Urteil des LSG Berlin-Brandenburg vom 06.12.2007

LSG Berlin und Brandenburg: aufschiebende wirkung, öffentliches interesse, vorläufiger rechtsschutz, zumutbare arbeit, vollziehung, sanktion, bestimmtheit, auszahlung, verwaltungsakt, leistungskürzung

Landessozialgericht Berlin-Brandenburg
Beschluss vom 06.12.2007 (rechtskräftig)
Sozialgericht Berlin S 94 AS 15620/07 ER
Landessozialgericht Berlin-Brandenburg L 5 B 1410/07 AS ER
Auf die Beschwerde des Antragstellers wird der Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 26. Juli 2007 aufgehoben.
Die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs des Antragstellers vom 11. Juli 2007 gegen den Sanktionsbescheid
vom 22. Juni 2007 wird angeordnet. Der Antragsgegner hat dem Antragsteller 312,00 EUR auszuzahlen. Der
Antragsgegner hat dem Antragsteller seine notwendigen außergerichtlichen Kosten für das gesamte einstweilige
Rechtsschutzverfahren zu erstatten.
Gründe:
Die Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 26. Juli 2007 ist gemäß §§
172 Abs. 1, 173 SGG zulässig und begründet. Der Eilantrag des Antragstellers richtet sich gemäß § 86 b Abs. 1 SGG
auf die Anordnung der aufschiebenden Wirkung seines Widerspruchs. Mit dem ursprünglichen Bewilligungsbescheid
sind ihm Leistungen zur Sicherung seines Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) für
den hier streitbefangenen Zeitraum vom 1. Juli 2007 bis zum 30. September 2007 in ungekürzter Höhe (728,26 Euro)
gewährt worden. Damit hat der Antragsgegner einen Rechtsgrund geschaffen, aus dem der Antragsteller für die
jeweiligen Monate die Auszahlung der ihm mit diesem Bescheid gewährten Leistungen verlangen kann. Wenn der
Antragsgegner meint, diese Leistungsgewährung sei vom 1. Juli 2007 an teilweise rechtswidrig geworden, so bedarf
der ursprüngliche Bewilligungsbescheid der Aufhebung gemäß § 40 Abs. 1 Satz 1 SGB II in Verbindung mit § 48 Abs.
1 Satz 1 SGB X. Dieser Bescheid, der hier unter dem 22. Juni 2007 ergangen ist, stellt eine den Antragsteller
belastende Regelung dar, weil mit ihr in die ihn begünstigende Rechtsposition eingegriffen worden ist. Da der
Widerspruch des Antragstellers gegen den Bescheid vom 22. Juni 2007 nach § 39 Nr. 1 SGB II keine aufschiebende
Wirkung hat, richtet sich der einstweilige Rechtsschutz nach § 86 b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGG. Hiernach kann das
Gericht auf Antrag in den Fällen, in denen Widerspruch oder Anfechtungsklage keine aufschiebende Wirkung haben,
die aufschiebende Wirkung ganz oder teilweise anordnen. Ob die aufschiebende Wirkung ganz oder teilweise
anzuordnen ist oder nicht, entscheidet das Gericht nach pflichtgemäßem Ermessen auf der Grundlage einer
Abwägung, bei der das private Interesse des Bescheidadressaten an der Aussetzung der Vollziehung gegen das
öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung des Verwaltungsaktes abzuwägen ist. Bestehen bei summarischer
Prüfung ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des streitigen Bescheides und ist daher eine Erfolgsaussicht des
Hauptsacheverfahrens zu bejahen, überwiegt regelmäßig das Aussetzungsinteresse, denn an der sofortigen
Vollziehung eines rechtswidrigen Verwaltungsakts kann schlechthin kein öffentliches Interesse bestehen (allg.
Meinung, vgl. nur Keller in Meyer-Ladewig u.a., SGG, 8. Aufl. 2005, Rdnr. 12 c zu § 86 b SGG; Krasney/Udsching,
Handbuch des sozialgerichtlichen Verfahrens, 3. Aufl. 2002, S. 174; Schoch, VwGO, Rdnr. 264 zu § 80 VwGO;
Finkelnburg u.a., Vorläufiger Rechtsschutz im Verwaltungsstreitverfahren, 5. Aufl. 2008, Rdnr. 967). Der gesonderten
Prüfung eines Eilbedürfnisses bedarf es in den Fällen des § 86 b Abs. 1 SGG, in denen die Rechtmäßigkeit der zu
vollziehenden Grundverfügung zentraler Prüfungsgegenstand ist, nicht; lediglich im Rahmen des Antrags auf Erlass
einer einstweiligen Anordnung nach § 86 b Abs. 2 SGG ist ein Eilbedürfnis als Anordnungsgrund glaubhaft zu machen
(anders insoweit Landessozialgericht Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 12. Juli 2007, L 28 B 1087/07 AS ER sowie
Beschluss vom 12. Mai 2006, L 10 B 191/06 AS ER, jeweils unter Bezugnahme auf Krodel, Das sozialgerichtliche
Eilverfahren, 2005, Rdnr. 197, der für eine Stattgabe im Aussetzungsverfahren ein besonderes Dringlichkeitsinteresse
fordert). Hieran gemessen hat der Eilantrag Erfolg, denn der Bescheid vom 22. Juni 2007 erweist sich bei
summarischer Prüfung als rechtswidrig, weil er in seinem Verfügungssatz zu unbestimmt ist. Mit dem Bescheid vom
22. Juni 2007 hat der Antragsgegner eine monatliche Absenkung des Arbeitslosengeldes II für die Zeit vom 1. Juli
2007 bis zum 30. September 2007 "um 30 vom Hundert der Regelleistung, höchstens jedoch in Höhe des (dem
Antragsteller) zustehenden Auszahlungsbetrages", "maximal" aber "in Höhe 104,00 Euro" verfügt. Den Anforderungen,
die an die Bestimmtheit eines Verwaltungsaktes zu stellen sind, wird dieser Verfügungssatz nicht gerecht. Das ist
somit zu Recht vom Antragsteller gerügt worden. Nach § 33 Abs. 1 SGB X muss ein Verwaltungsakt, um materiell
rechtmäßig zu sein, inhaltlich hinreichend bestimmt sein. In Zusammenhang mit einem Sanktionsbescheid nach § 31
SGB II bedeutet dies zumindest, dass dem Adressaten, in dessen Besitzstand eingegriffen wird, von vornherein klar
sein muss, in welcher konkreten Höhe er eine Absenkung hinzunehmen hat (ebenso zuletzt Landessozialgericht
Berlin-Brandenburg, Beschlüsse vom 12. Juli und 7. August 2007, L 28 B 1087/07 AS ER sowie L 28 B 1231/07 AS
ER). Im vorliegenden Fall ist dem Verfügungssatz des Sanktionsbescheides ein konkreter Absenkungsbetrag nicht zu
entnehmen. Er benennt lediglich einen Rahmen (mindestens 30 vom Hundert / höchstens in Höhe des zustehenden
Auszahlungsbetrages / maximal 104,00 Euro), um den die Regelleistung für den Sanktionzeitraum abgesenkt werden
soll. Der Bescheidadressat kann einem solchen Verfügungssatz nicht mit der notwendigen unmissverständlichen
Bestimmtheit entnehmen, um welchen konkreten Betrag die ihm bereits gewährte Regelleistung gekürzt wird und
welcher Betrag ihm letztendlich damit für die Folgezeit, für den Sanktionszeitraum, konkret zur Sicherung seines
Lebensunterhalts zur Verfügung steht. Der Hinweis des Antragsgegners auf den auch am 22. Juni 2007 ergangenen
Änderungsbescheid führt dabei nicht weiter. Denn auch dieser Bescheid benennt als eingetretene "Änderungen"
lediglich die "Berücksichtigung der Heizkostenabschläge" und nennt in seinem Verfügungssatz im Übrigen für die
Monate Mai bis Oktober 2007 vier unterschiedliche Leistungsbeträge zwischen 538,26 Euro und 728,26 Euro. Die
Berücksichtigung eines Absenkungsbetrages nach § 31 SGB II ist im Bescheid selbst nicht erwähnt. Lediglich im
Berechnungsbogen ist ein Minderungsbetrag wegen Sanktion in Höhe von 104 Euro aufgeführt. Angesichts des
Erfordernisses, dass ein Bescheid aus sich heraus verständlich und bestimmt sein muss, kann zur Überzeugung des
Senats die Erwähnung eines bestimmten Minderungsbetrages in einem anderen als dem Sanktionsbescheid – zumal
nur im ohnehin unübersichtlichen Berechnungsbogen – dem Sanktionsbescheid selbst nicht zu hinreichender
Bestimmtheit verhelfen. Ob die verhängte Sanktion an sich rechtmäßig war, bedarf nach alledem keiner Prüfung. Der
Senat weist den Antragsteller jedoch darauf hin, dass eine Sanktion stets droht, wenn eine vom Antragsgegner
angebotene zumutbare Arbeit nicht angenommen wird (§ 31 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Buchstabe c SGB II).
Soweit der Senat schließlich die Auszahlung von 312,00 Euro an den Antragsteller angeordnet hat, stützt er sich auf §
86b Abs. 1 Satz 2 SGG. Da der Bescheid vom 22. Juni 2007 hinsichtlich der nicht rechtmäßigen Leistungskürzung für
die Monate Juli bis September 2007 zum Zeitpunkt der hiesigen Entscheidung bereits vollzogen ist, hielt es der Senat
für geboten, die Aufhebung der Vollziehung anzuordnen. Der Antragsteller hat im Hinblick auf den Charakter der
Leistungen zur Grundsicherung als Leistungen zur Sicherung des Existenzminimums ein sachliches
Rückabwicklungsinteresse.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG analog.
Dieser Beschluss kann nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht angefochten werden (§ 177 SGG).