Urteil des LSG Berlin-Brandenburg vom 22.09.2006

LSG Berlin und Brandenburg: aufschiebende wirkung, maler, öffentliches interesse, härte, interessenabwägung, vollziehung, lohntabelle, rückwirkung, tarifvertrag, arbeitsentgelt

Landessozialgericht Berlin-Brandenburg
Beschluss vom 22.09.2006 (rechtskräftig)
Sozialgericht Cottbus S 5 R 635/05 ER
Landessozialgericht Berlin-Brandenburg L 1 B 76/06 KR ER
Der Beschluss des Sozialgerichts Cottbus vom 16. Januar 2006 wird aufgehoben. Die aufschiebende Wirkung der
Klage gegen den Bescheid vom 21. Oktober 2002 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 26. Januar 2005
wird angeordnet. Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens beider Instanzen mit Ausnahme der
außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen, welche diese jeweils selbst zu tragen haben. Der Streitwert wird für
beide Instanzen auf jeweils 11.526,70 EUR festgesetzt.
Gründe:
I.
Der Antragsteller wendet sich gegen die Vollziehung eines Beitragsbescheides über die Nachforderung von
Sozialversicherungsbeiträgen für tarifvertraglich geschuldetes, tatsächlich aber nicht gezahltes Arbeitsentgelt für
Arbeitnehmer im Zeitraum Januar 1998 bis April 1999.
Er ist Inhaber der Firma B M K in B und beschäftigte im oben genannten Zeitraum die Arbeitnehmer S G, T M, A O, S
H, V H, M K, D L, LL, P L, F M, I P, M R, F P, R K und M M(im Folgenden: Mitarbeiter).
Für den entsprechenden Zeitraum galt in Brandenburg für alle gewerblichen Arbeitnehmer im Maler- und
Lackiererhandwerk die "Lohntabelle für das Maler- und Lackiererhandwerk im Land Brandenburg vom 1. Oktober
1997", die zwischen dem Landesinnungsverband für das Maler- und Lackiererhandwerk Berlin-Brandenburg und der
Industriegewerkschaft Bauen-, Agrar, Umwelt, Landesverband Berlin-Brandenburg beschlossen worden war. Für die
Zeit vom 1. Januar 1998 bis 30. April 1999 ist diese Lohntabelle durch die Ministerin für Arbeit, Soziales, Gesundheit
und Frauen des Landes Brandenburg für allgemeinverbindlich erklärt worden (veröffentlicht im Bundesanzeiger Nr. 167
vom 8. September 1998). Sie sah unter anderem vor, dass für Arbeitnehmer ohne eine abgeschlossene
Berufsausbildung im Maler- und Lackiererhandwerk ab dem vollendeten 20. Lebensjahr sowie Junggesellen mit
bestandener Gesellenprüfung im ersten Gesellenjahr im Zeitraum vom 1. Januar 1998 bis 30. April 1998 ein
Mindestarbeitslohn pro Stunde in Höhe von 19,79 DM und im Zeitraum vom 1. Mai 1998 bis 30. April 1999 von 20,13
DM zu zahlen war. Gleichzeitig existierte noch ein Tarifvertrag zwischen der Maler- und Lackiererinnung F und
Arbeitnehmern über die tarifvertragliche Festlegung über Mindestlöhne im Malerhandwerk für den Zeitraum 1998 bis
2001, der in Bezug auf den zu zahlenden Mindestlohn wesentlich geringere Beträge vorsah, nämlich zwischen 13,00
DM und 14,50 DM pro Stunde. Zwischen dem 22. Juli 2002 und 14. Oktober 2002 führte die Antragsgegnerin beim
Antragsteller eine Betriebsprüfung nach § 28 p Abs. 1 Sozialgesetzbuch Viertes Buch (SGB IV) für den Zeitraum 1.
Januar 1998 bis 31. Dezember 2001 durch. Mit Bescheid vom 21. Oktober 2002, wegen dessen Inhalt nebst Anlagen
auf Blatt 5 bis 30 der Verwaltungsakte verwiesen wird, erhob die Antragsgegnerin eine Nachforderung in Höhe von
23.053,40 EUR. Diese Forderung ergebe sich daraus, dass der Antragsteller seinen Mitarbeitern nicht das
Mindestentgelt nach der genannten allgemeinverbindlichen Lohntabelle gezahlt habe. Konkret würden die Beiträge für
die Differenz zwischen Mindestarbeitslohn und tatsächlich gezahltem Stundenlohn verlangt. Die Höhe des
Beitragsanspruches richte sich nach den vom Arbeitgeber geschuldeten Lohnleistungen und sei unabhängig davon, ob
das geschuldete Arbeitsentgelt tatsächlich dem Arbeitnehmer zugeflossen sei. Denn der Entgeltanspruch mindestens
in Höhe des für allgemein verbindlich erklärten Tarifvertrages könne für die Parteien eines Arbeitsvertrages nicht
unterschritten werden. Der Bescheid enthielt in der Anlage die Zusammenstellung und Berechnung der
nachgeforderten Beiträge für die erwähnten Mitarbeiter.
Der Antragsteller legte Widerspruch ein und verwies auf den Tarifvertrag der Maler- und Lackiererinnung F. Auf dessen
Geltung habe er vertraut. Die Antragsgegnerin wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 26. Januar 2005
unter Hinweis auf das maßgebliche Entstehungsprinzip und die mittlerweile ergangenen Entscheidungen des
Bundessozialgerichts (BSG) vom 14. Juli 2004 hierzu zurück.
Hiergegen hat der Antragsteller am 25. Februar 2005 Klage vor dem Sozialgericht Cottbus (Az.: S 5 R 172/05)
erhoben. Zur Begründung hat er u. a. ausgeführt, es fehle an einer wirksamen Allgemeinverbindlichkeitserklärung.
Mit Schriftsatz vom 24. Juni 2005 hat der Antragsteller um vorläufigen Rechtschutz nachgesucht. Das SG hat mit
Beschluss vom 16. Januar 2006 seinen Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung abgelehnt. Es hat zur
Begründung ausgeführt, dass eine Aussetzung nach § 86 b Abs. 1 Nr. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) insbesondere
dann in Betracht käme, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Verwaltungsaktes
bestünden oder wenn die Vollziehung für den Kostenpflichtigen eine unbillige, nicht durch überwiegende öffentliche
Interessen gebotene Härte zur Folge hätte. Vorliegend seien keine ernsthaften Zweifel an der Rechtmäßigkeit des
angefochtenen Bescheides oder Anhaltspunkte für eine den Antragsteller unbillig belastende Härte ersichtlich.
Grundlage des Bescheides sei § 28 p Abs. 1 Satz 5 SGB IV. Die Antragsgegnerin habe richtigerweise Beiträge für
tariflich geschuldete, aber tatsächlich nicht gezahlte Stundenlöhne, gefordert. Es gelte das Entstehungs- und nicht
das Zuflussprinzip, unabhängig davon, ob die Mitarbeiter den Tariflohn gefordert hätten. Ob der Antragsteller als
Arbeitgeber den arbeitsrechtlichen Ansprüchen auf Arbeitsentgelt Einreden entgegen setzen könne, sei unmaßgeblich.
Es gäbe auch keine Anhaltspunkte für eine etwaige Unwirksamkeit der zugrunde liegenden
Allgemeinverbindlichkeitserklärung. Der Antragsteller habe seine Behauptungen nicht durch Tatsachen substantiiert
untermauert oder glaubhaft gemacht. Letzteres gelte auch für Umstände, aus denen sich eine einer sofortigen
Vollziehung entgegenstehende unbillige Härte ergeben könnten.
Hiergegen richtet sich die am 24. Februar 2006 eingegangene Beschwerde des Antragstellers. Zur Begründung für die
Unwirksamkeit der Allgemeinverbindlichkeitserklärung beruft er sich auf die Angaben der Innung des Maler- und
Lackierhandwerks T.-F., wonach lediglich eine Minderheit der eingetragenen Betriebe in der Innung organisiert sei.
Ähnliche Verhältnisse hätten bei anderen Innungen Brandenburgs geherrscht. Die Vollziehung des
streitgegenständlichen Bescheides bedrohe den Antragsteller in seiner wirtschaftlichen Existenz und stelle deshalb
eine unbillige Härte dar.
Der Senat hat mit Beschluss vom 27. März 2006 die Krankenkassen beigeladen, für welche die Antragsgegnerin im
streitgegenständlichen Prüfbescheid Beiträge nachfordert. Er hat ferner eine amtliche Auskunft des Ministeriums für
Arbeit, Soziales, Gesundheit und Familie des Landes Brandenburg (MASGF) eingeholt und den Vorgang über die
betreffende Allgemeinverbindlichkeitserklärung (künftig nur: AVE) beigezogen. Auf die Stellungnahme des MASGF
vom 6. Juli 2006 wird ergänzend Bezug genommen.
Der Antragsteller beantragt,
die aufschiebende Wirkung der Klage vom 23. Februar 2005 gegen den Bescheid vom 25. November (gemeint: 21.
Oktober) 2002 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 26. Januar 2005 anzuordnen.
Die Antragsgegnerin beantragt,
die Beschwerde zurückzuweisen.
Sie ist der Auffassung, es bestünden keine Bedenken hinsichtlich der Wirksamkeit der
Allgemeinverbindlichkeitserklärung (Hinweis auf LSG Brandenburg, Urteil vom 24.09.2002 - L 2 RJ 55/02 -).
Insbesondere habe es sich um eine Anschluss-AVE gehandelt.
Die Beigeladene zu 1. hält den Prüfungsbescheid ebenfalls für rechtmäßig. II.
Die gemäß § 172 SGG statthafte Beschwerde ist form- und fristgerecht eingelegt (§ 173 SGG) und damit insgesamt
zulässig. Sie hat auch in der Sache Erfolg.
1. Nach § 86a Abs.1 Satz 1 SGG haben Widerspruch und Anfechtungsklage aufschiebende Wirkung. Diese Wirkung
entfällt bei der Entscheidung über Versicherungs-, Beitrags- und Umlagepflichten sowie der Anforderung von
Beiträgen, Umlagen und sonstigen öffentlichen Abgaben einschließlich der darauf entfallenden Nebenkosten (§ 86a
Abs. 2 Nr. 1 SGG). Hier handelt es sich um einen Prüfbescheid gemäß § 28p SGB IV, mit dem die Antragsgegnerin
Beiträge geltend macht. Gemäß § 86b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGG kann jedoch das Gericht der Hauptsache auf Antrag
in den Fällen des § 86a Abs. 2 Nr. 1 SGG durch Beschluss die Aussetzung der Vollziehung anordnen. Es handelt
sich um eine gerichtliche Interessenabwägung nach pflichtgemäßem Ermessen, bei welcher die für und gegen einen
Sofortvollzug sprechenden Gesichtspunkte gegeneinander abzuwägen sind.
Hier überwiegt aufgrund der im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes gebotenen und alleine möglichen
summarischen und pauschalen Prüfung der Sach- und Rechtslage im Ergebnis das Interesse des Antragsstellers, von
einer Vollstreckung des Prüfbescheides vom 24. Juli 2002 bis zu dessen Bestandskraft verschont zu bleiben, das
öffentliche Interesse an zeitnaher Realisierung wirksam festgesetzter Beiträge bereits vor Bestandskraft zur
Sicherung der Funktionsfähigkeit der Leistungsträger. Dies gilt auch unter Beachtung der grundsätzlichen Regel des §
86a Abs. 2 Nr. 1 SGG. Nach § 86a Abs. 3 Satz 2 SGG soll die Widerspruchsstelle bzw. -behörde die aufschiebende
Wirkung (nur) anordnen, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Verwaltungsaktes bestehen
oder wenn die Vollziehung eine unbillige, nicht durch überwiegende öffentliche Interessen gebotene Härte zur Folge
hätte. Nach der wohl vorherrschenden Rechtsprechung bestehen nur dann ernsthafte Zweifel an der Rechtmäßigkeit
der Verwaltungsentscheidung, wenn aufgrund summarischer Prüfung der Sach- und Rechtslage ein Erfolg des
Rechtsbehelfs im Hauptsacheverfahren wahrscheinlicher sei als ein Misserfolg. Im Zweifel seien Beiträge zunächst
zu erbringen. Das Risiko, im Ergebnis zu Unrecht in Vorleistung treten zu müssen, treffe nach dieser Wertung den
Zahlungspflichtigen (vgl. z. B. aktuell mit umfangreichen weiteren Nachweisen: LSG Essen, B. vom 22.06.2006 -L 16
B 30/06 KRER- veröffentlicht unter www.sozialgerichtsbarkeit.de; Meyer-Ladewig, SGG, 8. Auflage 2005, § 86 b
RdNr. 12f m. w. N.). Ob dem uneingeschränkt gefolgt werden kann erscheint zweifelhaft. Das
Bundesverfassungsgericht (BVerfG) betont, der aufgrund Art. 19 IV GG gebotene effektive Rechtsschutz gebiete eine
Interessenabwägung, bei der es nicht entscheidend darauf ankomme, ob der Sofortvollzug eines Verwaltungsakts
einer gesetzlichen oder einer behördlichen Anordnung entspringe (BVerfG, B. vom 10.04.2001 -1 BvR 1577/00-
veröffentlicht unter www.bverfg.de mit Bezug auf BVerfGE 69, 220, 228f).
2. An der sofortigen Vollziehbarkeit eines offenbar rechtswidrigen Verwaltungsaktes besteht auf jeden Fall kein
öffentliches Interesse. Hier liegen nach einhelliger Auffassung ernstliche Zweifel im Sinne einer entsprechenden
Anwendung des § 86 a Abs. 3 Satz 2 SGG vor. Von einer solchen rechtlichen Situation ist vorliegend auszugehen,
soweit der Prüfbescheid Beiträge und Umlagen für die Zeit vom 1. Januar 1998 bis 27. Mai 1998 nachfordert:
Auch unter Zugrundelegung des Entstehungsprinzips für die Beitragshöhe, welche das SG mit zutreffender
Begründung im Einklang mit der Rechtsprechung des Bundessozialgerichtes (BSG) hergeleitet hat, setzt die
Beitragsnachforderung hier voraus, dass die maßgebliche Lohntabelle wirksam für allgemeinverbindlich erklärt worden
ist. Nach der ständigen Rechtsprechung des BVerfG (vgl. z. B. BVerfGE 64, 208, 215 mit weiteren Nachweisen) ist
die AVE von Tarifverträgen nach § 5 TVG ein Akt der Rechtsetzung, der darauf abzielt, auch die nicht organisierten
Arbeitgeber und Arbeitnehmer, die sogenannten Außenseiter, den Bestimmungen des Tarifvertrages zu unterwerfen.
Die Außenseiter können regelmäßig nicht geltend machen, sie hätten die einschlägigen Bestimmungen nicht gekannt,
weil sie sich durch das vorgesehene Veröffentlichungs- und Dokumentationsverfahren hinreichend informieren können
(BVerfG, B. v. 10.09.1991 -1 BvR 561/89 Juris). Die Wirksamkeit einer AVE eines Tarifvertrages, also das Vorliegen
der Voraussetzungen des § 5 TVG und die Vereinbarkeit mit höherrangigem Recht, ist jedoch von Amts wegen zu
prüfen, wenn –wie hier- ein tariflicher Anspruch gegenüber jemandem geltend gemacht wird, der aus dem fraglichen
Tarifvertrag selbst weder kraft Tarifbindung noch aufgrund einzelvertraglicher Vereinbarung verpflichtet ist (vgl.
Bundesarbeitsgericht [BAG] BAGE 74, 226, 230; ErfK/Schaub/Franzen § 5 TVG Rn. 45). Davon ist auch der 24.
Senat des LSG Berlin-Brandenburg in seinen Urteilen vom 20.09.2005 -L 24 KR 19/05- und vom 24.09.2002 (LSG
Brandenburg 2 RJ 55/02) ausgegangen. Er hat in den dort entschiedenen Fall (lediglich) mangels substantiierten
Vortrages keinen Anlass zu Ermittlungen ins Blaue hinein gesehen bzw. keine (europarechtliche) Bedenken gegen die
dortige AVE gehegt. Hier bestehen -wie weiter unten ausgeführt wird- erhebliche Zweifel daran, dass die
Voraussetzungen des § 5 Abs. 1 TVG hinsichtlich des hier einschlägigen Tarifvertrages für das Maler- und
Lackiererhandwerk (Lohntabelle vom 1. Oktober 1997 für die gewerblichen Arbeitnehmer im Maler- und
Lackierhandwerk im Lande Brandenburg) vom 18. August 1998 (nachfolgend nur: TV) vorgelegen haben. Der TV ist
unabhängig hiervon dem Antragsteller gegenüber bis zum 27. Mai 1998 unwirksam, weil erst zu diesem Zeitpunkt eine
Bekanntmachung des Antrages auf AVE im Bundesanzeiger erfolgt ist: Der TV ist rückwirkend zum 1. Januar 1998
für allgemeinverbindlich erklärt worden. Bei einer solchen Rückwirkung müssen (jedenfalls) die Grundsätze über die
Rückwirkung von Gesetzen, wie sie in der Rechtsprechung des BVerfG entwickelt worden sind, entsprechend
angewendet werden (so –zutreffend- in ständiger Rechtsprechung das BAG, vg. Urteil vom 15.11.1995 -10 AZR
150/95 –Juris und BAGE 84, 147, 155f mit weiteren Nachweisen). Eine rückwirkende Änderung ist durch den
Vertrauensschutz begrenzt. In der letztgenannten Entscheidung heißt es hierzu richtig: "Danach gestatten es das
Rechtsstaatsprinzip, die Rechtssicherheit und der Grundsatz des Vertrauensschutzes auch dem Gesetzgeber nicht
unbeschränkt, Gesetzen rückwirkende Geltung beizulegen. Insbesondere dürfen danach Gesetze nicht rückwirkend
geändert werden, wenn dadurch Entscheidungen und Dispositionen des Bürgers beeinflusst werden können (BVerfGE
30, 367, 385 f. und 13, 39, 45 f.) oder unabsehbare rückwirkende Belastungen ein¬treten (BVerfGE 23, 85, 93).
Allerdings muss das Interesse des Bürgers im Einzelfalle schutz¬würdig sein (BVerfGE 19, 119, 127; 22, 330, 347;
23, 85, 94; 25, 269, 291; 30, 367, 387; 32, 111, 123). Damit ist die mögliche Rückwirkung von Gesetzen dann
rechtlich nicht zu beanstanden, wenn die betroffenen Kreise damit von vornherein rechnen mussten (vgl. z. B.
BVerfGE 13, 261, 272; 14, 288, 298; 18, 429, 439; 19, 187, 196; 22, 330, 347; 23, 12, 33)." Hier musste der
Antragsteller erst mit Bekanntgabe des Antrages auf AVE mit einer rückwirkenden Verbindlichkeit des TV rechnen.
Über frühere Bekanntgaben ist nichts bekannt. Insbesondere ist in der einschlägigen Akte des MASGF keine frühere
Bekanntgabe dokumentiert. Es ist auch nicht so, dass die AVE eine zuvor für die Zeit ab 1. Januar 1998 erfolgte AVE
rückwirkend ersetzen sollte. Es ist darüber hinaus nicht einmal ersichtlich, dass –entgegen der Annahme des MASGF
im Vorgang-, § 7 Satz 3 Verordnung zur Durchführung des TVG eingehalten gewesen ist. Der hier maßgebliche TV hat
- soweit ersichtlich - weder einen vorangegangenen lediglich (inhaltsgleich) erneuert oder geändert, wie es nach dieser
Verfahrensvorschrift für eine Rückwirkung erforderlich wäre. Ob ein nahtloser Anschluss an eine vorangegangene
Allgemeinverbindlichkeitserklärung ausreichen würde, Vertrauensschutz auszuschließen, kann dahingestellt bleiben.
Auch hiervon ist nach Aktenlage nicht auszugehen.
3. Nach Auffassung des Senats bestehen darüber hinaus auch für Beiträge und Umlagen für die nachfolgende Zeit ab
28. Mai 1998 jedenfalls so gewichtige Zweifel am Vorliegen der Voraussetzungen des § 5 Abs. 1 TVG hinsichtlich der
einschlägigen AVE, dass in der Interessenabwägung vom Überwiegen des Individualinteresses auszugehen ist: Die
erforderliche sogenannte 50%-Klausel nach § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 TVG ist nach den Ermittlungen des zuständigen
MASGF (nur) recht knapp erreicht gewesen. Hier bestehen gewichtige Anhaltspunkte, dass die Ermittlungen des
MASGF nicht ausreichend gewesen sind. Es erscheint gut möglich, dass die 50%-Klausel genauso gut auch knapp
verfehlt sein könnte: Die tarifgebundenen Arbeitgeber sollen rund 52%, genauer 2615 von 5048, der gewerblichen
Arbeitnehmer beschäftigt haben. Bei nur 2615 - 5048: 2+1 = 92 tarifgebundenen Arbeitnehmern weniger wäre das
Erfordernis bereits nicht mehr erfüllt. Wäre ein einziger größerer Arbeitgeber fälschlicherweise als tarifgebunden
angesehen worden, genügte dies, um die Voraussetzung entfallen zu lassen. Das MASGF hat sich nach Aktenlage
einzig auf die eingeholten Angaben der Zusatzversorgungskasse verlassen, weil aufgrund der Allgemeinverbindlichkeit
des bundesweit geltenden Rahmen- und des maßgeblichen Verfahrenstarifvertrages alle Betriebe des Maler- und
Lackiererhandwerks dort ihre Beschäftigten hätten melden müssen (Vorgang des MASGF Bl. 41). Ob die
(unausgesprochene) Prämisse, dass alle Arbeitgeber dieser Pflicht genügt haben, stimmt, erscheint fraglich und
jedenfalls hinterfragenswert. Die Angaben über die Arbeitnehmerzahl der speziell tarifgebundenen Arbeitgeber sind
nach Aktenlage ungeprüft vom antragstellenden Landesinnungsverband übernommen worden. Dieser selbst hat
allerdings seinen Antrag u. a. damit begründet, für 1997 hätten drei Innungen mit über 100 Betrieben ihren Austritt aus
dem Verband angekündigt. Weiter scheint die zugrunde gelegte Zahl von 5048 Arbeitnehmern nach Aktenlage aus
dem Durchschnitt der Zahlen für Februar 1997 und Juni 1997 gebildet wor¬den zu sein. Ob dies richtig ist, oder ob
etwa für eine ab 1. Januar 1998 geltende AVE nicht ausschließlich ein zeitnäherer Stand hätte zugrunde gelegt
werden müssen, erscheint jedenfalls überlegenswert: Wenn im Laufe des Jahres eine größere Zahl tarifgebundene
Arbeitgeber den Betrieb einstellen oder Entlassungen vornehmen, diese jedoch noch mitzählen würden, wäre dies
unrichtig. Die Beschäftigtenzahlen schwanken zudem stark. Es könnte deshalb auch ein verzerrtes Bild ergeben,
ausgerechnet nur zwei Monate herauszugreifen.
4. Die Interessenabwägung musste insgesamt zugunsten des Antragstellers ausfallen, obwohl dieser die
Voraussetzungen einer unzumutbaren Härte im Sinne des § 86a Abs. 3 Satz 2 SGG nicht dargelegt hat. Nach der
gesetzlichen Wertung soll der Sofortvollzug ausgesetzt werden, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des
angegriffenen Verwaltungsaktes bestehen. Solche liegen jedenfalls in einem Fall wie hier vor, in welchem der
Ausgang des Hauptsacheverfahrens auch von tatsächlichen Fragen abhängt, auch wenn zur Zeit nicht prognostiziert
werden kann, dass ein Erfolg der Klage im Hauptsacheverfahren wahrscheinlicher ist als ein Misserfolg. Die
Interessenabwägung kann nicht schematisch von der Wahrscheinlichkeit eines für den Antragsteller im
Hauptsacheverfahren günstigen Ausgangs der Ermittlungen abhängig gemacht werden (so bereits Beschluss des
Senats vom 28. Juli 2006 –L 1 B 135/06 KRER-). Weiter war schließlich in die Interessenabwägung einzustellen, dass
es sich bei der nachgeforderten Summe von über 20.000 EUR um einen Betrag handelt, den der Antragsteller nicht
ohne weiteres aus dem laufenden Geschäftsbetrieb aufbringen kann. Es wäre auch deshalb unbillig, wenn er hier
vorleisten müsste, obgleich die Berechtigung der Forderung zweifelhaft ist.
5. Die Kostenentscheidung folgt aus § 197 a SGG i.V.m. §§ 154 Abs. 2, 162 Abs. 3 Verwaltungsgerichtsordnung. Die
Festsetzung des Streitwertes nach § 197 a SGG i.V.m. §§ 53 Abs. 3 Nr. 4, 52 Abs. 1 Gerichtskostengesetz trägt
dem Umstand Rechnung, dass vorliegend nicht die Hauptsache, sondern eine Entscheidung im vorläufigen
Rechtsschutzverfahren streitbefangen ist.
Dieser Beschluss ist nicht mit der Beschwerde zum Bundessozialgericht anfechtbar (§ 177 SGG).