Urteil des LSG Berlin-Brandenburg vom 28.02.2008

LSG Berlin-Brandenburg: private krankenversicherung, treu und glauben, befreiung von der versicherungspflicht, falsche auskunft, nachforderung von beiträgen, verwirkung, krankenkasse, bestätigung

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Gericht:
Landessozialgericht
Berlin-Brandenburg 1.
Senat
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
L 1 KR 229/08
Dokumenttyp:
Urteil
Quelle:
Normen:
§ 28p SGB 4, § 28d SGB 4, § 28e
SGB 4
Beitragsforderung; Arbeitgeberhaftung; Verwirkung;
Herstellungsanspruch
Tenor
Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt
(Oder) vom 28. Februar 2008 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat die Kosten des Verfahrens mit Ausnahme der
außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen zu tragen, diese tragen die
Beigeladenen jeweils selbst.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Streitig ist eine Beitragsnachforderung in Höhe von 12.454,73 Euro.
Der Kläger führte seit dem 1. Juni 2000 ein Einzelunternehmen, dessen Gegenstand die
Handelsvertretung für Mode und Reisen war. Dieses Unternehmen gab er zum 31.
Dezember 2006 auf.
Die 1952 geborene Beigeladene zu 1) ist die Ehefrau des Klägers, sie war vom 23.
Dezember 2001 bis zum 31. August 2005 aufgrund eines schriftlichen Arbeitsvertrages
als Handelsvertreterin bei dem Kläger gegen ein monatliches Entgelt von 4.000 DM,
später 2.173,- und 2.000,- Euro, beschäftigt. Vorher war sie von 1991 bis Juli 1993 als
Handelsvertreterin selbständig, dann vom 1. August 1993 bis zum 30. Juni 2000 als
Reisende bei der Firma E K GmbH angestellt und seitdem arbeitslos gewesen. Seit dem
1. Juli 1992 unterhielt sie eine private Krankenversicherung, wegen Überschreitung der
Jahresarbeitsentgeltgrenze in ihrer Beschäftigung bei der Firma K GmbH war sie insoweit
nicht versicherungspflichtig. Von der unter 3) beigeladenen Krankenkasse, bei der sie
zuletzt pflichtversichert war, war ihr mit Schreiben vom 16. August 2000 bestätigt
worden, dass sie während des Bezugs von Leistungen nach dem SGB III ab dem 1. Juli
2000 von der Krankenversicherungspflicht als Leistungsbezieher befreit sei. Am 27.
Dezember 2001 wurde sie mit einem Antrag auf Mitgliedschaft wegen ihrer am 23.
Dezember 2001 aufgenommenen Beschäftigung bei der unter 2) beigeladenen
Krankenkasse vorstellig, wo sie die Auskunft erhielt, dass eine Befreiung vorliege.
Am 14. April und 2. Mai 2005 führte die beklagte Rentenversicherung eine
Betriebsprüfung für den Zeitraum vom 1. Dezember 2000 bis zum 31. Dezember 2004
durch. Durch Bescheid vom 30. Juni 2005 forderte die Beklagte 12.629,41 Euro an
Beiträgen nach. Die Beigeladene zu 1) sei ab dem 1. Dezember 2001 auch
versicherungs- und beitragspflichtig in der Kranken- und Pflegeversicherung gewesen.
Die von der Beigeladenen zu 2) bescheinigte Beitragsfreiheit sei mit dem Ende des
Bezugs von Leistungen nach dem SGB III erledigt gewesen.
Der Kläger legte Widerspruch ein, mit dem er darauf verwies, die Beigeladene zu 2) habe
entschieden, dass die Beigeladene zu 1) weiter privat krankenversichert bleiben dürfe.
Durch Bescheid vom 24. August 2005 änderte die Beklagte ihren Bescheid vom 30. Juni
2005 und forderte noch 12.454,73 Euro Beiträge nunmehr für die Beigeladene zu 3)
nach. An diese Krankenkasse, deren Beitragssätze niedriger als die der Beigeladenen zu
2) seien, müssten die Beiträge gezahlt werden. Auch gegen diesen Bescheid legte der
Kläger Widerspruch ein. Er führte aus, dass ihm und der Beigeladenen zu 1) anlässlich
eines Beratungsgesprächs mit einer Mitarbeiterin der Beigeladenen zu 2) am 27.
Dezember 2001, das auf Anraten der Steuerberaterin geführt worden sei, eröffnet
worden sei, dass eine Befreiung vorliege, also keine Beiträge zu gesetzlichen
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worden sei, dass eine Befreiung vorliege, also keine Beiträge zu gesetzlichen
Krankenversicherung abzuführen seien, sondern die bestehende private
Krankenversicherung fortgeführt werden könne. Auch sei die Beigeladene zu 1) nach §
20 SVG als DDR-Selbständige vollständig von der gesetzlichen Krankenversicherung
befreit. Daneben wurde ein Statusfeststellungsverfahren bei der Beigeladenen zu 2)
eingeleitet, mit dem die Frage einer abhängigen Beschäftigung der Beigeladenen zu 1)
bei dem Kläger überprüft werden sollte.
Durch Widerspruchsbescheid vom 2. Mai 2006 wies die Beklagte den Widerspruch
zurück. Die Beigeladene zu 1) sei seit Aufnahme der Beschäftigung am 23. Dezember
2001 versicherungspflichtig gewesen, ihr Einkommen habe die
Jahresarbeitsentgeltsgrenze nicht überschritten. Da die Beigeladene zu 1) seit dem 9.
September 2005 bis zum 11. September 2009 Arbeitslosengeld bezogen habe, was ein
vorheriges Beschäftigungsverhältnis voraussetze, sei die nochmalige Prüfung des
Bestehens eines Beschäftigungsverhältnisses nicht vonnöten.
Dagegen richtet sich die am 7. Juni 2006 bei dem Sozialgericht Frankfurt (Oder)
eingegangene Klage. Vor dem Sozialgericht hat der Kläger geltend gemacht, dass die
angefochtenen Bescheide in Anwendung des Rechtsinstituts des sozialrechtlichen
Herstellungsanspruchs aufzuheben seien. Auch habe es sich nicht um ein
sozialversicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis gehandelt, da die Beigeladene
zu 1) einen Kredit für ein Firmenfahrzeug gewährt habe und das Gewerbe in einem
Einfamilienhaus betrieben worden sei, das in ihrem Eigentum gestanden habe. Die
Beigeladene zu 1) und die Beigeladene zu 2) haben gegenüber dem Sozialgericht
bestätigt, dass von einer Mitarbeiterin der Beigeladenen zu 2) im Dezember 2001 die
(falsche) Auskunft erteilt worden sei, dass keine Versicherungspflicht in der gesetzlichen
Krankenversicherung eintrete.
Das Sozialgericht hat die angefochtenen Bescheide durch Urteil vom 28. Februar 2008
aufgehoben. Zur Begründung hat es ausgeführt, dass der Beklagten die Nachforderung
der Beiträge verwehrt sei. Zwar habe die Beigeladene zu 1) der Versicherungspflicht in
der Kranken- und Pflegeversicherung unterlegen. Die Beitragsforderung sei jedoch
verwirkt, da die Beklagte sich die im Dezember 2001 erteilte Auskunft der DAK, dass
wegen einer Befreiung keine Versicherungs- und Beitragspflicht bestehe, zurechnen
lassen müsse.
Gegen das ihr am 2. Mai 2008 zugestellte Urteil richtet sich die am 2. Juni 2008 bei dem
Landessozialgericht Berlin-Brandenburg eingegangene Berufung der Beklagten. Sie
meint, dass sie erstmals über die Versicherungs- und Beitragspflicht entschieden habe,
ohne an eine Entscheidung der Einzugsstelle gebunden zu sein. Die Auskunft der DAK
Fürstenwalde sei offenkundig fehlerhaft gewesen. Auch sei die Krankenkasse
unzuständig gewesen und habe zudem nicht im Wege eines Verwaltungsaktes
entschieden. Der Kläger könne keinen Vertrauensschutz aus einer mündlichen Auskunft
beanspruchen, er habe zumindest eine schriftliche Bestätigung verlangen können.
Die Erteilung der fehlerhaften Auskunft erscheine zwar glaubhaft, jedoch habe sie keine
Bindungswirkung. Lediglich im Rahmen des sozialrechtlichen Herstellungsanspruches
könne sie Bedeutung haben. Dieser sei jedoch auf die Herstellung eines rechtmäßigen
Zustandes gerichtet, was hier die Abführung der Beiträge bedeuten würde.
Das Sozialgericht habe versäumt, die Voraussetzungen der Verwirkung im Einzelnen zu
prüfen, nämlich ob der Verpflichtete infolge eines bestimmten Verhaltens des
Berechtigten drauf vertrauen durfte, dass dieser sein Recht nicht mehr geltend machen
werde und sich infolgedessen so eingerichtet habe, dass ihm durch die verspätete
Durchsetzung des Rechts nunmehr ein unzumutbarer Nachteil entstehen würde. Da
nach der Rechtsprechung des BSG noch nicht einmal eine Betriebsprüfung
Vertrauensschutz für die Zukunft entfalte, könne die bloße Auskunft einer unzuständigen
Einzugsstelle ebenso wenig eine entsprechende Wirkung haben. Innerhalb der laufenden
Verjährungsfristen müsse sich ein Arbeitgeber ohnehin darauf einstellen, dass selbst von
der Einzugsstelle erlassene Verwaltungsakte wieder außer Kraft gesetzt werden könnten.
Ein Amtshaftungsanspruch sei vorliegend nicht zu prüfen. Das Institut einer
„verbindlichen Auskunft“ sei dem Sozialverwaltungsrecht unbekannt. Der Arbeitsvertrag,
die Anmeldung zur Renten- und Arbeitslosenversicherung ließen keine Zweifel daran,
dass die Beigeladene zu 1) in einem versicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnis
gestanden habe. Die nachgeforderten Beiträge seien auch noch nicht verjährt.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt (Oder) aufzuheben und die Klage
abzuweisen.
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Der Kläger beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Das Bestehen einer Befreiung von der Krankenversicherung sei ihm am 27. Dezember
2001 nicht nur mündlich versichert worden, eine entsprechende Auskunft sei auch
schriftlich erteilt worden. Danach habe keine Veranlassung bestanden, noch einen
Verwaltungsakt herbeizuführen. Die Fehlerhaftigkeit der Auskunft sei weder für ihn noch
für die Beigeladene zu 1) offenkundig gewesen, die sich erstmals mit
sozialversicherungsrechtlichen Fragestellungen zu befassen gehabt hätten. Aufgrund
der erteilten Auskunft sei die private Krankenversicherung fortgeführt worden. Zudem
sei der Antrag auf Mitgliedschaft bei der Beigeladenen zu 2) bei dieser verblieben, so
dass nicht erkennbar geworden sei, dass eine weitere Tätigkeit oder Antragstellung noch
erforderlich sein könnte. Der von der Beklagten bemühte Vergleich mit einer
Betriebsprüfung sei unzutreffend, der Verweis auf den Zivilrechtsweg unangemessen
und nicht durchführbar, zumal der Kläger seit Dezember 2006 sein Gewerbe abgemeldet
habe. Gerade für Fallgestaltungen der vorliegenden Art sei der sozialrechtliche
Herstellungsanspruch entwickelt worden. Außerdem habe zwischen den Eheleuten
ohnehin kein sozialversicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis bestanden, da die
Beigeladene zu 1) nicht weisungsgebunden gewesen sei, sondern über ihre Arbeitszeit
und Arbeitsgestaltung völlig frei habe bestimmen können.
Einer Nachforderung der Beiträge stünden sowohl Verwirkung als auch der
sozialrechtliche Herstellungsanspruch entgegen. Das Rechtsinstitut der Verwirkung
setzte nicht zwingend einen Verwaltungsakt voraus, auch ein tatsächliches Verhalten
komme als Umstandsmoment in Betracht, vorliegend die Falschauskunft und die
Nichterhebung von Beiträgen in Kenntnis des Bestehens eines Arbeitsverhältnisses. Die
Voraussetzungen eines Herstellungsanspruches seien mit der fehlerhaften Auskunft
erfüllt. Die begehrte Rechtsfolge, die Befreiung von der Versicherungspflicht, sei auch in
ihrer wesentlichen Struktur im Gesetz vorgesehen, etwa für den Fall eines Absinkens des
Einkommens unterhalb der Versicherungspflichtgrenze in der gesetzlichen
Krankenversicherung.
Für die weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte und
die Verwaltungsakte der Beklagten verwiesen, die vorgelegen haben und Gegenstand
der mündlichen Verhandlung gewesen sind.
Entscheidungsgründe
Die Berufung der Beklagten ist nicht begründet. Das Urteil des Sozialgerichts ist
zutreffend. Der von der Beklagten festgesetzten Forderung steht der Einwand der
Verwirkung entgegen.
Rechtsgrundlage des Prüfbescheides und der Beitragsnachforderung ist § 28 p Abs. 1
Satz 1 des Sozialgesetzbuches, Viertes Buch - SGB IV -. Nach dieser Vorschrift prüfen
die Träger der Rentenversicherung bei den Arbeitgebern, ob diese ihre Meldepflichten
und ihre sonstigen Pflichten nach dem SGB IV, die im Zusammenhang mit dem
Gesamtsozialversicherungsbeitrag entstehen, ordnungsgemäß erfüllen; sie prüfen
insbesondere die Richtigkeit der Beitragszahlungen und der Meldungen mindestens alle
vier Jahre. Nach § 28 p Abs. 1 Satz 5 SGB IV erlassen die Träger der Rentenversicherung
im Rahmen der Prüfung Verwaltungsakte zur Versicherungspflicht und Beitragshöhe in
der Kranken-, Pflege- und Rentenversicherung sowie nach dem Recht der
Arbeitsförderung gegenüber den Arbeitgebern; insoweit gelten § 28 h Abs. 2 SGB IV
sowie § 93 in Verbindung mit § 89 Abs. 5 des Sozialgesetzbuches, Zehntes Buch (SGB
X) nicht.
Als Träger der Rentenversicherung war die Beklagte danach zur Prüfung des Klägers und
zum Erlass des Nachforderungsbescheides zuständig; die Träger der
Rentenversicherung haben sich nach § 28 p Abs. 2 Satz 2 SGB IV darüber abzustimmen,
welcher Arbeitgeber jeweils von ihnen zu prüfen ist. Unzutreffend in der Sache sind
indessen die Feststellungen der Beklagten zur Nachforderung von
Sozialversicherungsbeiträgen für die Beschäftigung der Beigeladenen zu 1).
Zwar sind Beiträge für einen kraft Gesetz versicherten Beschäftigten zur Kranken- und
Pflegeversicherung als Teil des Gesamtsozialversicherungsbeitrags zu zahlen (§ 28 d
SGB IV); zahlungspflichtig ist nach § 28 e Abs. 1 Satz 1 SGB IV der Arbeitgeber. Die
Beigeladene zu 1) war auch dem Grunde nach versicherungspflichtig in der Kranken- und
Pflegeversicherung gemäß §§ 5 Abs. 1 Nr. 1 des Sozialgesetzbuches, Fünftes Buch (SGB
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Pflegeversicherung gemäß §§ 5 Abs. 1 Nr. 1 des Sozialgesetzbuches, Fünftes Buch (SGB
V) und § 20 Abs. 1 Satz 1 und Satz 2 Nr. 1 erster Halbsatz des Sozialgesetzbuches,
Elftes Buch (SGB XI). Diese Vorschriften knüpfen jeweils an den Tatbestand einer
Beschäftigung gegen Entgelt an.
Gemäß § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB IV ist Beschäftigung die nichtselbstständige Arbeit,
insbesondere in einem Arbeitsverhältnis. Nach der ständigen Rechtsprechung des
Bundessozialgerichts - BSG - setzt eine Beschäftigung voraus, dass der Arbeitnehmer
vom Arbeitgeber persönlich abhängig ist. Bei einer Beschäftigung in einem fremden
Betrieb ist dies der Fall, wenn der Beschäftigte in den Betrieb eingegliedert ist und dabei
einem Zeit, Dauer, Ort und Art der Ausführung umfassenden Weisungsrecht des
Arbeitgebers unterliegt. Demgegenüber ist eine selbstständige Tätigkeit vornehmlich
durch das eigene Unternehmerrisiko, das Vorhandensein einer eigenen Betriebsstätte,
die Verfügungsmöglichkeit über die eigene Arbeitskraft und die im Wesentlichen frei
gestaltete Tätigkeit und Arbeitszeit gekennzeichnet. Ob jemand abhängig beschäftigt
oder selbstständig tätig ist, hängt davon ab, welche Merkmale überwiegen (zur
Verfassungsmäßigkeit dieser Abgrenzung Bundesverfassungsgericht, Kammerbeschluss
vom 20. Mai 1996 - 1 BvR 21/96 - SozR 3-2400 § 7 Nr. 11). Maßgebend ist stets das
Gesamtbild, das sich zwar nach den tatsächlichen Verhältnissen bestimmt, zu denen
aber auch die rechtlich relevanten Umstände zählen, die im Einzelfall eine wertende
Zuordnung zum Typus der abhängigen Beschäftigung erlauben. Weist eine Tätigkeit
Merkmale auf, die sowohl auf Abhängigkeit als auch auf Selbständigkeit hinweisen, so ist
entscheidend, welche Merkmale überwiegen (BSG, Urteil vom 23. Juni 1994 - 12 RK 72/92
- NJW 1994, 2974, 2975) und der Arbeitsleistung das Gepräge geben (BSG, Beschluss
vom 23. Februar 1995 - 12 BK 98/94 -).
Auszugehen für die Beurteilung einer Beschäftigung ist zunächst vom Vertragsverhältnis
der Beteiligten, so wie es im Rahmen des rechtlich Zulässigen tatsächlich vollzogen
worden ist. Eine im Widerspruch zu ursprünglich getroffenen Vereinbarungen stehende
tatsächliche Beziehung geht zwar einer nur formellen Vereinbarung vor. Aus der
Nichtausübung eines Rechts sind aber solange keine Schlüsse zu ziehen, wie die
Rechtsposition nicht wirksam abgedungen ist. Bei den tatsächlichen Verhältnissen ist
daher unabhängig von ihrer Ausübung auch die einem Beteiligten zustehende
Rechtsmacht zu berücksichtigen (BSG-Urteile vom 8. August 1990, 11 RAr 77/89, SozR
3-2400 § 7 Nr. 4 Seite 14 und vom 8. Dezember 1994, 11 RAr 49/94, SozR 3-4100 § 168
Nr. 18 Seite 45, vgl. insgesamt BSG, Urteil vom 25. Januar 2006 - B 12 KR 0/04 R - Juris).
Diese Grundsätze gelten auch bei einer Tätigkeit in dem Betrieb eines
Familienangehörigen. Auch hier ist die Abgrenzung zwischen einem abhängigen
Beschäftigungsverhältnis, einer Mitunternehmerschaft oder einer nur familienhaften
Mitarbeit unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles vorzunehmen (BSG,
Urteil vom 17. Dezember 2002 - B 7 AL 34/02 R -). Indessen ist nach der zu
Familiengesellschaften mbH ergangenen Rechtssprechung des BSG bei Mitarbeit eines
Familienangehörigen trotz fehlender Beteiligung am Gesellschaftskapital eine
selbständige Tätigkeit anzunehmen, wenn die familiäre Verbundenheit der beteiligten
Familienmitglieder zwischen ihnen ein Gefühl erhöhter Verantwortung schafft, die etwa
dadurch zum Ausdruck kommt, dass die Höhe der Bezüge von der Ertragslage des
Unternehmens abhängig gemacht wird, oder wenn es aufgrund der familienhaften
Rücksichtnahme an der Ausübung eines Direktionsrechts völlig mangelt. Hiervon ist
insbesondere anzunehmen, wenn jemand - obwohl nicht maßgeblich am
Unternehmenskapital beteiligt - aufgrund von verwandtschaftlichen Beziehungen
faktisch wie ein Alleininhaber die Geschäfte des Unternehmens nach eigenem
Gutdünken führt (vgl. BSG Urteil vom 8. Dezember 1987 - 7 Rar 25/86 -; Urteil vom 14.
Dezember 1999 - B 2 U 48/98 R - ).
Bei Anwendung dieser Grundsätze auf den vorliegenden Fall ist – entgegen der
Rechtsauffassung des Klägers - von einem Beschäftigungsverhältnis im Sinne des § 7
Abs. 1 SGB IV auszugehen. Alleiniger Inhaber des Betriebes war der Kläger. Dafür, dass
die Beigeladene zu 1), die mit ihm den Güterstand der Gütertrennung vereinbart hatte,
Mitinhaberin gewesen sein könnte, ist nichts ersichtlich. Auch für den Abschluss eines
Gesellschaftsvertrags zwischen den Eheleuten gibt es keinerlei Anhaltspunkte. Zudem
belegt das gelebte Rechtsverhältnis, dass die Beteiligten während des gesamten
Zeitraums der Tätigkeit davon ausgingen, dass die Beigeladene zu 1) in dem Betrieb
abhängig beschäftigt war. Entsprechend wurde sie zur Sozialversicherung angemeldet
und Beiträge zur Renten- und Arbeitslosenversicherung gezahlt. Hinweise darauf, dass
die Ehegatten sich dabei in einem Rechtsirrtum befanden, gibt es nicht. Dass der Kläger
seine vorherige Bewertung des Beschäftigungsverhältnisses nun im Nachhinein in Frage
stellen lässt, weil er so der Beitragsnachforderung entgehen will, entwertet die
Aussagekraft des vorherigen über lange Jahre gelebten Rechtsverhältnisses nicht.
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Das sich aus der Betriebsinhaberschaft des Klägers ergebende Weisungsrecht wird nicht
dadurch hinfällig, dass es nie praktiziert worden sein mag, worauf zumindest die von der
Beigeladenen zu 1) gegenüber der Beigeladenen zu 2) getätigten Angaben hindeuten.
Entscheidend ist nämlich nicht die tatsächliche regelmäßige Ausübung des
Weisungsrechtes, sondern dessen rechtlicher Bestand. Das aus der
Betriebsinhaberschaft stammende Weisungsrecht ist nie formell aufgehoben worden,
entsprechend hätte es in einem Konfliktfall ausgeübt werden können. Dass ein solcher
Konfliktfall möglicherweise nie eintrat, ist für die rechtliche Bewertung unerheblich.
Für eine abhängige Beschäftigung spricht weiter, dass die Beigeladene zu 1) monatliche
Entgeltzahlungen erhalten hat, die von dem jeweiligen Betriebsergebnis unabhängig
waren. Das Entgelt ging auch erheblich über bloße Unterhaltsleistungen hinaus, so dass
nicht von einer versicherungsfreien familienhaften Mithilfe ausgegangen werden kann.
Zwar hat die Beigeladene zu 1) dem Kläger ein Darlehen für betriebliche Zwecke
gewährt und ihm Räume zur Betrieb seines Unternehmens vermietet, was beides für
einen Arbeitnehmer untypisch ist. Diese Art der Beteiligung am Schicksal des Betriebs
ist aber allein ihrer Stellung als Ehegatte geschuldet, sie begründet keine
Mitunternehmerschaft. Der Senat vermag ebenso wenig festzustellen, dass allein die
Beigeladene zu 1) „Herz und Seele“ der Firma war. Zwar mag sie besondere
Branchenkenntnisse gehabt habend. Daraus ergibt sich aber noch nicht, dass der Kläger
ohne sie nicht zur Führung des Betriebes in der Lage gewesen wäre, zumal der Betrieb
schon mehr als ein Jahr bestanden hatte, ehe die Beigeladene zu 1) eingestellt wurde.
Die Beigeladene zu 1) war auch nicht aus besonderen Gründen versicherungsfrei in der
Kranken- und Pflegeversicherung. Die ihr von der Beigeladenen zu 3) bestätigte
Versicherungsfreiheit nach § 8 Abs. 1 Nr. 1 a SGB V fand ihr Ende mit dem Ausscheiden
aus dem Bezug von Leistungen nach dem SGB III, worauf schon die Beklagte zutreffend
hingewiesen hat. Die Beigeladene zu 1) war auch nicht wegen Überschreitens der
Jahresarbeitsentgeltgrenze nach § 6 Abs. 1 Nr. 1 SGB V versicherungsfrei. Diese betrug
im Jahre 2001 monatlich 6.525,- DM für das Beitrittsgebiet, die von der Klägerin mit
ihrem Monatsgehalt von 4.000,-- DM nicht erreicht wurden. Daran hat sich nichts
geändert, nachdem die Beitragsbemessungsgrenze für das Beitrittsgebiet im Jahre 2002
auf 3.375,- Euro festgesetzt wurde. Auch den seitdem für die folgenden Jahre
maßgebenden (noch zu steigernden) Grundbetrag von 45.900,- Euro bzw. 41.400,- Euro
jährlich (§ 6 Abs. 6 und 7 SGB V) hat die Beigeladene zu 1) nie erreicht. § 6 Abs. 3 a SGB
V greift ebenfalls nicht ein, weil die Beigeladene zu 1) bei Aufnahme der Beschäftigung
am 23. Dezember 2001 noch nicht 55 Jahre alt war. Auf § 20 SVG kann es schon
deswegen nicht ankommen, weil diese Vorschrift nur die Rentenversicherung betrifft.
Demnach waren für die Kranken- und Pflegeversicherung der Beigeladenen zu 1)
Beiträge zu zahlen, die sich nach dem Arbeitsentgelt aus der versicherungspflichtigen
Beschäftigung bestimmten (§§ 226 Abs. 1 Satz 1 SGB V, 57 Abs. 1 SGB XI).
Die Beitragsnachforderung scheitert nicht an dem Rechtsinstitut des sozialrechtlichen
Herstellungsanspruches. Zutreffend weist die Beklagte insoweit darauf hin, dass dieser
nur auf die Herstellung rechtmäßiger Zustände gerichtet ist. Zugunsten der
Beigeladenen zu 1) bestand aber nicht die Möglichkeit, sich ab dem 23. Dezember 2001
von der Beitragspflicht zur Kranken- und Pflegeversicherung zu befreien. Denn § 8 Abs. 1
Nr. 1 und 3 SGB V beschränkt diese Möglichkeit auf Fälle, in denen Versicherungspflicht
eintritt wegen einer Änderung der Jahresarbeitsentgeltgrenze oder der Aufnahme einer
Beschäftigung mit nicht mehr als der Hälfte der regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit.
Hier hatte sich aber nicht die Jahresarbeitsentgeltgrenze erhöht, sondern das Gehalt der
Beigeladenen zu 1) ist gegenüber ihrer letzten Beschäftigung niedriger geworden. Die
Beigeladene zu 1) ist auch nicht im Rahmen einer Teilzeitbeschäftigung wieder
erwerbstätig geworden. Ihr Arbeitsvertrag belegt, dass eine Beschäftigung im Umfang
von 40 Stunden in der Woche vereinbart wurde. Demgemäß sah das Gesetz eine
Befreiung der Beigeladenen zu 1) von der Krankenversicherungspflicht der Art nach nicht
vor, es wurde nicht lediglich versäumt, einen entsprechenden Antrag zu stellen.
Der Beitragsforderung steht indessen der Einwand der Verwirkung entgegen. Als
Ausprägung des Grundsatzes von Treu und Glauben ist das Rechtsinstitut der
Verwirkung auch im Sozialversicherungsrecht und insbesondere für die Nachforderung
von Beiträgen zur Sozialversicherung für zurückliegende Zeiten anerkannt (BSG, zuletzt
Urteil v. 1. Juli 2010 – B 13 R 67/09 R – Rdnr. 30 mit. weit. Nachw.). Sie setzt voraus, dass
der Berechtigte die Ausübung seines Rechtes über einen längeren Zeitraum unterlassen
hat und weitere besondere Umstände hinzukommen, die das verspätete
Geltendmachen des Rechts nach Treu und Glauben als illoyal erscheinen lassen. Solche
besonderen Umstände liegen vor, wenn der Verpflichtete aufgrund eines bestimmten
Verhaltens des Berechtigten darauf vertrauen durfte, dass dieser sein Recht nicht mehr
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Verhaltens des Berechtigten darauf vertrauen durfte, dass dieser sein Recht nicht mehr
ausübt und der Verpflichtete sich darauf eingerichtet hat. Dabei sind strenge
Anforderungen an das Verwirkungsverhalten zu stellen, weil dem Interesse des
Beitragsschuldners, seine Haftung zu begrenzen, bereits durch die vierjährige
Verjährungsfrist Rechnung getragen wird. Dementsprechend reicht regelmäßig ein
bloßes Unterlassen nicht für ein Verwirkungsverhalten aus, es muss ein konkretes
Verhalten des Gläubigers vorliegen, welches bei dem Schuldner die berechtigte
Erfahrung erweckt hat, dass eine Forderung nicht besteht oder nicht geltend gemacht
wird (BSG, a.a.O, Rdnr. 31- 33).
Diese engen Voraussetzungen sind hier gegeben. Unstreitig und von der Beigeladenen
zu 2) ausdrücklich bestätigt ist, dass dem Kläger und der Beigeladenen zu 1) am 27.
Dezember 2001 von einer Mitarbeiterin der Beigeladenen zu 2) die Auskunft erteilt
worden ist, dass trotz Aufnahme der Beschäftigung am 23. Dezember 2001 keine
Versicherungspflicht in der gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherung eingetreten
sei, vielmehr die private Krankenversicherung fortgesetzt werden könne. Das mussten
der Kläger und die Beigeladene zu 1) als Bestätigung verstehen, dass keine Beiträge zur
Kranken- und Pflegeversicherung gefordert werden. Darauf haben sich die Beteiligten
auch eingestellt, denn die Abführung von Sozialversicherungsbeiträgen ist insoweit
unterblieben und die Beigeladene zu 1) hat stattdessen ihre private
Krankenversicherung weiter geführt.
Das Vertrauen auf die Auskunft der Beigeladenen zu 2) war auch berechtigt. Der Senat
hat zunächst keine Anhaltspunkte, aus denen abgeleitet werden könnte, dass der Kläger
und die Beigeladene zu 1) besseres Wissen über den Eintritt der Versicherungspflicht
hatten. Entgegen der Rechtsauffassung der Beklagten war die Beigeladene zu 2) auch
(jedenfalls zunächst) zuständig für die Durchführung der Krankenversicherung der
Beigeladenen zu 1) ab dem 23. Dezember 2001 gewesen. Das ergibt sich aus §§ 173,
175 SGB V. Nach diesen Vorschriften sind Versicherungspflichtige Mitglied der von ihnen
gewählten Krankenkasse; das Wahlrecht wird durch Erklärung gegenüber der
Krankenkasse ausgeübt. Der in den Akten befindliche Aufnahmeantrag belegt, dass die
Beigeladene zu 1) am 27. Dezember 2001 die Beigeladene zu 2) als zuständige
Krankenkasse gewählt hat. An eine vorherige Mitgliedschaft bei der Beigeladenen zu 3)
war die Beigeladene zu 1) nicht gebunden, da sie zuletzt von der Versicherungspflicht
befreit worden war und ihre Versicherungspflicht mit Aufnahme der Beschäftigung am
23. Dezember 2001 neu begründet wurde. Damit war die Beigeladene zu 1) gemäß §
28h SGB IV als Einzugstelle zuständig für die Einziehung des
Gesamtsozialversicherungsbeitrages, einschließlich der Beiträge zur Kranken- und
Pflegeversicherung, geworden. Dass es für eine Verwirkung von Beitragsansprüchen auf
das Verhalten der zuständigen Einzugsstelle (und nicht auf das eines prüfenden
Rentenversicherungsträgers) ankommt, steht im Übrigen in Übereinstimmung mit der
Rechtsprechung des BSG (Urt. v. 30. November 1978 – 12 RK 6/76 -).
Die von der Beklagten gegen die Annahme einer Verwirkung angeführten Erwägungen
überzeugen den Senat nicht. Soweit die Beklagte geltend macht, dass nach der
Rechtsprechung des BSG selbst eine Betriebsprüfung kein schutzwürdiges Vertrauen
begründen könne, übersieht sie, dass das BSG diesen Grundsatz auf Fälle beschränkt
hat, in denen keine ausdrücklichen Feststellungen zu bestimmten Sachverhalten erfolgt
sind (BSG, Urt. v. 30. November 1978 – 12 RK 6/76 – Rdnr. 15/16; Urt. v. 14. Juli 2004 – B
12 KR 1/04 R – Rdnr. 44; Urt. v. 28. April 1987 – 12 RK 47/85 – Rdnr. 18/19). Hier geht es
aber nicht um ein einfaches Schweigen, sondern um die ausdrückliche, wenn auch
falsche Auskunft der Beigeladenen zu 2), dass keine Versicherungspflicht in der Kranken-
und Pflegeversicherung eintrete. Der Senat vermag sich auch nicht der Auffassung der
Beklagten anzuschließen, dass als Verwirkungsverhalten nur eine schriftliche Auskunft
oder Bestätigung in Betracht kommt. Dies steht mit der Rechtsprechung des BSG nicht
in Übereinstimmung, die zwar für ein Verwirkungsverhalten besondere über ein bloßes
Unterlassen hinausgehende Handlungen fordert, nicht aber die Schriftform (BSG, Urt. v.
1. Juli 2010 – B 13 R 67/09 R - Rdnr. 33; Urt. v. 29. Januar 1997 – 5 RJ 52/94 – Rdnr. 18).
Verfehlt erscheint dem Senat schließlich die Rechtsauffassung der Beklagten insoweit zu
sein, als ausgeführt wurde, dass selbst im Wege eines Verwaltungsaktes getroffene
Feststellungen der Einzugsstelle im Rahmen einer Betriebsprüfung innerhalb der
Verjährungsfrist ohne weiteres zu Lasten der Beitragsschuldner korrigiert werden
könnten. Lediglich nach Aufhebung von entsprechenden Verwaltungsakten im Rahmen
der den Betroffenen Vertrauensschutz gewährenden §§ 44ff SGB X könnte der prüfende
Rentenversicherungsträger in diesen Fällen nämlich eine von den Einzugsstellen
abweichende Entscheidung treffen (vgl. nur Seewald in KassKomm § 28pm SGB IV Rdnr.
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Nach alledem war die Berufung zurückzuweisen.
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Die Kostenentscheidung ergeht nach § 197a des Sozialgerichtsgesetzes - SGG – i.V.m. §
154 der Verwaltungsgerichtsordnung.
Gründe für die Zulassung der Revision nach § 160 Abs. 2 SGG sind nicht ersichtlich.
Insbesondere weicht der Senat nicht von Rechtssätzen der höchstrichterlichen
Rechtsprechung ab. Auch eine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache ist nicht
erkennbar, da über das Vorliegen der Voraussetzungen einer Verwirkung nach den
Umständen des konkreten Einzelfalles zu entscheiden ist.
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