Urteil des LSG Berlin-Brandenburg vom 25.05.2004

LSG Berlin-Brandenburg: berufliche tätigkeit, diabetes mellitus, stenose, spondylolisthesis, entstehung, bandscheibenvorfall, alter, belastung, anerkennung, gutachter

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Gericht:
Landessozialgericht
Berlin-Brandenburg
31. Senat
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
L 31 U 454/08
Dokumenttyp:
Urteil
Quelle:
Normen:
§ 9 Abs 1 SGB 7, Nr 2108 BKV
Gesetzliche Unfallversicherung - Verletztenrente wegen einer
Berufskrankheit - Bandscheibenbedingte Erkrankung der
Lendenwirbelsäule gemäß BK Nr. 2108 der Anlage zur BKV -
Kausalitätsbetrachtung und Abgrenzung degenerativer
konkurrierender Ursachen - Scheuermann´sche Erkrankung -
Spondylolisthesis
Leitsatz
Konkurrierende Ursachen; Scheuermann'sche Erkrankung; Spondylolisthesis;
Konsensempfehlungen
Tenor
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Neuruppin vom 25. Mai
2004 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten haben die Beteiligten einander auch für das
Berufungsverfahren nicht zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Der Kläger begehrt die Gewährung einer Verletztenteilrente aus der gesetzlichen
Unfallversicherung wegen einer Berufskrankheit (BK) nach Nr. 2108 der Anlage zur
Berufskrankheitenverordnung (BKV).
Der 1940 geborene Kläger ist gelernter Schlosser und hat als solcher sowie als
Kälteanlagenmonteur des S H vom 30. August 1954 bis zum 30. Oktober 1992 dort
schwere körperliche Arbeiten verrichtet. Vom 01. November 1992 bis zum 09. Oktober
1994 war er bei der W GmbH als Rohrleger beschäftigt. Danach folgte eine Tätigkeit als
Rohrschlosser bei der B GmbH. Ab Januar 1997 bestand Arbeitsunfähigkeit, ab dem 01.
Mai 1998 bezog der Kläger Erwerbsunfähigkeitsrente.
Im Mai 2001 beantragte der Kläger die Anerkennung einer BK. Der beigefügte Reha-
Entlassungsbericht des Reha-Klinikums „H“ vom 01. September 1997 wies als
Diagnosen eine Haltungs- und Belastungsinsuffizienz der Lendenwirbelsäule bei
Spondylolisthesis L4/5 und Bandscheibenprolaps bei L5/S1, ein Cervikobrachialsyndrom
rechts, Adipositas und einen Diabetes mellitus Typ II b aus.
Unter dem 19. Dezember 2001 stellte der Technische Aufsichtsdienst (TAD) der
Beklagten fest, dass die Angaben des Klägers zu seinen Tätigkeiten in hohem Umfang
nicht plausibel seien, z. B. wenn er behaupte, mit Massen von 250 kg Leitern
überwunden zu haben, aber dennoch eine Arbeitsgrundlage habe erstellt werden
können, nach der von einer Belastungsdosis von 27 Nh ausgegangen werden könne.
Damit erfülle der Kläger die Mindestvoraussetzung nach dem Mainz-Dortmunder-
Dosismodell (MDD) von 25 Nh als untere Grenze einer gefährdenden Belastung.
Gefährdungen im Sinne der B Ken 2109 und 2110 seien nicht beschrieben worden.
Nach Beiziehung weiterer medizinischer Unterlagen veranlasste die Beklagte ein
fachorthopädisches Zusammenhangsgutachten des Dr. K und des Prof. Dr. P vom 19.
März 2002 mit ergänzender Stellungnahme vom 25. April 2002. Die Gutachter führten
aus, beim Kläger bestünden ein Cervikobrachialsyndrom beidseits, eine
Unkovertebralarthrose, eine Coxarthrose beidseits rechts, Residuen nach
Scheuermann’scher Erkrankung, ein Pseudoradikulärsyndrom der Lendenwirbelsäule bei
Spondylosteochondrose mit Gefügelockerung nach Bandscheibenvorfall L5/S1 mit
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Spondylosteochondrose mit Gefügelockerung nach Bandscheibenvorfall L5/S1 mit
Wurzelirritation S 1 links und neuroforaminaler Stenose L5/S1 und Stenosierung in Höhe
L2 bis L4, der Nachweis von Schmorl’schen Knötchen von BWK 11 bis LWK 2 bei
anamnestischem Hinweis auf ein Radikulärsyndrom bei lumbalem Bandscheibenvorfall
mit Spondylolisthesis LWK 4 sowie degenerative Veränderungen der
Rotatorenmanschette. Es bestehe zweifellos eine bandscheibenbedingte Erkrankung der
Lendenwirbelsäule in Höhe L5/S1. Diese sei dokumentiert und aktenkundig. Gleichzeitig
bestehe eine Spinalkanalstenose und ein Wirbelgleiten im betroffenen Segment L4/L5-
S1. Das Wirbelgleiten des LWK 4 sei als BK-unabhängige Erkrankung zu sehen, die
gleichzeitig den kernspintomografisch gesicherten Befund einer geringfügigen
Bandscheibenvorfallsituation mit Wurzelirritation S1 links mitbedingt habe. Ebenfalls BK-
unabhängig sei die vorgefundene hochgradige neuroforaminale Stenose links und
mittelgradige neuroforaminale Stenose L5/S1 rechts als auch die geringe mittelgradige
neuroforaminale Stenose L2 bis L4. Als BK-unabhängig seien weiter die Schmorl’schen
Knötchen in Höhe von BWK 11 bis L2 als Residuen einer durchgemachten
Scheuermann’schen Erkrankung zu bewerten. Aktuell habe keine radikuläre, sondern
lediglich eine pseudoradikuläre Schmerzsymptomatik beim gleichzeitigen
Vorhandensein einer beidseitigen Coxarthrose festgestellt werden können. Im Bereich
der Halswirbelsäule seien ebenfalls BK-unabhängige degenerative Veränderungen
vorhanden, die ihren Ausdruck in einem Schulter-Arm-Syndrom
(Zervikobrachialsyndrom) und einer Unkovertebralarthrose fänden. Das Intervall
zwischen geleisteter körperlicher Arbeit und dem Auftreten einer
bandscheibenbedingten Erkrankung (Nachweis eines Bandscheibenvorfalls am 10.
Januar 1997) sei zu groß, um einen Zusammenhang zwischen der beruflichen Arbeit und
der bandscheibenbedingten Erkrankung im Bereich der Lendenwirbelsäule zuzulassen.
Nach 1992 hätten BK-gefährdende Tätigkeiten nicht mehr stattgefunden. Weiter sei zu
berücksichtigen, dass eine Spinalkanalstenose und ein Wirbelgleiten im betroffenen
Segment L4/L5-S1 vorgefunden worden seien. Beim Wirbelgleiten des LWK 4 handele es
sich aber eindeutig um eine BK-unabhängige Erkrankung. Auch die neuroforaminale
Stenose links und mittelgradige neuroforaminale Stenose L5/S1 als auch die gering
mittelgradige neuroforaminale Stenose L2 - L4 seien BK-unabhängig. Insgesamt könne
ein Zusammenhang zwischen der schweren körperlichen Tätigkeit und den
aufgetretenen Lendenwirbelsäulenbeschwerden bei L5/S1 im Sinne eines
Bandscheibenvorfalls nicht festgestellt werden.
Mit Bescheid vom 25. Juli 2002 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 08.
Oktober 2002 lehnte die Beklagte einen Anspruch auf Entschädigung einer BK Nr. 2108
ab, da die vorliegend bestehende Lendenwirbelsäulenerkrankung nicht die
Voraussetzungen der BK Nr. 2108 erfülle. Die nachgewiesenen knöchernen
degenerativen Veränderungen an der gesamten Lendenwirbelsäule wiesen eher auf eine
schicksalhafte Erkrankung als auf eine beruflich verursachte Erkrankung hin. Die
Ursachen der Lendenwirbelsäulenbeschwerden mit entsprechender
Schmerzsymptomatik lägen in der BK-unabhängigen Segmentinstabilität im Bereich der
Lendenwirbelkörper L4/5 (Wirbelgleiten) sowie den degenerativen Veränderungen an der
Halswirbelsäule, den Hüften und den Knien. Auch der dokumentierte und aktenkundige
Bandscheibenvorfall vom 10. Januar 1997 könne ebenfalls nicht auf die schädigende
Tätigkeit, die bis 1992 ausgeübt worden sei, zurückgeführt werden, weil das zeitliche
Intervall zwischen der gefährdenden Arbeit und dem Auftreten der
bandscheibenbedingten Erkrankung im Jahre 1997 zu groß sei.
Mit der am 15. Oktober 2002 zum Sozialgericht Neuruppin erhobenen Klage hat der
Kläger sein Begehren weiterverfolgt. Das Sozialgericht hat die Akten der
Betriebspoliklinik des S H beigezogen, Befundberichte des Praktischen Arztes Dr. B vom
05. Dezember 2002, der Fachärztin für Allgemeinmedizin Dipl.-Med. P vom 13.
Dezember 2002 und der Fachärztin für Anästhesiologie Dipl.-Med. E vom 18. Dezember
2002 eingeholt und den Facharzt für Arbeitsmedizin Dr. L mit der Erstellung eines
Fachgutachtens beauftragt. In seinem Gutachten vom 16. September 2003 stellte Dr. L
ein chronisches lumbales pseudoradikuläres Schmerzsyndrom bei ausgeprägter
Spondylochondrose der gesamten Lendenwirbelsäule, ein chronisches Cervikalsyndrom
bei mäßiggradiger Spondylochondrose der cervikalen Bewegungssegmente C4/5 und
C6/7 und osteophytärer Einengung der Foramina intervertebralia der unteren
Halswirbelsäule fest. Sowohl das cervikale Schmerzsyndrom als auch das chronische
pseudoradikuläre lumbale Schmerzsyndrom seien primär bandscheibenbedingte
Erkrankungen. Sowohl in der unteren Halswirbelsäule als auch in der gesamten
Lendenwirbelsäule seien eine Reihe von Veränderungen nachweisbar, die auf eine
primäre Schädigung der Bandscheiben in diesen Bereichen zurückzuführen seien. So
fänden sich degenerative Veränderungen im Bereich der Grund- und Deckplatten der
Wirbelkörper der unteren Halswirbelsäule und der Lendenwirbelsäule (Osteochondrosen),
massive Randzackenbildungen an den seitlichen und vorderen Wirbelkanten
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massive Randzackenbildungen an den seitlichen und vorderen Wirbelkanten
(Spondylosen) und Abnutzungen der kleinen Wirbelgelenke (Spondylarthrosen). Das
Aufeinanderstoßen der Wirbelkörperdornfortsätze, die Einengung der Neuroforamina und
das leichte Wirbelkörpergleiten zwischen L4/L5 seien Ausdruck für die Instabilität und die
Annäherung der lumbalen Bewegungssegmente durch die primäre
Bandscheibenschädigung und den damit verbundenen Höhenverlust der Bandscheiben.
Als konkurrierende Erkrankungen zur BK Nr. 2108 seien die Spondylolisthesis
(Wirbelkörpergleiten), die Skoliose, eine Hyperlordose, Adipositas und eine
Scheuermann’sche Erkrankung anzuführen. Neben den beruflichen Einwirkungen seien
anlagebedingte Faktoren als Mitursache für die Entstehung des Wirbelsäulenleidens zu
diskutieren. In Betracht kämen hier das Übergewicht und das Alter des Versicherten.
Wesentliche Ursache für die Entstehung der bandscheibenbedingten degenerativen
Veränderungen im Bereich der Lendenwirbelsäule seien allerdings langjährige hohe
biomechanische Belastungen. Im Falle des Klägers seien lumbale Rückenbeschwerden
bereits Ende der 70-er Jahre bzw. Anfang der 80-er Jahre aufgetreten. Bei dem damals
40-jährigen Patienten seien beim konventionellen Röntgen eindeutig
bandscheibenbedingte degenerative Veränderungen im Bereich der Lendenwirbelsäule
nachgewiesen worden. In diesem Alter seien derartige Befunde nicht
altersentsprechend, sondern dem Alter vorauseilend und pathologisch. Die
Zeitbeziehung zwischen der beruflichen Exposition und dem Auftreten der
Rückenbeschwerden sowie der degenerativen Veränderungen entspreche den
epidemiologischen Erwartungen. Das Heben und Tragen schwerer Lasten sei daher die
wesentliche Ursache für die Entstehung der Lendenwirbelsäulenerkrankung. Im Hinblick
auf das Übergewicht sei auszuführen, dass dies in den Jahren 1982 - 1984 noch nicht
vorgelegen habe. Es könne daher als Entstehungsursache vernachlässigt werden. Da
beim Kläger bereits im Lebensalter von 40 Jahren degenerative Veränderungen
nachgewiesen worden seien, könne auch das Alter als Ursache für die Entstehung einer
bandscheibenbedingten Erkrankung vernachlässigt werden. Als Argument gegen den
Ursachenzusammenhang könnte angeführt werden, dass die degenerativen
Veränderungen bei dem Versicherten sich nicht auf die Lendenwirbelsäule beschränkten,
sondern sich auch im Bereich der Brust- und unteren Halswirbelsäule fänden. Hier könne
aber davon ausgegangen werden, dass der Kläger auch Lasten auf der Schulter zu
tragen gehabt habe. Die degenerativen Veränderungen der Lendenwirbelsäule seien
außerdem belastungskonform. Es müsse aber auch deutlich angemerkt werden, dass
der Nachweis von degenerativen Veränderungen der gesamten Wirbelsäule im
Allgemeinen bei der Begutachtung einer BK Nr. 2108 als wichtiges Indiz gegen einen
Ursachenzusammenhang angesehen werde und eher als Hinweis für anlagebedingte
Schäden interpretiert werden müsse. Mit diesem Argument müsse ein Zusammenhang
zwischen den Schäden an der Lendenwirbelsäule und den beruflichen Belastungen im
Sinne einer BK Nr. 2108 infrage gestellt werden. Die Minderung der Erwerbsfähigkeit
(MdE) wegen der Lendenwirbelsäulenschäden betrage 20 v. H.
In der Stellungnahme vom 16. Oktober 2003 führte der Beratende Arzt der Beklagten,
der Facharzt für Arbeitsmedizin Dr. R, aus, dass dem Gutachten des Dr. L im Ergebnis
nicht gefolgt werden könne, da der Nachweis degenerativer Veränderungen der
gesamten Wirbelsäule als wichtiges Indiz gegen einen Ursachenzusammenhang
spreche. Auch das Wirbelgleiten L4/5 sei ein Argument gegen die Anerkennung einer BK
Nr. 2108. Außerdem sei die vorgeschlagene MdE zu hoch. Eine pseudoradikuläre
Symptomatik, wie vom Gutachter festgestellt, könne lediglich mit einer MdE von 10 v. H.
beurteilt werden.
In seiner ergänzenden Stellungnahme vom 07. November 2003 hat Dr. L ausgeführt, er
halte an seiner MdE-Einschätzung fest. Das Wirbelgleiten spreche seiner Auffassung
nach nicht gegen eine BK Nr. 2108. Vorliegend sei das Wirbelkörpergleiten nämlich als
Sekundärschaden im Zusammenhang mit den degenerativen Veränderungen der
Wirbelsäule zu sehen.
Hiergegen hat die Beklagte eingewandt, dass die von Dr. L vorgelegte Literaturstelle
gegen seine Auffassung spräche, da auch Dr. S ausgeführt habe, eine Spondylolisthesis
spreche eher für die Unwahrscheinlichkeit einer Kausalitätsbeziehung zwischen
Bandscheibenschaden und beruflichen Belastungen.
Mit Urteil vom 25. Mai 2004 hat das Sozialgericht Neuruppin die Klage abgewiesen. Zur
Begründung hat es ausgeführt, für die positive Erfüllung der haftungsausfüllenden
Kausalität habe die Kammer die erforderliche Wahrscheinlichkeit nicht gesehen.
Aufgrund der nachweisbaren degenerativen Veränderungen in der unteren
Halswirbelsäule und der Lendenwirbelsäule sei von einer konstitutionellen Veranlagung
zur Wirbelsäulendegeneration auszugehen. Soweit der Gutachter die Schäden der
Halswirbelsäule mit einem Tragen schwerer Lasten auf der Schulter im Sinne der BK Nr.
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Halswirbelsäule mit einem Tragen schwerer Lasten auf der Schulter im Sinne der BK Nr.
2109 erklärt habe, sei dem nicht zu folgen. Aus den eigenen Beschreibungen des
Klägers und den Feststellungen des TAD der Beklagten ergebe sich, dass eine
entsprechende Gefährdung nicht gegeben gewesen sei. Als Ursache der degenerativen
Veränderungen der unteren Halswirbelsäule könne daher nicht auf ein Heben und
Tragen von Lasten von über 50 kg auf der Schulter abgestellt werden.
Gegen das ihm am 10. Juni 2004 zugestellte Urteil wendet sich der Kläger mit der
Berufung vom 24. Juni 2004. Er trägt vor, Dr. L sei in seiner Kausalitätsbewertung zu
folgen. Er habe sich eingehend mit den beruflichen Belastungen und dem körperlichen
Befund in seinem Gutachten auseinandergesetzt und so überzeugend einen
Ursachenzusammenhang begründet. Dem vom Landessozialgericht eingeholten
Gutachten des Dr. S vom 28. Dezember 2005 einschließlich seiner ergänzenden
Stellungnahme vom 15. Januar 2008 könne nicht gefolgt werden. Die Richtigkeit der
Erwägungen des Dr. L ergebe sich auch aus der Stellungnahme seines behandelnden
Facharztes für Chirurgie Dr. S in seiner Bewertung vom 25. Juni 2008.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Neuruppin vom 25. Mai 2004 sowie den Bescheid der
Beklagten vom 25. Juli 2002 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 08. Oktober
2002 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihm wegen der Folgen einer BK Nr.
2108 der Anlage zur BKV Verletztenrente nach einer MdE von 20 v. H. zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie bezieht sich auf den Inhalt ihrer Bescheide und das ihrer Auffassung nach
zutreffende Gutachten des Dr. S im Berufungsverfahren.
Das Landessozialgericht hat ein Gutachten des Arztes für Chirurgie und Unfallchirurgie
Dr. S vom 28. Dezember 2005 eingeholt. Dieser hat ausgeführt, beim Kläger bestünden
eine generalisierte Verschleißerkrankung der Lendenwirbelsäule mit krankhaften
Veränderungen der Bandscheiben und knöcherne Verschleißumformungen. Das
nachgewiesene Verschleißleiden der Lendenwirbelsäule lasse sich nicht mit
hinreichender Wahrscheinlichkeit ursächlich auf eine berufliche Tätigkeit des Klägers mit
langjährigem Tragen schwerer Lasten oder eine langjährige Tätigkeit in extremer
Rumpfbeugehaltung zurückführen. Segmental begrenzte Bandscheibenschäden lägen
beim Kläger nicht vor. Es bestünden vielmehr eine generalisierte knöcherne
Verschleißumformung der Rumpfwirbelsäule und der unteren Halswirbelsäulensegmente
sowie ausgeprägte Bandscheibendegenerationen aller in der bildgebenden Diagnostik
mittels MRT erfassten unteren Teile der Brustwirbel und der gesamten
Lendenwirbelsäule. Die Instabilität des Bandscheibensegments zwischen dem 4. und 5.
Lendenwirbel mit der Folge einer funktionellen Einengung des Spinalkanals und der
hintere Bandscheibenvorfall im Segment L5/S1 entspreche dabei der üblichen Verteilung
und sei nicht mit einer besonderen beruflichen oder vergleichbaren Belastungssituation
der Wirbelsäule zu begründen. Ein belastungskonformes Schadensbild sei nicht
nachzuweisen. Beim Tragen schwerer Lasten in aufrechter Position seien die
Druckbelastungen aller Bandscheiben an der Lendenwirbelsäule im Wesentlichen gleich.
Bei Rumpfvorbeuge werde die untere Lendenwirbelsäule am stärksten belastet. Daraus
ergebe sich, dass nur Bandscheibenschäden mit Betonung der unteren
Lendenwirbelsäule belastungskonform seien. Belastungsadaptive Veränderungen an der
Lendenwirbelsäule einschließlich des Übergangs zur Brustwirbelsäule seien beim Kläger
nicht auszumachen. Eine Anpassung des Achsorgans an erhöhte Belastungen bestehe
einerseits in einer entsprechenden Konditionierung der die Wirbelsäule stabilisierenden
Muskulatur und anderseits in belastungsinduzierten Veränderungen der Wirbelkörper, die
an Verdichtungen der Abschlussplatten (Osteochondrose, Sklerose) und
Kantenanbauten an den Wirbelkörpern (Spondylose) erkennbar seien. Ein hier
anzutreffendes typisches Verteilungsmuster mit vermehrten Osteochondrosen an der
unteren Lendenwirbelsäule und vermehrten Spondylosen an der oberen
Lendenwirbelsäule und der unteren Brustwirbel liege beim Kläger nicht vor.
Das Landessozialgericht hat einen Erörterungstermin vom 15. März 2006 durchgeführt,
in dem es auf die Aussichtslosigkeit des Berufungsverfahrens hingewiesen hat. Die
Beteiligten hatten sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung
einverstanden erklärt.
Unter dem 28. Dezember 2007 hat der Senat beim Gerichtsgutachter angefragt, ob sich
eine Änderung seiner Beurteilung aus einem Röntgenbefund vom 14. August 2007
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eine Änderung seiner Beurteilung aus einem Röntgenbefund vom 14. August 2007
ergäbe. In seiner ergänzenden Stellungnahme vom 15. Januar 2008 hat Dr. S
ausgeführt, dass dies nicht der Fall sei, weil die nachgewiesenen Körperschäden an der
Brust- und Lendenwirbelsäule in seinem Sachverständigengutachten bereits
Berücksichtigung gefunden hätten.
Auf Anfrage des Senats, ob wegen des Zeitablaufs weiterhin Einverständnis mit einer
Entscheidung ohne mündliche Verhandlung besteht, hat der Kläger unter dem 19.
August 2008 mitgeteilt, dass er mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung
nicht einverstanden sei.
Wegen der weiteren Einzelheiten der Sachdarstellung und der Rechtsausführungen wird
auf den Inhalt der Verwaltungsakten der Beklagten und auf die Gerichtsakten Bezug
genommen. Diese haben im Termin vorgelegen und waren Gegenstand der mündlichen
Verhandlung.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Berufung des Klägers ist unbegründet, da er keinen Anspruch auf
Anerkennung seiner Lendenwirbelsäulenerkrankung als BK Nr. 2108 und damit auch
keinen Anspruch auf Gewährung einer Verletztenrente wegen dieser Erkrankung hat.
Das Sozialgericht Neuruppin hat die Klage gegen die angefochtenen Bescheide daher zu
Recht abgewiesen.
BKen sind nach § 9 Abs. 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch/Siebtes Buch (SGB VII) Krankheiten,
welche die Bundesregierung durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates
als BKen bezeichnet und die ein Versicherter bei einer der in den §§ 2, 3 oder 6 SGB VII
genannten Tätigkeiten erleidet. Als BKen kommen solche Krankheiten in Betracht, die
nach den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft durch besondere Einwirkungen
verursacht sind, denen bestimmte Personengruppen durch ihre Arbeit in erheblich
höherem Grade als die übrige Bevölkerung ausgesetzt sind (§ 9 Abs. 1 Satz 2 SGB VII).
In Nr. 2108 der Anlage zur BKV sind bandscheibenbedingte Erkrankungen der
Lendenwirbelsäule durch langjähriges Heben oder Tragen schwerer Lasten oder durch
langjährige Tätigkeiten in extremer Rumpfbeugehaltung, die zur Unterlassung aller
Tätigkeiten gezwungen haben, die für die Entstehung, die Verschlimmerung oder das
Wiederaufleben der Krankheit ursächlich waren oder sein können, als BKen anerkannt.
Für die Anerkennung einer BK Nr. 2108 ist ein Ursachenzusammenhang zwischen der
versicherten Tätigkeit und den schädigenden Einwirkungen und zwischen diesen
Einwirkungen und der Erkrankung erforderlich sowie ein Unterlassen aller gefährdenden
Tätigkeiten (vgl. zuletzt Urteile des Bundessozialgerichts (BSG) vom 27. Juni 2006, Az.: B
2 U 9/05 R, und Urteil vom 30. Oktober 2007, Az.: B 2 U 4/06 R, beide zitiert nach juris).
Vorliegend steht fest, dass der Kläger schädigenden Einwirkungen im Sinne der BK Nr.
2108 ausgesetzt war, da der TAD der Beklagten in seiner Stellungnahme vom 19.
Dezember 2001 festgestellt hat, dass der Kläger einer Belastungsdosis nach dem MDD
von 27 Nh ausgesetzt war. Der Kläger erfüllt damit die so genannten arbeitstechnischen
Voraussetzungen der geltend gemachten BK, so dass es im Hinblick auf diese BK auf die
im Urteil des BSG vom 30. Oktober 2007 (a. a. O.) dargestellten Grundsätze nicht
ankommt. In der angefochtenen Entscheidung hat das BSG im Wesentlichen ausgeführt,
dass die arbeitstechnischen Voraussetzungen auch dann erfüllt sein können, wenn die
Gesamtbelastungsdosis nicht 25 Nh, sondern weniger betrage. Darauf kommt es
vorliegend nicht an. An der Richtigkeit der Feststellungen des TAD der Beklagten hat der
Senat keine Zweifel, denn die Übertreibungen des Klägers im Hinblick auf die
stattgefundene Belastung hat der TAD bereits bereinigend berücksichtigt.
Ohne Zweifel besteht beim Kläger auch eine bandscheibenbedingte Erkrankung der
Lendenwirbelsäule, die bereits Prof. Dr. P und Dr. K im Gutachten für die Beklagte
festgestellt haben. Danach besteht ein Pseudoradikulärsyndrom der Lendenwirbelsäule
bei Spondylosteochondrose mit Gefügelockerung nach Bandscheibenvorfall L5/S1 mit
Wurzelirritation S1 links und neuroforaminaler Stenose L5/S1 und Stenosierung in Höhe
von L2 bis L4.
Das Bestehen einer bandscheibenbedingten Erkrankung und das Vorliegen der so
genannten arbeitstechnischen Voraussetzungen indiziert aber keineswegs den
notwendigen Kausalzusammenhang zwischen beruflicher Belastung und aufgetretener
Erkrankung. Für den Ursachenzusammenhang zwischen den beruflichen Belastungen
und der Erkrankung genügt die hinreichende Wahrscheinlichkeit, nicht aber die bloße
Möglichkeit einer Verursachung. Hinreichend wahrscheinlich ist ein Zusammenhang
dann, wenn die beruflichen Belastungen die wesentliche Ursache der aufgetretenen
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dann, wenn die beruflichen Belastungen die wesentliche Ursache der aufgetretenen
Erkrankung im Sinne der im Sozialrecht herrschenden Theorie von der wesentlichen
Bedingung darstellen und mehr für als gegen einen solchen Ursachenzusammenhang
spricht (ständige Rechtssprechung vgl. z. B. BSG Urteil vom 2. Mai 2001, SozR 3-2200, §
551 RVO Nr. 16, m. w. N.).
Dabei ist nach dem Merkblatt zu der BK Nr. 2108 der Anlage zur BKV (BArbBl. 10/2006,
Seite 30 ff.) zu berücksichtigen, dass bandscheibenbedingte Erkrankungen der
Lendenwirbelsäule eine multifaktorielle Ätiologie haben, weit verbreitet sind und in allen
Altersgruppen, sozialen Schichten und Berufsgruppen vorkommen. Bei der
Kausalitätsbetrachtung sind bandscheibenbedingte Erkrankungen der Lendenwirbelsäule
von konkurrierenden vertebralen und extravertebralen Ursachen abzugrenzen. Da
einem Schadensbild nach noch heute herrschender wissenschaftlicher Meinung nicht
anzusehen ist, ob es durch schweres Heben und Tragen oder Arbeiten in extremer
Rumpfbeugehaltung verursacht ist oder andere Ursachen hat, ist im Rahmen der
Kausalitätsbetrachtung eine Gesamtschau aller möglichen Faktoren anzustellen. Dabei
haben insbesondere Prof. Dr. P, Dr. K und Dr. S herausgearbeitet, dass zum einen die
Schmorl’schen Knötchen eine durchgemachte Scheuermann’sche Erkrankung im
Jugendalter belegen, die als konkurrierende Ursache zu den beruflichen Belastungen für
den nun eingetretenen Schaden in Betracht gezogen werden muss (vgl. hierzu die
kritischen Anmerkungen in den Konsensempfehlungen in „Trauma und Berufskrankheit“,
2005, S 211, 239, 244). Daneben besteht eine Spondylolisthesis, also ein Wirbelgleiten
bei L4/5, das selbst nach der von Dr. L vorgelegten Fundstelle in der Literatur für die
Unwahrscheinlichkeit eines Zusammenhanges zwischen beruflichen Belastungen und
aufgetretenen bandscheibenbedingten Erkrankungen spricht (vgl. zur Spondylolisthesis –
Wirbelgleiten -, a. a. O., S 230). Gegen einen beruflichen Zusammenhang sprach weiter,
dass die gesamte Wirbelsäule des Klägers geschädigt ist. Soweit Dr. L die Schäden an
der Halswirbelsäule als nicht gegen eine berufliche Verursachung der
Lendenwirbelsäulenschäden sprechend ansehen wollte, weil der Kläger entsprechenden
Belastungen ausgesetzt gewesen sei, die eine berufliche Verursachung der
Halswirbelsäulenerkrankung belegten, so kann der Senat dem nicht folgen. Im Bericht
des TAD ist ausgeführt, dass der Kläger nicht durch langjähriges Tragen schwerer Lasten
auf der Schulter belastet war. Es ist auch nicht plausibel, dass er Belastungen
ausgesetzt war wie z. B. Fleischträger, die Tierhälften oder -viertel auf dem Kopf bzw. auf
dem Schultergürtel tragen. Folglich müssen die Schäden der Halswirbelsäule so
interpretiert werden, dass sie für eine anlagebedingte Schädigung sprechen.
Auch aus dem ergänzend vorgelegten Röntgenbefund vom 14. August 2007 ergeben
sich erhebliche degenerative Schäden der Brustwirbelsäule, die durch schweres Heben
und Tragen bzw. Arbeiten in extremer Rumpfbeugehaltung nicht erklärt werden können,
da diese die Lendenwirbelsäule und nicht die Brustwirbelsäule betreffen. Auch dies
spricht für einen anlagebedingten Schaden.
Weiter spricht gegen die berufliche Verursachung, dass Dr. S weder ein
belastungskonformes Schadensbild der Lendenwirbelsäule noch die so genannten
belastungsadaptiven Zeichen an den Wirbelkörpern der belasteten Lendenwirbelsäule
und unteren Brustwirbelsäule finden konnte.
Abschließend hat der Senat darauf hinzuweisen, dass bereits Dr. L sein Ergebnis infrage
gestellt hat - und dies völlig zu Recht -, indem er auf Seite 29 seines Gutachtens
ausführt, dass an dieser Stelle deutlich angemerkt werden müsse, dass der vorliegend
auch gegebene Nachweis von degenerativen Veränderungen der gesamten Wirbelsäule
im Allgemeinen als Indiz gegen einen Ursachenzusammenhang zur beruflichen
Belastung angesehen wird. Warum dies dann im vorliegenden Fall nicht so sein soll,
ergibt sich aus seinem Gutachten nicht. Angesichts der Vielzahl der oben aufgeführten
Umstände, die gegen einen Ursachenzusammenhang sprechen, kann nicht mit
hinreichender Wahrscheinlichkeit festgestellt werden, dass die gegebenen beruflichen
Belastungen die wesentliche Ursache der nun aufgetretenen Bandscheibenschäden
sind.
Die Berufung war daher zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG).
Die Revision war nicht zuzulassen, da die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 Nr. 1 und 2
SGG nicht vorliegen.
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