Urteil des LSG Berlin-Brandenburg vom 10.07.2007
LSG Berlin-Brandenburg: erwerb, link, eigentumswohnung, verkehrsunfall, auflösung, kauf, miete, sammlung, quelle, unterhaltspflicht
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Gericht:
Landessozialgericht
Berlin-Brandenburg 5.
Senat
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
L 5 B 410/07 AS ER, L
5 B 410/07
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Normen:
§ 7 Abs 1 S 1 Nr 3 SGB 2, § 9
Abs 1 SGB 2, § 34 Abs 1 S 1 Nr
1 SGB 2
Grundsicherung für Arbeitsuchende - Hilfebedürftigkeit -
Entstehungsgrund - Erwerb einer Eigentumswohnung - kein
Ersatzanspruch wegen sozialwidriger Herbeiführung der
Hilfebedürftigkeit
Leitsatz
1. Die Hilfebedürftigkeit im Sinne der §§ 7 Abs. 1 Nr. 3, 9 SGB II ist grundsätzlich
gegenwartsbezogen und unabhängig von den Gründen ihres Entstehens zu beurteilen. Auch
schuldhaft herbeigeführte Hilfebedürftigkeit schließt den Anspruch auf Leistungen nach dem
SGB II nicht aus.
2. Der Erwerb einer Eigentumswohnung aus eigenen Mitteln ist in der Regel nicht "sozialwidrig"
im Sinne von § 34 Abs. 1 SGB II, so dass gegen die später entstandene Hilfebedürftigkeit
nicht eingewandt werden kann, die Antragsteller hätten sie schuldhaft herbeigeführt.
Tenor
Die Beschwerde der Antragsteller gegen den Beschluss des
Sozialgerichts Berlin vom 30. Januar 2007 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind auch für das Beschwerdeverfahren nicht zu erstatten.
Gründe
Die Beschwerde der Antragsteller gegen den Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom
30. Januar 2007 ist zulässig (§§ 172 Abs. 1 und 173 SGG), jedoch nicht begründet. Zu
Recht hat das Sozialgericht den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung nach §
86 b Abs. 2 Satz 2 SGG abgelehnt und dabei angenommen, dass es dem Eilantrag an
der notwendigen Dringlichkeit, also am Anordnungsgrund, mangele. Zutreffend hat das
Sozialgericht dabei vorausgesetzt, dass es für den Erlass einer einstweiligen Anordnung
auf die Glaubhaftmachung von Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund ankomme
und letzterer nur gegeben sei, wenn eine gegenwärtige, wesentliche und nicht
abwendbare Notlage gegeben ist, die es unzumutbar erscheinen lässt, die Entscheidung
in der Hauptsache abzuwarten. In nicht zu beanstandender Weise hat das Sozialgericht
weiter den Bedarf der Antragsteller mit etwa 870 Euro monatlich beziffert und dem das
monatliche Nettoeinkommen der Antragstellerin zu 2. von etwa 750 Euro gegenüber
gestellt. Daneben verfügen die Antragsteller über Vermögen in Gestalt eines
Depotkontos, das nach Beantragung der Leistungen nach dem SGB II sogar noch
erheblich angewachsen ist, nämlich von 11.239,35 Euro am 14. September 2006 auf
13.260,05 Euro am 16. Januar 2007. Dass dieses Vermögen unter den geschützten
Grundfreibetrag nach § 12 Abs. 2 Nr. 1 SGB II fällt, kann nach Auffassung des Senats nur
im Hauptsacheverfahren erheblich sein, muss aber bei der Beurteilung des
Anordnungsgrundes außer Betracht bleiben, denn für den Fall, dass die Antragsteller im
Hauptsacheverfahren obsiegen, werden sie eine Nachzahlung erhalten, mit der sie den
etwaigen Verlust von Teilen des Vermögensstammes kompensieren können. Eine den
Erlass einer einstweiligen Anordnung rechtfertigende Eilbedürftigkeit vermochte auch der
Senat nach alledem nicht zu erkennen.
In der Sache weist der Senat aber auf Folgendes hin: Die Hilfebedürftigkeit im Sinne der
§§ 7 Abs. 1 Nr. 3, 9 SGB II ist grundsätzlich gegenwartsbezogen und unabhängig von den
Gründen ihres Entstehens zu beurteilen. Auch schuldhaft herbeigeführte
Hilfebedürftigkeit schließt den Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II nicht aus. Die
Leistungen sollen ohne zeitraubende Prüfung der Ursache schnellstmöglich gewährt
werden, um die Hilfebedürftigkeit zu beseitigen (vgl. hierzu ausdrücklich
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werden, um die Hilfebedürftigkeit zu beseitigen (vgl. hierzu ausdrücklich
Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 12. Mai 2005, 1 BvR 569/05, Rdnr. 28, zitiert
nach juris; Link in Eicher/Spellbrink, SGB II, Rdnr. 1 zu § 34; Conradis in LPK-SGB II, Rdnr.
1 zu § 34).
Um sozialwidrige Ergebnisse zu vermeiden, bestimmt allerdings § 34 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1
SGB II, dass eine Pflicht zum (nachträglichen) Ersatz der gewährten Leistungen für
denjenigen besteht, der die Voraussetzungen für seine Hilfebedürftigkeit vorsätzlich oder
grob fahrlässig ohne wichtigen Grund herbeigeführt hat. Weil von einem Verschulden der
Antragsteller in diesem Sinne keine Rede sein und damit die Geltendmachung von
Ersatzansprüchen auf der Grundlage von § 34 SGB II ausgeschlossen sein dürfte, hat die
Frage, warum sie hilfebedürftig geworden sind, erst recht bei der Leistungsgewährung
selbst außer Betracht zu bleiben. Orientiert an der Rechtsprechung des
Bundesverwaltungsgerichts zur fast inhaltsgleichen Vorgängervorschrift in § 92 a BSHG
(vgl. Urteil vom 23. September 1999, 5 C 22/99, BVerwGE 109, 331, Rdnr. 12, zitiert
nach juris), die uneingeschränkt auf § 34 SGB II übertragen werden kann, gelten für die
Beurteilung der schuldhaften Herbeiführung der Hilfebedürftigkeit folgende Maßstäbe:
Die Regelung in § 34 Abs. 1 SGB II enthält einen engen deliktähnlichen
Ausnahmetatbestand. Es handelt sich um einen quasi-deliktischen Anspruch, weil der
Ersatzanspruch von einem schuldhaften Verhalten des Ersatzpflichtigen abhängt. Diese
Bezeichnung bringt zum Ausdruck, dass das den Kostenersatzanspruch auslösende
Verhalten nicht notwendig ein „rechtswidriges“ im Sinne der unerlaubten Handlung ( §§
823 ff. BGB) oder des Strafrechts sein muss. Das Erfordernis des „vorsätzlichen oder
grob fahrlässigen“ Verhaltens in 34 Abs. 1 SGB II ist vielmehr mit der Maßgabe zu lesen,
dass die Voraussetzungen für die Gewährung von Leistungen objektiv „sozialwidrig“
herbeigeführt sein müssen. Schuldhaft (vorsätzlich oder grob fahrlässig) verhält sich
ferner nur, wer sich der Sozialwidrigkeit seines Verhaltens bewusst (oder grob fahrlässig
nicht bewusst) ist. Es kommt auf die Umstände des Einzelfalles an, ob ein Verhalten
sozialwidrig ist. Grundsätzlich entsteht der Erstattungsanspruch, wenn das Tun oder
Unterlassen aus der Sicht der Solidargemeinschaft zu missbilligen ist. Als Fallgruppen
solchen sozialwidrigen Verhaltens kommen je nach Lage des Einzelfalles in Betracht (vgl.
BVerwG, Urteil vom 14. Januar 1982, 5 C 70/80, BVerwGE 64, 318, Rdnr. 9, zitiert nach
juris; Conradis in LPK-SGB II, Rdnr. 15 bis 20 zu § 34; Link in Eicher/Spellbrink, SGB II,
Rdnr. 23 bis 29 zu § 34): Arbeitsscheu, Verschwendungssucht oder vergleichbare
Verhaltensweisen, Verletzung der Unterhaltspflicht durch Herbeiführung von
Untersuchungs- oder Strafhaft, Auflösung des Ausbildungsverhältnisses unter
Verletzung ausbildungsvertraglicher Pflichten, Aufgabe des Arbeitsplatzes, ehewidriges
Verhalten oder Verkehrsunfall nach Trunkenheitsfahrt.
Hieran gemessen wird das Verhalten der Antragsteller kaum als sozialwidrig eingestuft
werden können. Sie erwarben aus Eigenmitteln im April 2006 die von ihnen zusammen
mit ihrem Sohn bewohnte rund 85 m² große Eigentumswohnung zum Preis von 80.000
Euro. Zwar haben sie damit indirekt ihre Hilfebedürftigkeit herbeigeführt, jedoch nicht in
missbilligenswerter, etwa einer Verschwendungssucht gleichstehender Weise. Der Kauf
von Wohneigentum, zumal zu einem offensichtlich vertretbaren Preis, ist eine
vernünftige Maßnahme der Alterssicherung, die nach Auffassung des Senats
sozialadäquat ist und nicht zum Ausschluss der Leistungen nach dem SGB II führen darf.
Nicht zuletzt ist anerkannt, dass Kosten der Unterkunft nach § 22 SGB II auch in Gestalt
der Schuldzinsen für angemessenes Wohneigentum zu tragen sind (hierzu etwa
Beschluss des Senats vom 10. April 2007, L 5 B 149/07 AS ER), woraus deutlich wird,
dass (hier ohne Zweifel gegebenes) angemessenes Wohneigentum die Gewährung von
Leistungen nach dem SGB II nicht ausschließt. Zudem hat der Erwerb von
Wohneigentum im Falle der Antragsteller für die Allgemeinheit jetzt den Vorteil, dass
ihnen nach § 22 SGB II nur das „Wohngeld“ in Höhe von anteilig wohl 220 Euro, nicht
aber Leistungen für Miete oder Schuldzinsen zustehen, weil sie die Wohnung unter
vollständigem Einsatz von Eigenmitteln schuldenfrei erwarben.
Diese Grundsätze wird der Antragsgegner bei Bescheidung des Widerspruchs der
Antragsteller gegen den Bescheid vom 7. September 2006 zu beachten haben. Auf den
seit dem 1. Januar 2005 nicht mehr geltenden § 25 Abs. 2 BSHG darf eine Ablehnung der
Leistungsgewährung nicht gestützt werden.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Dieser Beschluss ist nicht anfechtbar (§ 177 SGG).
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