Urteil des LSG Berlin-Brandenburg vom 08.03.2007

LSG Berlin und Brandenburg: eltern, haushalt, vermietung, ausbildung, wohnung, verordnung, kleinkind, verwaltungsverfahren, obsiegen, vertretung

Landessozialgericht Berlin-Brandenburg
Beschluss vom 08.03.2007 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Cottbus S 22 AS 1083/06
Landessozialgericht Berlin-Brandenburg L 10 B 254/07 AS PKH
Auf die Beschwerde der Klägerin wird der Beschluss des Sozialgerichts Cottbus vom 19. Januar 2007 aufgehoben.
Der Klägerin wird für das Klageverfahren Prozesskostenhilfe ohne Ratenzahlung gewährt und Frau Rechtsanwältin M
K, M V, beigeordnet.
Gründe:
Die frist- und formgerecht eingelegte Beschwerde gegen den Beschluss des Sozialgerichts Cottbus vom 19. Januar
2007 ist statthaft (§ 172 Sozialgerichtsgesetz (SGG)) und begründet.
Der Klägerin ist Prozesskostenhilfe unter Beiordnung ihrer Prozeßbevollmächtigten zu gewähren, da sie nach ihren –
hier mit Blick auf § 73 a Abs 1 Satz 1 in Verbindung mit § 127 Abs 1 Satz 3 Zivilprozeßordnung (ZPO) nicht näher
darzulegenden – persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen nicht in der Lage ist, die Kosten der Prozessführung
auch nur teilweise oder in Raten aufzubringen (§ 73 a Abs 1 Satz 1 SGG iVm §§ 114, 115 ZPO).
Der beabsichtigten Rechtsverfolgung kann auch eine hinreichende Aussicht auf Erfolg (§ 73 a Abs 1 Satz 1 SGG iVm
§ 114 ZPO) nicht abgesprochen werden. Eine hinreichende Aussicht auf Erfolg ist gegeben, wenn bei summarischer
Prüfung des Sach- und Streitstandes eine "reale Chance zum Obsiegen" besteht, während sie bei einer "nur
entfernten Erfolgschance" abzulehnen ist.
Anspruch auf Arbeitslosengeld II (§§ 19, 20, 22 Zweites Buch Sozialgesetzbuch (SGB II)) haben gemäß § 7 Abs 1
Satz 1 SGB II Personen, bei denen neben den unter Nrn 1, 2 und 4 genannten Voraussetzungen – die hier nicht
streitig sind – ua Hilfebedürftigkeit (Nr 3) besteht. Vorliegend kann eine Hilfebedürftigkeit der Klägerin iSv § 7 Abs 1 Nr
3 SGB II iVm § 9 SGB II jeweils idF des Gesetzes zur Änderung des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch und anderer
Gesetze vom 24. März 2006 (BGBl I S 558; im Folgenden ohne Zusatz zitiert) ohne weitere Aufklärung des
Sachverhaltes nicht ausgeschlossen werden, da bisher weder von der Beklagten noch vom Sozialgericht die hierzu
erforderlichen Ermittlungen zu den wirtschaftlichen Verhältnissen der mit der einkommens- und vermögenslosen
Klägerin eine Bedarfsgemeinschaft bildenden Eltern vorgenommen worden sind. Denn bei den Ansprüchen zur
Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem SGB II handelt es sich um Individualansprüche der einzelnen Mitglieder
der Bedarfsgemeinschaft, die von diesen individuell im Verwaltungsverfahren (vgl zur Beteiligtenfähigkeit: §§ 10, 11
Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X)) geltend gemacht werden können (§ 38 Abs 2 SGB II enthält nur eine
Vermutung der Vertretung, die bei Stellung des Antrages durch ein anderes Mitglied der Bedarfsgemeinschaft
widerlegt ist; vgl hierzu SG Berlin Beschluss vom 20. Dezember 2006 – S 37 AS 11401/06 – veröffentlicht in Juris)
bzw gerichtlich geltend zu machen sind (ständige Rspr des Senats zB Urteil vom 09. Mai 2006 – L 10 AS 1093/05 -
und so auch BSG zB Urteil vom 07. November 2006 – B 7b AS 8/06 R -, jeweils veröffentlicht in Juris), und deren
Voraussetzungen im Einzelnen von der Beklagten und dem Gericht zu prüfen sind und zwar unabhängig davon, ob die
anderen Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft Leistungen für sich begehren bzw beantragt haben.
Vorliegend beurteilt sich die Frage der Hilfebedürftigkeit der Klägerin nicht nur nach ihren Einkommens- und
Vermögensverhältnissen, sondern auch nach den Einkommens- und Vermögensverhältnissen ihrer Eltern. Denn nach
§ 9 Abs 1 SGB II ist hilfebedürftig, wer seinen Lebensunter¬halt und den Lebensunterhalt der mit ihm in einer
Bedarfsgemeinschaft lebenden Person nicht oder nicht ausreichend aus eigenen Kräften und Mitteln, ua nicht aus
dem zu berück¬sich¬tigenden Einkommen (§ 11 SGB II), sichern kann und die erforderliche Hilfe nicht von anderen
erhält. Insbesondere ist bei unverheirateten Kindern, die mit ihren Eltern in einer Bedarfsgemeinschaft leben und die
die Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nicht aus ihrem eigenen Einkommen oder Vermögen beschaffen
können, auch das Einkommen und Vermögen der Eltern zu berücksichtigen (§ 9 Abs 2 Satz 2 SGB II). Grundsätzlich
gilt jede Person der Bedarfsgemeinschaft im Verhältnis des eigenen Bedarfs zum Gesamtbedarf als hilfebedürftig,
soweit in der Bedarfsgemeinschaft nicht der gesamte Bedarf aus eigenen Kräften und Mitteln gedeckt ist (§ 9 Abs 2
Satz 3 SGB II).
Welche individuellen Einzelleistungsansprüche der Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft begründet sind, ist
dementsprechend bei bestehender Bedarfsgemeinschaft zu ermitteln, indem der Summe des Hilfebedarfs der die
Bedarfsgemeinschaft bildenden Personen das ("bereinigte", einzusetzende) Einkommen und Vermögen gegenüber
gestellt wird und das ggf verbleibende Defizit (der vom Träger zu deckende Bedarf) den Mitgliedern der
Bedarfsgemeinschaft anteilig zugeordnet wird. Insoweit können auch bei entsprechender Antragstellung realisierbare
Ansprüche der Mutter der Klägerin begründet sein, wenn das Einkommen und Vermögen der Mutter zusammen mit
dem Einkommen und Vermögen des Vaters nicht den Gesamtbedarf der Bedarfsgemeinschaft sichert (so genannte
fiktive Hilfebedürftigkeit vgl dazu BSG Urteile vom 07. November 2006 – B 7b AS 8/06 R und B 7b AS 10/06 R –
veröffentlicht in Juris). Dabei ist es im Ergebnis nicht von Belang, ob die Bedarfsgemeinschaft ausgehend von der
Mutter der Klägerin gebildet wird (§ 7 Abs 3 Nr 1 iVm Abs 3 Nr 3 a) und Nr 4 SGB II) oder ob die Klägerin als
erwerbsfähige Hilfebedürftige (§ 7 Abs 3 Nr 1 SGB II) angesehen wird und ihre Eltern nach § 7 Abs 3 Nr 2 SGB II als
Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft erfasst werden, in jedem Fall sind einerseits der Bedarf der Klägerin und ihrer
Eltern und andererseits das Einkommen und Vermögen der Klägerin und ihrer Eltern maßgebend dafür, ob und ggf in
welcher Höhe Leistungsansprüche bestehen. Der Vater der Klägerin gehört als Altersrentner zur Bedarfsgemeinschaft,
auch wenn er gemäß § 7 Abs 4 SGB II selbst nicht – ergänzend – Leistungen nach dem SGB II erhalten kann (vgl
insbesondere BSG Urteil vom 23. November 2006 – B 11b AS 1/06 R – veröffentlicht in Juris). Evtl gehört auch die
Schwester der Klägerin (und deren Kind), deren Alter den Akten nicht entnommen werden kann, zur
Bedarfsgemeinschaft, wobei zur Bestimmung ihrer Hilfebedürftigkeit das Einkommen und Vermögen der Eltern nicht
berücksichtigt werden darf (§ 9 Abs 3 SGB II).
Ob eine Bedarfsgemeinschaft zwischen Eltern und unverheirateten Kindern, die das 25. Lebensjahr noch nicht
vollendet haben, besteht, hängt nach § 7 Abs 3 Nr 2 und Nr 4 SGB II davon ab, ob die Beteiligten in einem Haushalt
leben bzw einem Haushalt angehören. Wenn zwischen engen Verwandten eine Haushaltsgemeinschaft besteht, reicht
dieser Sachverhalt aus, eine Bedarfsgemeinschaft zu begründen. Die Feststellung weiterer subjektiver Tatsachen ist
in diesem Zusammenhang nicht erforderlich. Anders als etwa dann, wenn es um die Voraussetzungen einer
eheähnlichen Gemeinschaft geht und es der Feststellung bedarf, ob innere Verbindungen vorliegen, die ein
gegenseitiges füreinander Einstehen begründen, ist nach der gesetzlichen Regelung unter engen Verwandten, die
zusammen leben, allein der Bestand einer Haushaltsgemeinschaft notwendig, um die Bedarfsgemeinschaft als
konstituiert anzusehen. Davon ausgehend ist die vom Sozialgericht vorgenommene Würdigung der ua im Protokoll
über den Hausbesuch vom 23. Oktober 2006 von Mitarbeitern der Beklagten beschriebenen tatsächlichen Umstände
dahingehend, dass eine Haushaltsgemeinschaft der sich noch in der schulischen Ausbildung befindlichen Klägerin
und ihrer Eltern (sowie der ebenfalls im Haus lebenden Schwester mit Kleinkind) besteht, nicht zu beanstanden.
Ausgehend von einer Bedarfsgemeinschaft der Klägerin und ihrer Eltern ist zunächst festzustellen, dass bei der
Klägerin ein ungedeckter Bedarf - bestehend aus der Regelleistung iHv 276,00 EUR (§ 22 Abs 2 Satz 2 SGB II) und
den anteiligen Kosten der Unterkunft (KdU) - durch das ihr als Einkommen (vgl BSG Urteile vom 07. November 2006–
B 7b 18/06 R – und 23. November 2006 – B 11b 1/06 R-, jeweils veröffentlicht in Juris) gemäß § 11 Abs 1 Satz 2 und
3 SGB II zuzuordnende Kindergeld iHv 154,00 EUR monatlich abzüglich einer Pauschale iHv 30,00 EUR (§ 11 Abs 2
Nr 3 SGB II iVm § 3 Abs 1 Nr 1 der Verordnung zur Berechnung von Einkommen sowie zur Nichtberücksichtigung von
Einkommen und Vermögen beim Arbeitslosengeld II/Sozialgeld (Alg II-V)) iHv 152,00 EUR zzgl anteiliger KdU zu
Grunde zu legen ist. Des Weiteren ist als Bedarf der Eltern neben den anteiligen KdU die Regelleistung jeweils mit
einem Betrag von 311,00 EUR gemäß § 20 Abs 2 und 3 SGB II zu berücksichtigen.
Die maßgebliche Höhe der KdU, die bei mehreren Bewohnern einer Wohnung bzw eines Hauses nach der "Kopfzahl"
aufzuteilen und zu berücksichtigen sind (vgl BSG Urteile vom 07. November 2006– B 7b 18/06 R - und 23. November
2006 – B 11b 1/06 R –, aaO), kann erst nach weiteren Ermittlungen bestimmt werden. Derzeit fehlt es an
ausreichenden Feststellungen dazu, welche Kosten für das elterliche Haus insgesamt regelmäßig anfallen und wie
viele Personen im streitigen Zeitraum ab dem 01. Juli 2006 das Haus bewohnen. Nach den in der Verwaltungsakte
vorhandenen Unterlagen ergibt sich ohne Haushaltsenergie ein "Jahresbetrag" von ca 3.624,00 EUR bzw ein Betrag
von monatlich ca 302,00 EUR für die Gesamt-KdU, wobei insbesondere die Instandhaltungspauschale noch nicht
berücksichtigt ist. Ausgehend von einem 3-Personen-Haushalt (der Klägerin und ihren Eltern) ergäbe sich demzufolge
ein Gesamtbedarf von 1.076,00 EUR. Dem stehen das Altersrenteneinkommen des Vaters, zumindest bereinigt um
die Pauschale nach § 11 Abs 2 Nr 3 SGB II iVm § 3 Abs 1 Nr 1 Alg II-V, iHv 666,05 EUR und das noch näher zu
ermittelnde tatsächliche, nach § 11 SGB II iVm der Alg II-V berücksichtigungsfähige Einkommen der Mutter aus
Vermietung gegenüber. Insoweit kann nicht auf den Einkommenssteuerbescheid allein abgestellt werden, da hieraus
weder die evtl abzusetzenden, mit den Einnahmen aus der Vermietung verbundenen notwendigen Ausgaben noch die
darüber hinaus gemäß § 11 SGB II zu berücksichtigenden Absetzungsbeträge entnommen werden können. Von daher
ist derzeit offen, in welchem Umfang der Gesamtbedarf der Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft durch das
Einkommen der Eltern gedeckt ist bzw in welcher Höhe noch ein ungedeckter Bedarf bei der Klägerin besteht.
Dieser Beschluss ist nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht anfechtbar (§ 177 SGG).