Urteil des LSG Berlin-Brandenburg vom 09.10.2001

LSG Berlin und Brandenburg: psychiatrische behandlung, psychische störung, ärztliche behandlung, operation, behinderung, psychiater, krankheit, erfahrung, belastung, verordnung

Landessozialgericht Berlin-Brandenburg
Urteil vom 09.10.2001 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Berlin S 45 SB 1337/99
Landessozialgericht Berlin-Brandenburg L 13 SB 22/01
Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 12. Januar 2001 wird
zurückgewiesen. Außergerichtliche Kosten haben die Beteiligten einander nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht
zugelassen.
Tatbestand:
Streitig ist die Berechtigung des Beklagten den Grad der Behinderung (GdB) des Klägers herabzusetzen.
Bei dem 1967 geborenen Kläger wurde im Januar 1993 der rechte Hoden wegen eines Tumors entfernt. Das seinerzeit
zuständige Amt für Soziales und Versorgung Cottbus erkannte daraufhin durch Bescheid vom 9. Juli 1993 befristet
bis Juni 1998 als Behinderungen
1. Erkrankung und Verlust des rechten Hodens 2. postthrombotisches Syndrom
mit einem GdB von 80 an. Verwaltungsintern wurde das Leiden zu 1) mit einem GdB von 80 und das zu 2) mit einem
solchen von 10 bewertet.
Die Ärztin D führte in der gutachtlichen Stellungnahme vom 17. August 1998 in Auswertung eines Befundberichts des
Urologen Dr. P vom 28. Juni 1998 sowie einer Computertomographie des Thorax vom 24. Juli 1997 und einer
Röntgenaufnahme des Thorax vom 27. April 1998 durch die Gemeinschaftspraxis Dres. B u.a. aus, nach Ablauf der
Heilungsbewährung liege eine Rezidivfreiheit vor, so dass ein GdB entfalle. Nach schriftlicher Anhörung des Klägers
stellte der nunmehr zuständige Beklagte durch Bescheid vom 7. Januar 1999 fest, es lägen keine
Funktionsbehinderungen mehr vor, die einen GdB von mindestens 20 bedingten. Dies bestritt der Kläger mit seinem
Widerspruch, der jedoch keinen Erfolg hatte (Widerspruchsbescheid vom 10. Mai 1999).
Im sozialgerichtlichen Verfahren machte der Kläger demgegenüber geltend, durch den Organverlust und die
Entfernung des Lymphgewebes im Bauchraum sei eine erhebliche Funktionsbeeinträchtigung eingetreten, die auch zu
seelischen Störungen geführt habe. Dabei müsse auch berücksichtigt werden, dass er die Zeugungsfähigkeit verloren
habe.
Das Sozialgericht holte einen Befundbericht von dem Urologen B vom 28. Februar 2000 und eine Auskunft vom 14.
Juli 2000 ein, in der der Arzt mitteilte, der Kläger klage seit der Operation 1993 über eine retrograde Ejakulation, d.h.
die Samenflüssigkeit werde beim Samenerguss in die Harnblase ejakuliert. Dies sei eine zu erwartende und häufige
Folge der Operation.
Der Beklagte erkannte daraufhin aufgrund einer Stellungnahme des Urologen und Chirurgen Dr. B vom 21. August
2000 ab 1. Januar 1999 durch Bescheid vom 14. September 2000 mit einem GdB von 20 folgende Behinderungen an:
a) Zeugungsunfähigkeit bei retrogradem Samenerguss in die Blase nach operativem Verlust des rechten Hodens und
Entfernung von retroperitonealem Lymphknoten sowie Chemotherapie bei erreichter Heilungsbewährung;
b) postthrombotisches Syndrom.
Das Sozialgericht hat die Klage, mit der der Kläger weiterhin die Zuerkennung eines GdB von wenigstens 50 begehrte,
durch Gerichtsbescheid vom 12. Januar 2001 abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, die Bewertung der
Zeugungsunfähigkeit mit einem GdB von 20 entspreche den Vorgaben der Anhaltspunkte für die ärztliche
Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz 1996 (Anhaltspunkte).
Gegen den am 16. Februar 2001 zugestellten Gerichtsbescheid hat der Kläger am 14. März 2001 Berufung eingelegt.
Er vertritt weiterhin die Auffassung, auch der von dem Beklagten nunmehr anerkannte GdB werde seinem
Gesundheitszustand insbesondere wegen des Verlustes der Zeugungsfähigkeit als Folge der Operation nicht gerecht.
Auch die psychischen Beschwerden blieben dabei unberücksichtigt. In psychiatrische Behandlung habe er sich nicht
begeben, weil deren Erfolg fraglich sei.
Der Kläger beantragt,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 12. Januar 2001 und den Bescheid vom 7. Januar 1999 in der
Fassung des Widerspruchsbescheides vom 10. Mai 1999 aufzuheben, den Bescheid vom 14. September 2000 zu
ändern und den Beklagten zu verurteilen, einen GdB von mindestens 50 anzuerkennen.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend.
Wegen des Vorbringens der Beteiligten im Einzelnen wird auf den Akteninhalt verwiesen. Der den Kläger betreffende
Verwaltungsvorgang des Beklagten lag dem Senat vor und war Gegenstand der mündlichen Verhandlung.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Berufung des Klägers ist nicht begründet.
Er hat keinen Anspruch auf Zuerkennung eines höheren GdB als 20. Der Beklagte hat den durch Bescheid vom 9. Juli
1993 anerkannten - bis Juni 1998 befristeten - GdB von 80 zu Recht durch einen GdB von 20 ersetzt. Zunächst
entsprach die Befristung dem geltenden Recht. Der Beklagte kann in Fällen, in denen dieser im Hinblick auf die
Rezidivgefahr oder die Unklarheit der Belastung durch die Krankheit höher festgesetzt worden ist als es dem
Behinderungsgrad entspricht, nach Ablauf eines bestimmten Zeitraumes eine Einstufung nach Maßgabe der
tatsächlichen Funktionsstörung vornehmen (sogenannte Heilungsbewährung). Der Zeitraum beträgt bei bösartigen
Geschwulsterkrankungen fünf bis acht Jahre (Anhaltspunkte Nr. 26.1, S. 48 f.). Nach Ablauf der Heilungsbewährung
ist bei dem Kläger bei unstreitig nicht aufgetretenen Rezidiven eine von dem Beklagten anerkannte
Zeugungsunfähigkeit als Folge der 1993 durchgeführten Operation vorhanden. Die Anhaltspunkte (Nr. 26.13, S. 111)
sehen für den Verlust eines Hodens einen GdB von Null und für eine Zeugungsunfähigkeit in geringerem Lebensalter
bei noch bestehendem Kinderwunsch einen solchen von 20 vor. Diesen Vorgaben entspricht die Einstufung durch den
Beklagten in dem Bescheid vom 14. September 2000. Zwar sind außergewöhnliche psychoreaktive Störungen wegen
der Zeugungsunfähigkeit zusätzlich zu berücksichtigen (Anhaltspunkte a.a.O.), für deren Vorliegen sind hier jedoch
keine Umstände ersichtlich. Aus dem Wortlaut der Anhaltspunkte ergibt sich zunächst, dass psychische Störungen,
die nach ärztlicher Erfahrung bei einer derartigen Behinderung üblicherweise auftreten, bei dem genannten GdB bereits
berücksichtigt sind. Außergewöhnliche seelische Begleiterscheinungen sind dagegen dann anzunehmen, wenn
anhaltende psychoreaktive Störungen in einer solchen Ausprägung vorliegen, dass eine spezielle ärztliche
Behandlung dieser Störungen (z.B. eine Psychotherapie) erforderlich ist (vgl. Anhaltspunkte Nr. 18 Abs. 8, S. 33).
Eine derartige Behandlung ist bei dem Kläger nicht durchgeführt worden, weil er sie nicht für notwendig angesehen
und deren Erfolgsaussichten als fraglich bezeichnet hat. Auch der Urologe B hat sie nicht genannt und in dem
Befundbericht vom 28. Februar 2000 angegeben, der Kläger habe ihm gegenüber keine akuten Beschwerden genannt,
die Befunde seien stabil. Würden bei dem Kläger außergewöhnliche psychische Störungen vorliegen, die eine
psychiatrische Behandlung erforderten, hätte er diesen Umstand dem behandelnden Arzt gegenüber aber erwähnt oder
dieser hätte sie selbst erkannt, und zwar unabhängig davon, dass er kein Psychiater ist. Somit sind keine Umstände
ersichtlich, die auf eine den Anhaltspunkten entsprechende psychische Störung hinweisen. Der Senat hat sich
deshalb auch nicht gedrängt gesehen, entsprechende medizinische Ermittlungen durchzuführen.
Es begegnet auch keinen rechtlichen Bedenken, der Festlegung des GdB des Klägers die Anhaltspunkte zugrunde zu
legen. Diese haben zwar keine Normqualität, weil sie weder auf einem Gesetz noch einer Verordnung oder zumindest
einer Verwaltungsvorschrift beruhen, sind aber vom Gericht im Interesse einer gleichmäßigen Rechtsanwendung wie
untergesetzliche Normen anzuwenden (BSG SozR 3-3870 § 4 Nr. 19 m.w.N.). Der GdB ist daher unter Heranziehung
der Anhaltspunkte in ihrer jeweils geltenden Fassung festzulegen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG).
Gründe für eine Zulassung der Revision gemäß § 160 Abs. 2 SGG liegen nicht vor.