Urteil des LSG Berlin-Brandenburg vom 24.01.2006

LSG Berlin-Brandenburg: körperliche unversehrtheit, therapie, hauptsache, versorgung, grundrecht, kommission, erlass, beratung, link, quelle

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Gericht:
Landessozialgericht
Berlin-Brandenburg 9.
Senat
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
L 9 B 63/06 KR ER
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Normen:
Art 2 Abs 2 S 1 GG, Art 19 Abs 4
S 1 GG
Gesetzlichen Krankenversicherung - Leistungspflicht in Fällen
einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlichen Erkrankung
- Grundrecht auf Leben - Dialyseleistung - ambulante LDL-
Apheresen
Tenor
Auf die Beschwerde des Antragstellers wird der Beschluss des Sozialgerichts Frankfurt
(Oder) vom 24. Januar 2006 aufgehoben.
Die Antragsgegnerin wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, vorläufig,
längstens jedoch bis zum rechtskräftigen Abschluss des Hauptsacheverfahrens, die
Kosten einer Versorgung des Antragstellers mit einer regelmäßigen extrakorporalen
Lipid-Apherese-Therapie durch die nephrologische Gemeinschaftspraxis, zu
übernehmen.
Die Antragsgegnerin hat dem Antragsteller dessen außergerichtliche Kosten des
gesamten Verfahrens zu erstatten.
Gründe
Die zulässige Beschwerde ist begründet. Das Sozialgericht Frankfurt (Oder) hat den
sinngemäß dahingehend auszulegenden Antrag des Antragstellers, die Antragsgegnerin
im Wege des Erlasses einer einstweiligen Anordnung zu verpflichten, die Kosten für die
streitbefangene Therapie bis zum rechtskräftigen Abschluss des Hauptsacheverfahrens
zu übernehmen, zu Unrecht abgelehnt.
Auf die Beschwerde des Antragstellers ist die beantragte einstweilige Anordnung
aufgrund einer Folgenabwägung zu treffen, weil der Sachverhalt schwierige Fragen in
tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht aufweist, die der Klärung durch ein Verfahren der
Hauptsache vorbehalten bleiben müssen. Hierbei sind die Grundsätze anzuwenden, die
das Bundesverfassungsgericht entwickelt hat, wenn von der Entscheidung in einem
gerichtlichen Verfahren mittelbar Lebensgefahr für den Einzelnen ausgehen kann
(Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 22. November 2002, 1 BvR 1586/02
sowie nunmehr Beschluss vom 6. Dezember 2005, 1 BvR 347/98). Danach müssen die
aus dem Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit nach Artikel 2 Abs. 2
Satz 1 Grundgesetz (GG) in Verbindung mit der Rechtsschutzgarantie aus Artikel 19
Abs. 4 Satz 1 GG verfassungsrechtlich geschützten Belange des Antragstellers
hinreichend zur Geltung gebracht werden.
Die Folgenabwägung führt zu der von dem Antragsteller begehrten Entscheidung. Der
Senat hat sich darauf beschränkt zu prüfen, dass die im Tenor genannten Ärzte
berechtigt sind, Dialyseleistungen sowie ambulante LDL-Apheresen im Rahmen der
vertragsärztlichen Versorgung durchzuführen und abzurechnen. Im Übrigen hat der
Senat von einer weiteren Aufklärung des Sachverhalts und der Entscheidung der
streitbefangenen Fragen abgesehen, die im Hauptsacheverfahren erfolgen müssen. Bei
der zu treffenden Abwägung waren die Folgen gegeneinander abzuwägen, die auf der
einen Seite entstehen würden, wenn das Gericht eine einstweilige Anordnung nicht
erließe, sich jedoch im Verfahren der Hauptsache herausstellte, dass der Anspruch doch
bestanden hätte, und auf der anderen Seite entstünden, wenn das Gericht die
beantragte einstweilige Anordnung erließe, sich jedoch im Hauptsacheverfahren
herausstellte, dass der Anspruch nicht bestanden hätte. Sollte die erstgenannte
Alternative erfüllt sein, d. h. sollte eine einstweilige Anordnung im Ergebnis zu Unrecht
abgelehnt werden, so entstünden dem Antragsteller schwerwiegende Nachteile. Der
Antragsteller ist an einem hochgradigen progredienten Herzgefäßleiden erkrankt.
Insofern ist er auch nach Auffassung des gerichtlichen Sachverständigen erster Instanz
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Insofern ist er auch nach Auffassung des gerichtlichen Sachverständigen erster Instanz
von weiteren Komplikationen (akutes Koronarsyndrom, Herzinfarkt oder Schlaganfall)
bedroht. Nach Einschätzung der ihn behandelnden Ärzte können dem Antragsteller,
aufgrund der Versagung oder auch nur aufgrund einer weiteren Verzögerung der
Behandlung mit der streitbefangenen Therapie irreversible Nachteile entstehen. Im
schlimmsten Fall könnte der Antragsteller versterben.
Demgegenüber wiegen die Folgen, die bei einer zu Unrecht ergangenen einstweiligen
Anordnung zum Nachteil des Antragsgegners einträten, weniger schwer. Zwar entstünde
der Antragsgegnerin in diesem Falle ein finanzieller Schaden. Sie könnte ihn nach § 86 b
Abs. 2 Satz 4 Sozialgerichtsgesetz (SGG) in Verbindung mit § 945 Zivilprozessordnung
von dem Antragsteller ersetzt verlangen, wenn sich im anschließenden Verfahren der
Hauptsache herausstellen würde, dass der Antrag auf Erlass einer einstweiligen
Anordnung im Ergebnis nicht begründet war. Bei sachnaher Betrachtung muss allerdings
angenommen werden, dass angesichts einer möglichen schwachen finanziellen Situation
des Antragstellers ein solcher Schadensersatzanspruch im Ergebnis nicht durchsetzbar
wäre. Die Abwägung eines bloßen finanziellen Schadens der Antragsgegnerin mit dem
Schutz von Leben und körperlicher Unversehrtheit des Antragstellers führt aber zu der
aus dem Tenor ersichtlichen Entscheidung.
Vor diesem Hintergrund kann der Senat offen lassen, welche rechtlichen Folgen es hat,
dass nach der Verwaltungsakte der Antragsgegnerin die Kommission der
Kassenärztlichen Vereinigung zur Beratung der Indikationsstellungen zur Apherese im
Einzelfall (§ 5 der Anlage A der Richtlinie zur Bewertung medizinischer Untersuchungs-
und Behandlungsmethoden [BUB-Richtlinie]) bisher nicht eingeschaltet worden ist.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG, sie entspricht dem Ausgang des
Verfahrens in der Sache selbst.
Dieser Beschluss kann nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht
angefochten werden, § 177 SGG.
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