesen
allgemein anerkannten Kriterien für die psychiatrische Begutachtung gerichtet hat, so
dass sein nicht zu beanstandendes Verhalten schon deshalb nicht geeignet ist, die
Besorgnis der Befangenheit zu begründen.
Es hätte dem Kläger freigestanden, die Exploration durch den Sachverständigen ohne
die Anwesenheit seiner Ehefrau nicht zu dulden. Denn es gibt keinen Zwang, sich einer
Begutachtung im Sozialgerichtsverfahren zu unterziehen. Allerdings hätte der Kläger im
Falle der Nichterweislichkeit einer Tatsache nach den Regeln der objektiven
Feststellungslast die Nachteile aus einer solchen Verhaltensweise zu tragen.
Hätte demgegenüber der Kläger auf der Anwesenheit seiner Ehefrau bestanden, so wäre
es zunächst am Gutachter gewesen, zu beurteilen, ob angesichts dieses Umstandes die
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es zunächst am Gutachter gewesen, zu beurteilen, ob angesichts dieses Umstandes die
Erstellung eines verwertbaren Gutachtens überhaupt noch möglich gewesen wäre. Wie
das Gericht in einem solchen Fall dann entschieden hätte, ist bei der hier zu treffenden
Entscheidung über die Besorgnis der Befangenheit nicht von Bedeutung.
Die Beschwerde war daher zurückzuweisen.
Die Entscheidung ist nicht anfechtbar (§ 177 SGG).
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