Urteil des LSG Berlin-Brandenburg vom 18.07.2007
LSG Berlin und Brandenburg: hauptsache, dringlichkeit, rechtsschutz, krankenversicherung, erlass, zivilprozessordnung, auflage, bestimmtheit, nachzahlung, zukunft
Landessozialgericht Berlin-Brandenburg
Beschluss vom 18.07.2007 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Berlin S 87 AS 8952/06 ER
Landessozialgericht Berlin-Brandenburg L 28 B 1067/07 AS ER
Die Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 3. November 2006 wird
zurückgewiesen. Kosten des Beschwerdeverfahrens sind nicht zu erstatten. Der Antrag auf Gewährung von
Prozesskostenhilfe für dieses Beschwerdeverfahren wird abgelehnt.
Gründe:
Die gemäß § 172 Abs. 1 und § 173 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zulässige Beschwerde gegen den Beschluss des
Sozialgerichts B vom 3. November 2006 ist unbegründet. Der Antragsgegner war nicht im Wege des Erlasses einer
einstweiligen Anordnung zu verpflichten, dem Antragsteller für Oktober und November 2006 Leistungen zur Sicherung
des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) zu gewähren. Es besteht insoweit keine
besondere Dringlichkeit, die den Erlass einer einstweiligen Anordnung erforderlich machen würde. Soweit der
Antragsteller begehrt, den Antragsgegner zu verpflichten, für die Dauer eines Widerspruchsverfahrens Beiträge für
eine freiwillige Krankenversicherung zu übernehmen, fehlt es an einem Anordnungsanspruch.
In einem Verfahren auf Erlass einer einstweiligen Anordnung beurteilt sich das Vorliegen eines Anordnungsgrundes
nach dem Zeitpunkt, in dem das Gericht über den Eilantrag entscheidet; im Beschwerdeverfahren ist dies der
Zeitpunkt der Beschwerdeentscheidung (Schoch in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, Verwaltungsgerichtsordnung
(VwGO), 12. Ergänzungslieferung 2005, § 123 Randnummern 165, 166 mit weiteren Nachweisen zur
Parallelproblematik in § 123 VwGO). Dies folgt daraus, dass in dem Erfordernis eines Anordnungsgrundes ein
spezifisches Dringlichkeitselement enthalten ist, welches im Grundsatz nur Wirkungen für die Zukunft entfalten kann.
Die rückwirkende Feststellung einer - einen zurückliegenden Zeitraum betreffenden - besonderen Dringlichkeit ist zwar
rechtlich möglich, sie kann jedoch in aller Regel nicht mehr zur Bejahung eines Anordnungsgrundes führen. Denn die
prozessuale Funktion des einstweiligen Rechtsschutzes besteht vor dem Hintergrund des Artikels 19 Absatz 4
Grundgesetz (GG) darin, in dringenden Fällen effektiven Rechtsschutz zu gewährleisten, in denen eine Entscheidung
im - grundsätzlich vorrangigen - Verfahren der Hauptsache zu spät käme, weil ohne sie schwere und unzumutbare,
anders nicht abwendbare Nachteile entstünden, zu deren nachträglicher Beseitigung die Entscheidung in der
Hauptsache nicht mehr in der Lage wäre (Bundesverfassungsgericht, Beschlüsse vom 22. November 2002 - 1 BvR
1586/02 - NJW 2003, S. 1236 und vom 12. Mai 2005 - 1 BvR 569/05 - Breithaupt 2005, S. 803). Dies bedeutet aber
zugleich, dass die Annahme einer besonderen Dringlichkeit und dementsprechend die Bejahung eines
Anordnungsgrundes in aller Regel ausscheidet, soweit diese Dringlichkeit vor dem Zeitpunkt der gerichtlichen
Entscheidung vorgelegen hat, denn insoweit ist die besondere Dringlichkeit durch den Zeitablauf überholt, das
Abwarten einer Entscheidung im Verfahren der Hauptsache über den zurückliegenden Zeitraum ist dem
Rechtsschutzsuchenden in aller Regel zumutbar.
Hierbei ist allerdings zu berücksichtigen, dass das Gebot des effektiven Rechtsschutzes nach Artikel 19 Absatz 4
GG in besonderen Fällen ausnahmsweise auch die Annahme eines Anordnungsgrundes für zurückliegende Zeiträume
verlangen kann, so insbesondere dann, wenn anderenfalls effektiver Rechtsschutz im Hauptsacheverfahren nicht
erlangt werden kann, weil bis zur Entscheidung im Verfahren der Hauptsache Fakten zum Nachteil des
Rechtsschutzsuchenden geschaffen worden sind, die sich durch eine - stattgebende - Entscheidung im Verfahren der
Hauptsache nicht oder nicht hinreichend rückgängig machen lassen.
Im Hinblick hierauf kann mit dem Gesuch nach einstweiligem Rechtsschutz durch eine Entscheidung des Senats
lediglich eine (vorläufige) Nachzahlung von Leistungen für einen im Zeitpunkt der Zustellung dieses Beschlusses
gänzlich abgelaufenen, also in der Vergangenheit liegenden Bewilligungszeitraum erreicht werden. Denn der
Antragsteller hat sein Begehren auf Gewährung von Leistungen ausweislich seines Antrages und seines
Beschwerdeschriftsatzes ausdrücklich auf die Monate Oktober und November 2006 beschränkt. Folgezeiträume sind
damit nicht Gegenstand dieses Verfahrens. Es ist auch nicht vorgetragen worden, dass zu befürchten steht, dass
dem Antragsteller durch ein Zuwarten auf eine Entscheidung im Hauptsacheverfahren Nachteile entstünden, die durch
eine Entscheidung im Verfahren der Hauptsache nicht oder nicht hinreichend rückgängig gemacht werden könnten.
Entsprechende Anhaltspunkte sind auch nach Aktenlage nicht ersichtlich. Dies bedeutet dass insoweit effektiver
Rechtsschutz im Hauptsacheverfahren erlangt und dem Antragsteller ein Zuwarten auf die Entscheidung in der
Hauptsache zugemutet werden kann.
Soweit der Antragsteller in seinem Beschwerdeschriftsatz vom 16. November 2006 über den erstinstanzlich zur
Entscheidung gestellten Antrag hinaus begehrt, den Antragsgegner zu verpflichten, "für die Dauer des
Widerspruchsverfahrens die Kosten für eine freiwillige Krankenversicherung bei der bisherigen Krankenversicherung"
zu übernehmen, ist dieser Antrag unzulässig. Denn unabhängig davon, dass im Hinblick darauf, dass unklar ist
welches Widerspruchsverfahren der Antragsteller insoweit meint, Zweifel an der Bestimmtheit dieses Antrages
bestehen, hat weder der Antragsteller nach Aktenlage einen entsprechenden Antrag auf Übernahme der
Aufwendungen der Kosten für eine Krankenversicherung nach § 26 Abs. 3 SGB II bei dem Antragsgegner gestellt
noch hat dieser mangels eines solchen Antrages über einen solchen entschieden. Jede Rechtsverfolgung setzt aber
voraus, dass der Rechtsschutzsuchende vor Inanspruchnahme der Gerichte versucht, das angestrebte Ergebnis auf
einfachere Weise zu erreichen (vgl. Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 8. Auflage 2005, Vor § 51 RdNr.
16 ff.), wie hier durch die Möglichkeit der Herbeiführung einer Verwaltungsentscheidung. Der Antragsteller muss dies
gegebenenfalls nachholen und um gesonderten Rechtsschutz nachsuchen. Dies hat ihm im Übrigen bereits das
Sozialgericht mit Schreiben vom 8. November 2006 mitgeteilt.
Die Beschwerde hinsichtlich der Ablehnung von Prozesskostenhilfe für das erstinstanzliche einstweilige
Rechtsschutzverfahren war daher ebenso wie der Antrag auf Gewährung von Prozesskostenhilfe für dieses
Beschwerdeverfahren mangels hinreichender Erfolgsaussicht abzulehnen (§ 73 a SGG in Verbindung mit § 114 Satz 1
der Zivilprozessordnung).
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG analog und § 73 a SGG in Verbindung mit §§ 118 Abs. 1 Satz 4, 127
Abs. 4 der Zivilprozessordnung.
Dieser Beschluss kann nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht angefochten werden (§ 177 SGG).