Urteil des LSG Berlin-Brandenburg vom 22.10.2004

LSG Berlin und Brandenburg: arbeitsentgelt, rente, rückforderung, verwaltungsakt, rücknahme, erlass, rückzahlung, betrug, minderung, sozialversicherung

Landessozialgericht Berlin-Brandenburg
Urteil vom 22.10.2004 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Berlin S 1 RA 205/03
Landessozialgericht Berlin-Brandenburg L 5 RA 70/03
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 19. Juni 2003 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind auch für das Berufungsverfahren nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht
zugelassen.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten über die Rückforderung einer überzahlten Erziehungsrente.
Der 1965 geborene Kläger bezog von der Beklagten für sein 1988 geborenes Kind S Erziehungsrente, die ihm
erstmals mit Rentenbescheid vom 22. April 1999 ab 1. November 1998 gewährt wurde (Rentenzahlbetrag: 42,78 DM).
Gemäß Anlage 8 des Rentenbescheides wurde für die Ermittlung des auf die Rente anzurechnenden Einkommens ab
1. November 1998 ein Arbeitsentgelt für 1997 in Höhe von 113.534,26 DM zugrunde gelegt. Nachdem der Arbeitgeber
des Klägers für das Jahr 1998 ein Bruttoarbeitsentgelt von 104.813,35 DM mitgeteilt hatte, berechnete die Beklagte
die Erziehungsrente ab 1. Juli 1999 auf dieser Grundlage neu. Der monatliche Zahlbetrag der Erziehungsrente betrug
nunmehr 301,54 DM. Im April 2000 ermittelte die Beklagte sodann aus dem Kontospiegel des Klägers ein -
beitragspflichtiges - Bruttoentgelt für das Jahr 1999 in Höhe 86.400,- DM, das zu einer deutlich geringeren
Einkommensanrechnung und damit bei der Rentenanpassung ab Juli 2000 zu einer Erziehungsrente von nunmehr
715,81 DM führte (Bescheid vom 31. Mai 2000). Im Jahr 2001 wurde das beitragspflichtige Arbeitsentgelt des Klägers
für 2000 mit 85.200,- DM festgestellt; die Rente ab Juli 2001 betrug 796,30 DM. Auf Anfrage teilte der Arbeitgeber des
Klägers mit, dass es sich bei dem Betrag von 85.200,- DM um das auf die Beitragsbemessungsgrenze begrenzte
Rentenversicherungsbrutto handele; das tatsächliche Bruttoarbeitsentgelt des Klägers habe im Jahr 2000 112.378,-
DM betragen, im Jahr 1999 109.437,- DM.
Mit Bescheid vom 1. Oktober 2001 stellte die Beklagte daraufhin die Erziehungsrente des Klägers ab 1. November
2001 neu fest (Rente 207,44 DM). Mit Schreiben vom 18. Oktober 2001 hörte die Beklagte den Kläger darüber hinaus
zu der beabsichtigten Aufhebung des Bescheides vom 31. Mai 2000 mit Wirkung ab 1. Juli 2000 nach § 48 SGB X
und Rückforderung für die Zeit vom 1. Juli 2000 bis 31. Oktober 2001 in Höhe von 8.988,40 DM an.
Einen zunächst erlassenen Bescheid vom 19. April 2002, der einen Rückzahlungsbetrag von 6.204,92 DM enthielt,
und gegen den der Kläger Widerspruch eingelegt hatte, nahm die Beklagte mit Rentenbescheid vom 2. Juli 2002 nach
§ 45 SGB X zurück, da es sich um einen Programmfehler handele. Mit dem Bescheid vom 2. Juli 2002 wurde die
Erziehungsrente ab 1. Juli 2000 auf 216,67 DM monatlich bzw. ab 1. Juli 2001 auf 207,44 DM monatlich neu
festgesetzt. Im Übrigen heißt es in Anlage 10 des Bescheides, für die Zeit vom 1. Juli 2000 bis zum 31. Oktober 2001
ergebe sich eine Überzahlung von 8.988,40 DM. Der Rentenbescheid vom 31. Mai 2000 werde insoweit gemäß § 48
SGB X aufgehoben und Erstattung gefordert. Auf Vertrauen in den Bestand des Rentenbescheides könne sich der
Kläger nicht berufen, weil er Einkommen erzielt habe, das zur Änderung des Rentenanspruchs geführt habe. Aus den
vorangegangenen Bescheiden sei ihm bekannt gewesen, dass nicht nur das beitragspflichtige, sondern das volle
Entgelt bei der Einkommensanrechnung zu berücksichtigen sei. Unter Ermessensgesichtspunkten werde die
Forderung jedoch um die Hälfte auf 4.494,20 DM = 2.297,85 EUR reduziert. Der Bescheid werde gemäß § 86 SGG
Gegenstand des Widerspruchsverfahrens.
Den aufrecht erhaltenen Widerspruch des Klägers wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 13. Dezember
2002 zurück. Der Kläger sei in allen bisher erteilten Bescheiden darauf hingewiesen worden, dass bei Bekanntwerden
von Einkommensänderungen der Bescheid - gegebenenfalls auch rückwirkend - ganz oder teilweise aufgehoben und
zu Unrecht erbrachte Leistungen zurückgefordert werden. In Zusammenschau mit der jeweiligen Anlage 8 zu den
Rentenbescheiden vom 22. April 1999 und 21. Juli 1999 habe der Kläger auch gewusst, dass als maßgebliches
Einkommen nicht das auf die Beitragsbemessungsgrenze der Rentenversicherung begrenzte Arbeitsentgelt, sondern
das tatsächliche Bruttoarbeitsentgelt zu berücksichtigen sei. Auf eine etwaige Verletzung von Mitwirkungspflichten,
die im Übrigen auch nicht behauptet worden sei, komme es insoweit nicht an. Aufgrund eines gravierenden
Mitverschuldens der BfA sei die Rückforderungssumme im Wege des Ermessens um die Hälfte reduziert worden.
Hiergegen hat der Kläger am 14. Januar 2003 Klage erhoben und zur Begründung im Wesentlichen ausgeführt, sein
Arbeitgeber habe stets vollständige und wahrheitsgemäße Angaben zu seinen Einkommensverhältnissen gemacht.
Insofern habe er keinen Anlass zu der Annahme gehabt, dass er zuviel Erziehungsrente beziehe, zumal er wegen
seines umsatzabhängigen Einkommens auch unterschiedliche Monatseinkommen gehabt habe. Ihn treffe also keine
Schuld; außerdem sei er entreichert, denn das Geld habe er bereits ausgegeben.
Im Verhandlungstermin vor dem Sozialgericht am 19. Juni 2003, in dem der Kläger nicht vertreten war, hat die
Beklagte auf Anregung des Kammervorsitzenden folgende Erklärung abgegeben: "Ich reduziere den
Rückzahlungsbetrag auf 1.295,84 EUR bezogen auf den Zeitraum vom 1. Juli 2001 bis zum 31. Oktober 2001 und
nehme den streitgegenständlichen Bescheid insoweit zurück." Das Sozialgericht hat mit Urteil vom gleichen Tag die
Klage, soweit sie über das Anerkenntnis der Beklagten hinausgeht, abgewiesen. Zur Begründung heißt es, die
Bescheide der Beklagten seien in der Fassung des Anerkenntnisses vom 19. Juni 2001 rechtmäßig. Der Kläger sei
zur Rückzahlung des errechneten Überzahlungsbetrages für die Zeit vom 1. Juli bis 31. Oktober 2001 verpflichtet. Die
Voraussetzungen des § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 SGB X lägen vor. Anders als in dem vorangegangen Zeitraum 1. Juli
2000 bis 30. Juni 2001 habe sich die Sachlage hinsichtlich der Einkünfte des Klägers insoweit verändert. Der Kläger
habe nämlich höhere Entgelte erzielt als von der Beklagten zugrunde gelegt. Nach § 18 d SGB IV seien
Einkommensänderungen erst zum Zeitpunkt der nächsten Rentenanpassung zu berücksichtigen. Mithin sei vom 1.
Juli 2001 an das im Jahr 2000 erzielte Arbeitseinkommen des Klägers zu berücksichtigen. Dies unterscheide sich im
Hinblick auf den Ausgangsbescheid vom 31. Mai 2000 sowohl in der von der Beklagten zugrunde gelegten Höhe
(86.400,- DM) als auch gegenüber dem damals tatsächlich erzielten Einkommen in Höhe von 109.437,- DM (1999).
Damit liege eine Änderung der Sachlage vor, die zu einer Rücknahme des Bescheides nach § 48 Abs. 1 Nr. 3 SGB X
berechtige ohne dass es darauf ankomme, dass der Kläger in irgendeiner Form an der Einkommensmitteilung mit-
bzw. nicht mitgewirkt habe.
Gegen das am 7. August 2003 zugestellte Urteil richtet sich die Berufung vom 2. September 2003, mit der der Kläger
im Wesentlichen sein bisheriges Vorbringen wiederholt.
Der Kläger beantragt sinngemäß,
das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 19. Juni 2003 aufzuheben sowie den Bescheid der Beklagten vom 2. Juli
2002 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 13. Dezember 2002 in der Fassung der Erklärung vom 19.
Juni 2003 auch für die Zeit vom 1. Juli 2001 bis 31. Oktober 2001 aufzuheben.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie hält das erstinstanzliche Urteil für zutreffend.
Zum weiteren Vorbringen der Beteiligten, die sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden
erklärt haben, wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogenen Verwaltungsakte der Beklagten, der - soweit
entscheidungserheblich - Gegenstand der Beratung und Entscheidungsfindung gewesen ist, Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Mit Einverständnis der Beteiligten konnte der Senat gemäß § 124 Abs. 2 SGG durch Urteil ohne mündliche
Verhandlung entscheiden.
Gegenstand des Berufungsverfahrens ist nur noch die Aufhebung und Rückforderung der Beklagten für die Zeit vom
1. Juli bis 31. Oktober 2001 in Höhe von 1.295,84 EUR. Hierauf hat die Beklagte ihre gegen den Kläger gerichtete
Forderung im Verhandlungstermin vor dem Sozialgericht am 19. Juni 2003 ausdrücklich reduziert und im Übrigen den
streitgegenständlichen Bescheid zurückgenommen. Bei verständiger Würdigung des Klagebegehrens ist daher davon
auszugehen, dass der Kläger sich nur noch gegen die reduzierte Aufhebungs- und Erstattungsentscheidung der
Beklagten wendet.
Die Berufung ist zulässig; insbesondere ist die Berufungssumme nach § 144 Abs. 1 Nr. 1 SGG erreicht, da über eine
Rückforderung von mehr als 500,- EUR gestritten wird.
Die Berufung ist jedoch nicht begründet, denn die Aufhebung und Erstattung für die Zeit vom 1. Juli bis 31. Oktober
2001 ist rechtmäßig und der Kläger insoweit zur Rückzahlung verpflichtet.
Nach § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X ist ein Verwaltungsakt mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben, soweit in den
tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die beim Erlass des Verwaltungsaktes mit Dauerwirkung vorgelegen
haben, eine wesentliche Änderung eintritt. Nach Satz 2 Ziff. 3 dieser Vorschrift soll der Verwaltungsakt mit Wirkung
vom Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse aufgehoben werden, soweit ... nach Erlass des Verwaltungsaktes
Einkommen oder Vermögen erzielt worden ist, das zum Wegfall oder zur Minderung des Anspruchs geführt haben
würde.
Diese Voraussetzungen liegen hier vor. Bei dem Bescheid, mit dem der Anspruch auf Erziehungsrente gewährt wird,
handelt es sich um einen Verwaltungsakt mit Dauerwirkung. Grundsätzlich steht dem Kläger Erziehungsrente nach §
47 Abs. 1 i.V.m. § 46 Abs. 2 SGB VI zu, denn er erfüllt die hierfür notwendigen Voraussetzungen (Scheidung der Ehe
nach dem 30. Juni 1977, Tod der geschiedenen Ehefrau und Erziehung des eigenen Kindes, das das 18. Lebensjahr
noch nicht vollendet hat). Nach § 97 Abs. 1 Satz 1 Ziff. 2 SGB VI wird Einkommen (§ 18 a bis 18 e Viertes Buch) von
Berechtigten, das mit einer Erziehungsrente zusammentrifft, hierauf angerechnet. Hierzu regelt § 18 e Abs. 1 SGB IV:
"Für Bezieher von Arbeitsentgelt und diesem vergleichbaren Einkommen hat der Arbeitgeber auf Verlangen des
Versicherungsträgers das von ihnen für das letzte Kalenderjahr erzielte Arbeitsentgelt und vergleichbare Einkommen
und den Zeitraum, für den es gezahlt wurde, mitzuteilen. Der Arbeitgeber ist zur Mitteilung nicht verpflichtet, wenn er
der Sozialversicherung das Arbeitsentgelt gemäß den Vorschriften über die Erfassung von Daten und
Datenübermittlung bereits gemeldet hat. Satz 2 gilt nicht, wenn das tatsächliche Entgelt die
Beitragsbemessungsgrenze übersteigt".
Danach wird deutlich, dass für die Erziehungsrente des Klägers sein Einkommen nicht nur bis zur Höhe der
Beitragsbemessungsgrenze, sondern in tatsächlicher Höhe festzustellen ist, um davon das anrechenbare Einkommen
(§ 97 Abs. 2 SGB VI) zu ermitteln. Das tatsächliche Einkommen des Klägers lag bereits bei Beginn des Bezugs der
Erziehungsrente über der Beitragsbemessungsgrenze (vgl. Anlage 2 a zum SGB VI), und wurde 1998 und 1999 auch
zutreffend bei der Einkommensanrechnung berücksichtigt, wobei die Einkommensveränderung jeweils erst im
Folgejahr bei der zum 1. Juli erfolgten Rentenanpassung (§ 65 SGB VI) zum Tragen kommen konnte. Erstmals bei
dem Bescheid vom 31. Mai 2000 ist die Beklagte fälschlich von einem auf die Beitragsbemessungsgrenze des
Beitrittsgebiets begrenzten Einkommen in Höhe von 86.400,- DM ausgegangen, obwohl das tatsächliche Einkommen
des Klägers 1999 und auch im Jahr 2000 höher war. Für den Zeitraum vom 1. Juli 2001 bis 31. Oktober 2001, über
den allein zu entscheiden ist, ist damit der Bescheid vom 31. Mai 2000 nachträglich rechtswidrig geworden, denn ab
1. Juli des Jahres 2001 war das tatsächliche Einkommen des Jahres 2000 in Höhe von 112.378,- DM zugrunde zu
legen, das nicht nur höher war als das von der Beklagten angenommene Einkommen (86.400,- DM), sondern auch
höher als das tatsächliche Einkommen von 1999 (109.437,- DM). Dieses höhere maßgebliche Einkommen für das
Jahr 2000 hätte zu einer Minderung des Anspruchs auf Erziehungsrente vom 1. Juli 2001 führen müssen. Damit
liegen die Voraussetzungen des § 48 Abs. 1 Satz 2 Ziff. 3 SGB X vor, die die Beklagte zur Aufhebung des
rechtswidrig gewordenen Bescheides vom 31. Mai 2000 ab 1. Juli 2001 berechtigen. Auf ein Verschulden des Klägers
kommt es in diesem Zusammenhang ebenso wenig an wie auf die Angabe des Klägers, das Geld sei bereits
verbraucht. Die Beklagte hat mit dem Bescheid vom 2. Juli 2002 auch die Jahresfrist des § 48 Abs. 4 i.V.m. § 45
Abs. 4 Satz 2 SGB X eingehalten. Danach muss die Behörde den Rücknahmebescheid innerhalb eines Jahres seit
Kenntnis der die Rücknahme rechtfertigenden Tatsachen erlassen. Die Frist beginnt frühestens mit der Anhörung des
Begünstigten (BSG SozR 3-1300 § 45 Nr. 42 S. 138 ff. m.w.N.), die hier mit Schreiben vom 18. Oktober 2001 erfolgt
ist.
Im Übrigen ist auch die Berechnung der Rückforderungssumme, die der Kläger nach § 50 Abs. 1 SGB X zu erstatten
hat, zutreffend. Während der Kläger für die Monate Juli bis Oktober 2001 Erziehungsrente in Höhe von 796,30 DM
sowie einen Beitragszuschuss zur Krankenversicherung und Pflegeversicherung in Höhe von 53,75 DM bzw. 6,77
DM, d.h. einen monatlichen Betrag von 856,82 DM erhalten hat, hätte ihm monatlich eine Rente in Höhe von 207,44
DM sowie einen Zuschuss zur Kranken- und Pflegeversicherung in Höhe von 14,00 DM bzw. 1,77 DM, d.h. ein
monatlicher Betrag von 223,21 DM zugestanden. Hieraus ergibt sich eine Rückforderungssumme von 2.534,44 DM
(856,82 DM x 4 = 3.427,28 DM, 223,21 DM x 4 = 892,84 DM, 3.427,28 DM - 892,84 DM = 2.534,44 DM = 1.295,84
EUR).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Gründe für die Zulassung der Revision nach § 160 Abs. 2 Nr. 1 oder 2 SGG liegen nicht vor.