Urteil des LSG Berlin-Brandenburg vom 05.12.2007
LSG Berlin und Brandenburg: umzug, rechtsschutz, behinderung, hauptsache, gesundheitszustand, auflage, widerspruchsverfahren, anfang, vollziehung, erlass
Landessozialgericht Berlin-Brandenburg
Beschluss vom 05.12.2007 (rechtskräftig)
Sozialgericht Berlin S 102 AS 24226/07 ER
Landessozialgericht Berlin-Brandenburg L 28 B 2089/07 AS ER
Auf die Beschwerde der Antragsteller wird der Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 25. Oktober 2007 geändert.
Der Antragsgegner wird verpflichtet, der Berechnung der den Antragstellern in dem Bewilligungszeitraum vom 1.
November 2007 bis zum 31. März 2008 zustehenden Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts die
tatsächlichen Kosten der Unterkunft in Höhe von 742,71 EUR monatlich zugrunde zu legen. Im Übrigen wird die
Beschwerde zurückgewiesen. Der Antragsgegner hat den Antragstellern die Kosten dieses einstweiligen
Rechtsschutzverfahrens zu erstatten. Der Antrag der Antragstellerin zu 1) auf Gewährung von Prozesskostenhilfe für
das Beschwerdeverfahren wird abgelehnt.
Gründe:
Die statthafte und zulässige Beschwerde (§§ 172, 173 Sozialgerichtsgesetz (SGG)), der das Sozialgericht Berlin nicht
abgeholfen hat (§ 174 SGG), ist im tenorierten Umfang begründet. Im Übrigen war die Beschwerde zurückzuweisen.
Soweit die Antragsteller für die Zeit vom 1. November 2007 bis zum 31. März 2008 an höhere Leistungen begehren,
richtet sich der einstweilige Rechtsschutz nach § 86 b Abs. 2 SGG. Denn der Antragsgegner hat den Antragstellern
mit Bewilligungsbescheid vom 7. September 2007 für den vorgenannten Bewilligungszeitraum Leistungen zur
Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) gewährt und hierbei statt der von
den Antragstellern tatsächlich aufgewandten Kosten für die Unterkunft und die Heizung in Höhe von 742,71 EUR
monatlich nur die seines Erachtens angemessenen Kosten in Höhe von 525, 03 EUR monatlich berücksichtigt. Die
Antragsteller begehren mit dem einstweiligen Rechtsschutzantrag also eine über die ihnen bereits gewährte
Rechtsposition hinausgehende Begünstigung. Dies können sie nur mittels einer Regelungsanordnung nach § 86 b
Abs. 2 SGG erreichen. Hiernach sind einstweilige Anordnungen zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug
auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig
erscheint (Satz 2).
Hierbei sind die Grundsätze anzuwenden, die das Bundesverfassungsgericht in einer Entscheidung zum Zweiten
Buch des Sozialgesetzbuch (SGB II) entwickelt hat (Beschluss vom 12. Mai 2005 - 1 BvR 569/05 - NVwZ 2005,927
ff.). Die danach zu treffende Entscheidung kann sowohl auf eine Folgenabwägung als auch auf eine Überprüfung der
Erfolgsaussichten in der Hauptsache gestützt werden, wobei Art 19 Abs. 4 GG besondere Anforderungen an die
Ausgestaltung des Eilverfahrens stellt. Soll die Entscheidung an den Erfolgsaussichten der Hauptsache orientiert
werden, ist das erkennende Gericht verpflichtet, die Sach- und Rechtslage nicht nur summarisch, sondern
abschließend zu prüfen, insbesondere dann, wenn das einstweilige Verfahren vollständig die Bedeutung des
Hauptsacheverfahrens übernimmt und eine endgültige Verhinderung der Grundrechtsverwirklichung eines Beteiligten
droht, wie dies im Streit um laufende Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende regelmäßig der Fall ist, da
der elementare Lebensbedarf für die kaum je absehbare Dauer des Hauptsacheverfahrens bei ablehnender
Entscheidung nicht gedeckt ist. Ist eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage im Eilverfahren nicht
möglich, ist anhand der Folgenabwägung zu entscheiden, die daran ausgerichtet ist, eine Verletzung
grundgesetzlicher Gewährleistungen zu verhindern, auch wenn sie nur möglich erscheint oder nur zeitweilig andauert.
Die Sicherung des Existenzminimums (verwirklicht durch Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende) ist eine
grundgesetzliche Gewährleistung in diesem Sinne (vgl. auch Beschluss des LSG Berlin-Brandenburg vom 12.
Dezember 2006 - L 10 B 1052/06 AS ER -).
An diesen Grundsätzen gemessen sind der Berechnung der hier streitbefangenen Ansprüche der Antragsteller
jedenfalls für einen vorübergehenden Zeitraum die bisherigen Kosten der Unterkunft in Höhe von 742,71 EUR
monatlich zugrunde zu legen. Dabei folgt der Senat zunächst der Auffassung des Antragsgegners und insbesondere
auch der in dem angefochtenen Beschluss des Sozialgerichts Berlin zum Ausdruck kommenden Begründung, dass
diese Kosten für einen 3-Personen-Haushalt unangemessen hoch sind. Dieser Beschluss entspricht der vom Senat in
einer Vielzahl von Entscheidungen vertretenen Auffassung (vgl. u. a. Beschluss des Senats vom 30. Juli 2007 - L 28
B 1102/07 AS ER -).
Nach § 22 Abs. 1 Satz 3 SGB II muss dem Hilfebedürftigen ein Wohnungswechsel indes möglich und zumutbar sein.
Ob ein solcher Fall hier gegeben ist, kann der Senat in diesem Verfahren nicht abschließend beurteilen. Grundsätzlich
ist die Zumutbarkeit umgehender und nachzuweisender Kostensenkungsbemühungen in der Regel anzunehmen.
Allein die typischerweise mit einem Umzug verbundenen Belastungen machen einen Umzug nicht unzumutbar; es
muss sich um eine vom Durchschnitt abweichend besondere Belastungssituation handeln, wie Gebrechlichkeit oder
eine aktuelle schwere Erkrankung oder Behinderung (vgl. Berlit in LPK-SGB II, 2. Auflage 2007, § 22 RdNr. 59 m. w.
Nachw.). Ob ein solcher Fall hier gegeben ist kann der Senat nicht abschließend beurteilen. Jedenfalls hat die mit
einem Grad der Behinderung von 50 v. H. behinderte Antragstellerin zu 1) ein ärztliches Attest vom 12. November
2007 vorgelegt, nach dem sie an zahlreichen Erkrankungen leidet. Nach Auffassung der sie behandelnden Ärztin ist
die Antragstellerin zu 1) wegen ihrer seelischen und körperlichen Erkrankungen nicht in der Lage einen Umzug zu
bewältigen. Ein Umzug würde ihren Gesundheitszustand gefährden. Zur Klärung dieses geltend gemachten
gesundheitsbedingten Umzugshindernisses ist gegebenenfalls eine im Widerspruchsverfahren durchzuführende
amtsärztliche oder im Bestreitensfalle eine im Hauptsacheverfahren durchzuführende gutachterliche Klärung
herbeizuführen. Da dies im Rahmen dieses einstweiligen Rechtsschutzverfahren nicht möglich ist, muss eine
Folgenabwägung in jedem Fall im Sinne einer zu vermeidenden Gesundheitsgefährdung der Antragstellerin zu 1)
ausfallen.
Soweit die Antragsteller sinngemäß im Wege dieses einstweiligen Rechtsschutzverfahrens auch Leistungen über den
31. März 2008 begehren war die Beschwerde zurückzuweisen. Mit dem Bescheid vom 7. September 2007 hat der
Antragsgegner den Antragstellern Leistungen für einen Bewilligungszeitraum gewährt, der am 31. März 2008 endet.
Nach Aktenlage hat der Antragsgegner noch nicht über die Ansprüche der Antragsteller für den sich an den am 31.
März 2008 anschließenden Bewilligungsabschnitt entschieden. Die Antragsteller müssen zunächst den Erlass dieser
Entscheidung abwarten und ggf. dann um gesonderten einstweiligen Rechtsschutz nachsuchen. Sollte der
Antragsgegner hierüber aber bereits entschieden haben, dürfte der entsprechende Bewilligungsbescheid nicht in
analoger Anwendung des § 86 SGG Gegenstand des genannten Widerspruchsverfahrens geworden sein. Denn im
Rahmen des SGB II ist eine analoge Anwendung dieser Regelung auf Bewilligungsbescheide für Folgezeiträume
wegen der Besonderheiten dieses Rechtsgebietes nicht gerechtfertigt (Urteil des Bundessozialgerichts vom 7.
November 2006 - B 7 b AS 14/06 R -, zitiert nach Juris, für die das Klageverfahren entsprechende Regelung des § 96
SGG). Auch in diesem Fall müssten die Antragsteller um gesonderten einstweiligen Rechtsschutz nachsuchen.
Der Senat sieht Anlass für den Hinweis, dass, sollte sich erweisen, dass diese Anordnung von Anfang an ganz oder
teilweise ungerechtfertigt war, die Antragsteller verpflichtet sind, dem Antragsgegner den Schaden zu ersetzten, der
ihm aus der Vollziehung dieser Anordnung entsteht (§ 86 b Abs. 2 Satz 4 SGG in Verbindung mit § 945 ZPO).
Der Antrag der Antragstellerin zu 1) auf Gewährung von Prozesskostenhilfe für dieses Beschwerdeverfahren war im
Hinblick auf den in diesem Beschluss ausgesprochenen Kostenerstattungsanspruch mangels Rechtsschutzbedürfnis
abzulehnen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG in entsprechender Anwendung.
Dieser Beschluss kann nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht angefochten werden (§ 177 SGG).