Urteil des LSG Berlin-Brandenburg vom 14.11.2006

LSG Berlin und Brandenburg: arbeit auf abruf, gerichtshof der europäischen gemeinschaften, freizügigkeit der arbeitnehmer, hauptsache, freizügigkeitsgesetz, eigenschaft, arbeitssuche, arbeitsentgelt

Landessozialgericht Berlin-Brandenburg
Beschluss vom 14.11.2006 (rechtskräftig)
Sozialgericht Berlin S 87 AS 7552/06 ER
Landessozialgericht Berlin-Brandenburg L 14 B 963/06 AS ER
Auf die Beschwerde des Antragstellers wird der Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 14. September 2006
aufgehoben. Die Antragsgegnerin wird verpflichtet, dem Antragsteller vorläufig für die Zeit ab 23. August 2006 bis zu
einer Entscheidung des Sozialgerichts in der Hauptsache Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts
(Arbeitslosengeld II) zu erbringen. Die Antragsgegnerin hat dem Antragsteller die ihm entstandenen Kosten des
Verfahrens zu erstatten.
Gründe:
Die zulässige (§§ 172, 173 Satz 1 des Sozialgerichtsgesetzes [SGG]) Beschwerde des Antragstellers hat auch in der
Sache Erfolg.
Er hat mit der für den Erlass einer einstweiligen Anordnung (§ 86b Abs. 2 SGG) erforderlichen, aber auch
ausreichenden Gewissheit die Voraussetzungen eines Anspruchs auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts
(Arbeitslosengeld II) glaubhaft gemacht.
Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts – ggfl. einschließlich der angemessenen Kosten für Unterkunft und
Heizung – nach dem Zweiten Buch des Sozialgesetzbuchs (SGB II) erhalten Personen, die
1. das 15. Lebensjahr vollendet und das 65. Lebensjahr noch nicht vollendet haben, 2. erwerbsfähig sind, 3.
hilfebedürftig sind und 4. ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland haben
(erwerbsfähige Hilfebedürftige – § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II). Die Antragsgegnerin bezweifelt zu Recht nicht (mehr),
dass der Antragsteller diese Voraussetzungen erfüllt.
Der Leistungsanspruch des Antragstellers entfällt auch nicht aufgrund der Regelung in § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II,
wonach "Ausländer, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitssuche ergibt, (ausgenommen sind)".
Das Aufenthaltsrecht des Antragstellers ergibt sich nicht "allein aus dem Zweck der Arbeitssuche". Es mag sein,
dass er ursprünglich – auch – zu diesem Zweck nach Deutschland eingereist ist. Er hat danach aber eine – wenn
auch vermutlich nicht in erster Linie angestrebte – Arbeit aufgenommen, nämlich eine Arbeit als Hilfskraft bei einer
Gebäudereinigung. Aufgrund dessen hat er als "Arbeitnehmer" und Staatsangehöriger I – unabhängig davon, ob er
weiterhin eine andere (oder weitere) Arbeit sucht – ein Recht auf Aufenthalt nach § 2 Abs. 1 und 2 Nr. 1 des
Freizügigkeitsgesetzes/EU (FreizügG/ EU).
Dieses Aufenthaltsrecht als Arbeitnehmer besteht ungeachtet dessen, dass der Antragsteller nur eine geringfügige
Beschäftigung (i.S.d. § 8 Abs. 1 Nr. 1 des Vierten Buchs des Sozialgesetzbuchs [SGB IV)] – "Minijob") vereinbart hat
und ausübt. Im Freizügigkeitsgesetz /EU findet sich keine Bestimmung, wonach "Arbeitnehmer" i.S.d. § 2 Abs. 2 Nr.
1 FreizügG/EU nur ein mehr als geringfügig Beschäftigter wäre. Dies ergibt sich auch nicht aus einer Auslegung unter
Berücksichtigung der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften. Danach ist als
"Arbeitnehmer" i.S.d. (europäischen) Vorschriften über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer (die das
Freizügigkeitsgesetz/EU umsetzt) auch anzusehen, wer eine Tätigkeit im Lohn- oder Gehaltsverhältnis ausübt, mit
der er weniger verdient, als im betreffenden Mitgliedstaat als Existenzminimum angesehen wird, vorausgesetzt, er übt
tatsächlich eine echte Tätigkeit im Lohn- oder Gehaltsverhältnis aus. Außer Betracht bleiben – lediglich – "Tätigkeiten
, die einen so geringen Umfang haben, dass sie sich als völlig untergeordnet und unwesentlich darstellen" (Urteile
vom 23. März 1982 – Rs. 53/81, Levin gg. Staatssecretaris van Justitie –, Slg. S. 1035, Randnr. 17 und 18 sowie
vom 26. Februar 1992 – Rs. C-357/89, Raulin gg. Minister van Onderwijs en Wetenschapen –, Slg. S. I-1027, Randnr.
13). Dafür kann ein Anhaltspunkt sein, dass die betreffende Person nur sehr wenige Stunden gearbeitet hat; ggfl. ist
auch der Umstand zu berücksichtigen, dass sich der Betroffene zur Arbeit auf Abruf des Arbeitgebers zur Verfügung
halten muss (Urteil vom 26. Februar 1992, a.a.O., Randnr. 14).
Die vom Antragsteller ausgeübte Beschäftigung ist nicht als "völlig untergeordnet und unwesentlich" anzusehen. Er
erbringt – auf der Grundlage eines schriftlich abgeschlossenen und bislang offenbar nicht gekündigten –
Arbeitsvertrags Arbeitsleistungen, die für den Arbeitgeber, dessen Weisungen er unterliegt, einen wirtschaftlichen
Wert haben. Dass das vom Antragsteller dadurch erzielte bzw. zu erzielende Arbeitsentgelt nicht zur Sicherung
seines Lebensunterhalts ausreicht, ist nach der beschriebenen und bei der Auslegung des Freizügigkeitsgesetzes/EU
zu beachtenden Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs ebenso unerheblich wie der Umstand, dass die
Beschäftigung i.S.d. deutschen Sozialversicherungsrechts "geringfügig" ist, d.h. nicht der Versicherungspflicht
unterliegt; im Übrigen sind dessen ungeachtet – wenn auch möglicherweise zu Unrecht – jedenfalls ab Januar 2006
Beiträge zur Kranken- und Rentenversicherung (sowie eine "Pauschsteuer") vom Arbeitslohn einbehalten worden.
Auch steht der Eigenschaft des Antragstellers als "Arbeitnehmer" nicht entgegen, dass er von Juli bis Dezember 2005
augenscheinlich durchschnittlich weniger als 40 und danach nur etwas mehr als 30 Stunden im Monat und ab April
2006 sogar in der Tat "nur sehr wenige Stunden" gearbeitet hat und dass der Arbeitsvertrag – da eine bestimmte Zahl
von Arbeitsstunden nicht vereinbart ist – wohl so zu verstehen ist, dass er "Arbeit auf Abruf" zu leisten hat.
Abgesehen davon, dass der Antragsteller glaubhaft gemacht hat, dass er sich um Zuweisung von mehr
Arbeitsstunden – vergeblich – bemüht hat, gilt in diesem Fall ("Arbeit auf Abruf" ohne Vereinbarung einer bestimmten
Dauer der Arbeitszeit) nach § 12 Abs. 1 Satz 3 des Teilzeit- und Befristungsgesetzes (TzBfG), das auch für
geringfügig Beschäftigte Anwendung findet (§ 2 Abs. 2 TzBfG), eine Arbeitszeit von zehn Stunden wöchentlich als
vereinbart, mit der Folge eines entsprechenden Beschäftigungs- und Vergütungsanspruchs des Antragstellers; davon
abweichende Regelungen sieht der (allgemeinverbindliche) Rahmentarifvertrag für die gewerblichen Beschäftigten in
der Gebäudereinigung vom 4. Oktober 2003 nicht vor.
Dass der Antragsteller diese Ansprüche – aus (bei der Antragsgegnerin offenbar ebenfalls bestehender) Unkenntnis
oder aus Sorge um den Bestand des Arbeitsverhältnisses – nicht durchsetzt, ist in diesem Zusammenhang
unerheblich. Insbesondere steht ein vom Arbeitgeber zu Unrecht nicht oder nicht rechtzeitig erfüllter Anspruch des
Antragstellers auf Arbeitsentgelt seinem Anspruch auf Leistungen gegen die Antragsgegnerin nicht entgegen; vielmehr
ginge dieser Anspruch bis zur Höhe der erbrachten Sozialleistungen auf die Antragsgegnerin über (§ 115 Abs. 1 des
Zehnten Buchs des Sozialgesetzbuchs [SGB X]). Eine dementsprechend als vereinbart geltende Beschäftigung im
Umfang von zehn Stunden wöchentlich mit einem sich daraus ergebenden Vergütungsanspruch (unter
Zugrundelegung des nach dem allgemeinverbindlichen Tarifvertrag für das Gebäudereinigerhandwerk zu zahlenden
und zuletzt auch tatsächlich gezahlten Stundenlohns von 7,87 Euro) in Höhe von 341 Euro monatlich (der – wie
erwogen – auf die Antragsgegnerin übergehen würde, soweit sie wegen dessen Nichterfüllung Sozialleistungen zu
erbringen hat), ist keine "völlig untergeordnete und unwesentliche" mehr.
Danach kann unentschieden bleiben, ob der Antragsteller auch aufgrund des gemeinschaftsrechtlichen
Diskriminierungsverbots (Artikel 12 des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft) Leistungen zur
Grundsicherung für Arbeitsuchende beanspruchen kann, solan-ge er sich in Deutschland aufhält (vgl. dazu
Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften, Urteil vom 7. September 2004 – Rs. C-456/02, Trojani gg. Centre
public d’aide sociale de Bruxelles –, Slg. S. I-7573).
Die Notwendigkeit einer vorläufigen Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile für den Antragsteller (sog.
Anordnungsgrund, § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG) besteht deshalb, weil der Antragsteller auf Leistungen zur Sicherung
des Lebensunterhalts angewiesen ist.
Der Senat befristet diese Anordnung bis zu einer Entscheidung des Sozialgerichts in der – zugleich mit dem Antrag
auf Erlass einer einstweiligen Anordnung – anhängig gemachten Hauptsache; jedoch können die Beteiligten bei einer
Änderung der dieser Anordnung zugrundeliegenden Umstände (Änderung der Einkommensverhältnisses des
Antragstellers, Wegfall seiner Eigenschaft als Arbeitnehmer o.a.) beim Gericht der Hauptsache eine Aufhebung dieser
Anordnung beantragen (Keller, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, Sozialgerichtsgesetz, 8. Aufl. [2005], § 86b Rdnr.
45).
Die Entscheidung über die Kostenerstattung beruht auf entsprechender Anwendung des § 193 Abs. 1 Satz 1 SGG.
Diese Entscheidung ist unanfechtbar (§ 177 SGG).